Gustav-H. H. Falke
Johann Sebastian Bach. Philosophie der Musik
Wiegenlieder meiner Schmerzen
Philosophie des musikalischen Realismus

Viele Bücher gibt es darüber, was Bachs Musik rhetorisch oder zahlensymbolisch bedeutet, jeder Weg, auf dem sich hermeneutisch etwas dingfest machen läßt, ist schon beschritten worden. Viel ist geschrieben worden über den nicht ausmeßbaren Beitrag dieser Musik zur Kompositionsgeschichte, die systematisierten Bauprinzipien der Harmonik, die kontrapunktische Kunstfertigkeit, die motivisch-thematische Arbeit. Über ihren Ausdruck jedoch, ihren »Ton«, das, was den Hörer als erstes trifft und noch immer, vor den verschiedenen Verwendungen des crux-gloria-Topos oder Bachs Namenszahl 14, am stärksten bewegt, gibt es kaum etwas von Belang. Und gewiß ist es schwierig, über Dinge zu reden, die im Köpf des Hörers erst entstehen und auf dem Papier nicht nachweisbar sind. Gustav Falke hat sich mit seinem vor drei Jahren erschienenen Buch über die Musik Johannes Brahms' als in der Wahrnehmung wie in der Sprache hochsensibler Autor für solche Dinge empfohlen. Sein neues Buch heißt schlicht »Johann Sebastian Bach« und dafür um so herausfordernder »Philosophie der Musik« im Untertitel.
Wie im Brahms-Buch wählt Falke einen Vergleichspunkt außerhalb der Musik, das dient zur Bestimmung des kulturgeschichtlichen Ortes. Im Falle Brahms' gelang es, den Ausdruck der Musik mit Hilfe der realistischen Literatur vor allem Fontanes zu präzisieren: Brahms, der Realist. Im Falle Bachs sucht Falke Analogien in der Malerei der italienischen und niederländischen Renaissance. Auf nicht weniger als 80 Seiten, also deutlich mehr als einem Drittel des Buches, kommt Bach gar nicht vor. Falke scheint hier seine Figuren strategisch in Position zu bringen, vergleicht das Ordnungsprinzip der Zentralperspektive in der Malerei mit dem der Tonalität bei Dufay, beschreibt den Hauptunterschied zwischen der italienischen und. niederländischen Malerei als den zwischen Aktivität und Kontemplation.
Die sehr detaillierten Untersuchungen der Stilwandlungen in der Malerei wie in der Musik vor allem der Italiener führen Falke zu einer »kontrafaktischen Konstruktion«: Bach hat jene Musik geschrieben, so die zentrale These, die der Hochbarock in den Niederlanden nicht hervorgebracht hat. Seine Musik schließt demnach bei der niederländischen Polyphonie, ihrem auf der Ebene der Gestalten ungegliedert wirkenden Klangstrom an, der vom Hörer jene kontemplative Versenkung ins Detail fordert, die auch für die Betrachtung niederländischer Malerei angemessen sei. Eine hoch spekulative Überlegung, die vor allem deswegen so konstruiert wirkt, weil sie mit Bachs biografischem Umfeld nicht in Beziehung gesetzt wird. Wie verbindet sich diese Art zu komponieren mit den vertonten protestantischen Texten, ihrem orthodoxen, aber auch pietistisch eingefärbten Luthertum? Wie kann das überhaupt geschehen, daß ein in Mitteldeutschland zum Organisten ausgebildeter Musiker sich in niederländische Traditionen einfügen läßt?
Problematischer als das Fehlen biografischer Vermittlung dieses Gedankens, die ohnehin immer hypothetisch ausfallt, ist die befremdliche Tatsache, daß Bachs Musik kaum genauer in den Blick genommen wird. Man wünschte sich, daß Falke nur einmal auf die gleiche Weise, mit der er van Eycks Arnolfinihochzeit und andere Bilder beschreibt: mit einem technische und expressive Momente souverän integrierenden Blick nämlich, ein Stück oder auch nur eine Stelle in Bachs Musik betrachtete. Die wenigen genaueren Analysen sind ausgesprochen technisch und dienen dem Nachweis jener grundlegenden These des Autors, daß Bach die Architektur seiner Musik verschleiere, daß er dem Hörer die Möglichkeit des Überblicks nehme, um seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Einzelnen zu konzentrieren. Das, was an Bach zuerst auffalle, sei die Monotonie, das heißt die rhythmische Gleichmäßigkeit und Unklarheit des Verlaufs. Das ist sicher richtig, aber auch aus einem bestimmten Winkel heraus gehört, und nicht dem günstigsten. Es verwundert, daß Falke die stilistischen Wurzeln Bachs überzeugend bei Pachelbel ausmacht, aber seine Musik nicht aus der Warte der Orgelwerke Pachelbels hört, von der aus bei Bach kaum von Monotonie die Rede sein kann. Im Gegenteil sei hier behauptet, daß man nach einiger Vertrautheit mit dem Stil auch aus dem Zusammenhang gerissene Stellen als Ritornelle, Durchführungen oder Überleitungen zu erkennen vermag, daß die Formteile von Bach also durchaus plastisch formuliert werden – natürlich kaum im C-Dur-Präludium des Wohltemperierten Klaviers (doch wohl selbst da in Ansätzen), wohl aber in fast jeder der Inventionen.
Es ist aber auch zu fragen, ob Falkes These Bachs Musik nicht unzulässig auf ihre kontrapunktische Struktur verkürzt, ob sie nicht Bachs Synthese von harmonischem und polyphonem Denken unterschlägt, eine Synthese, die so vollkommen ist, daß man nicht entscheiden kann, welche der beiden Kategorien die primäre ist. Wenn Bach Vivaldis Konzerte für Tasteninstrumente bearbeitet und den »Kontrapunkt verdichtet«, heißt das ja noch nicht, daß »die Bedeutung der Gliederungen im kontrapunktischen Fluß schwindet«. Die Musik wird wohl reicher und damit schwerer zu hören, aber gerade »die Bedeutung der Gliederungen« will wahrgenommen werden, auch wenn sich die Gliederungen selbst nicht mehr so aufdrängen, Informationen neben anderen Information werden. Wer hier Monotonie wahrnimmt, sollte eigentlich nicht behaupten, er hätte Bach gehört, sondern daß er überfordert war. Man kann der Enttäuschung durch die Lektüre entgehen, indem man sich die Titel vertauscht denkt, wenn man sich auf eine »Philosophie der Musik« unter anderem am Beispiel »Johann Sebastian Bachs« einstellt. Dann enthält das Buch eine Fülle von Einsichten, die klar formuliert und systematisch angelegt sind und dennoch weit hineinfuhren in ein ganz ungewohntes Musikdenken. Stammen die Begriffe, Kategorien und Ideale gegenwärtiger Musikbetrachtung fast alle aus dem Umkreis der neuen Musik und ihrer Betonung der strukturellen Aspekte, so erschließen Falkes Überlegungen zum Ausdruck ihren Gegenstand vom Ganzen her: Eine »Philosophie der Musik« gegen Adornos »Philosophie der neuen Musik«. Falkes Nachweis, daß Aussagen über den Ausdruck von Musik kein subjektives Gerede sein müssen, sondern daß eine Verständigung auf hohem intellektuellen Niveau möglich ist, stellt ein kaum zu überschätzendes Verdienst auch seines zweiten Buches dar. Peter Uehling in der »Berliner Zeitung« vom 16./17. Juni 2001