Gerd Rienäcker

Richard Wagner

Nachdenken über sein »Gewebe«

 

Rienäckers Buch erscheint unter diesem Aspekt als die willkommene und notwendige Ergänzung [zu den neueren Publikationen zu Wagner von Udo Bermbach, Dieter Borchmeyer, Peter Hofmann und Joachim Köhler]. Zwar erhebt er nicht den Anspruch, eine umfassende musikalische Wagner-Monographie zu liefern; was er vorlegt, ist jedoch ein breit angelegter, durch zahlreiche musikalisch-analytische Beobachtungen erhellter Gang durch Wagners musikdramatisches Werk und dessen »Gewebe«. Was aus der Musik der »Freischütz«-Welt in Wagners Komponieren übergeht, wird ebenso aufgespürt wie die Einflüsse der Grossen Oper Meyerbeers (die Rienäcker in etwas störender halber Eindeutschung als »grande opera« bezeichnet).
Aufschlußreich sind die Bemerkungen zum Verhältnis von Vers und Gesangsmelodie, detailliert untersucht am Blutsbrüderschaftseid in der »Götterdämmerung« und an Gurnemanz’ Erzählung im »Parsifal«. Vor allem aber begegnet Rienäcker nachdrücklich der Kritik Adornos, daß die musikalischen Vorgänge die szenischen bloss verdoppelten, so etwa in den Beobachtungen zum »Feuerzauber« im dritten Akt der »Walküre«. »Von den Gesangslinien, vom Klanglichen und Motivischen her ergebe sich: Nicht Brünnhilde ist bezwungen, sie hat, thematisch, gegen ihren Richter sich durchgesetzt, Loge ist ihr zu Willen, trägt sie empor, statt sie einzuschließen«.
Doch Rienäcker würde Wagner ebenso verfehlen wie seine eigene marxistische Herkunft, wenn er beim Musikalischen stehen bliebe. »Gewebe« meint nicht nur Komposition, sondern auch die gesellschaftlichen Beziehungsfelder, in denen die Werke stehen, Werkentstehung und -rezeption sich abspielen. Herausgearbeitet – und dialektisch zelebriert – sind da vor allem die Widersprüche; keine Medaille ohne Kehrseite. So kommt auch die Wagner-Kritik ohne Sympathie und Bewunderung nicht aus. Daß Karl Marx die Festspiele von 1876 als »Narrenfest des Bayreuther Staatsmusikanten« bezeichnete, bleibt ebenso gegenwärtig wie die Beobachtung, »lehrreich und erschütternd, wie Utopien sich zerschlagen«. Doch am Schluß heißt es: »Derlei zu artikulieren, jenseits aller Harne und Besserwisserei, gehorcht radikaler Dialektik. Wagner ist ihrer durchaus mächtig, insofern er als Dramaturg und Komponist zu Werke geht
Bei aller Gegensätzlichkeit des Anspruchs und der fachlichen Ausrichtung verbindet die hier vorgestellten Bücher doch einiges. Sie nehmen Wagner in neuer Weise ernst, vermeiden bei aller Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte die bloße Polemik, betreiben eine weithin sehr genaue Wagner-Philologie und versuchen ein Wagner-Bild zu gewinnen, das weniger von Brüchen und Widersprüchen als von Konstanten geprägt ist. Auch für diesen neuen Wagner Hesse sich ein mythischer Vergleich denken: Es wäre – als Anspielung auf Walthers Lenzgesang in den »Meistersingern« – »mit goldnem Flügelpaar« der Vogel Phönix.
Ernst Lichtenhahn, Titan und Ahasver. Auseinandersetzungen mit Richard Wagner [Sammelrezension], in: Neue Zürcher Zeitung 10./11. Januar 2004, S. 67/68.

 

Das vorliegende Buch wurde 1983 vom Deutschen Verlag für Musik in Auftrag gegeben, es ist 1986 niedergeschrieben, aber infolge der Auflösung der DDR erst jetzt gedruckt worden, wobei eine Einarbeitung der neueren Sekundärliteratur nicht erfolgte, was jedoch kaum ein Manko darstellt. Denn Rienäckers Buch ist – obwohl von Fußnoten nicht frei – eher essayistischer, manchmal sogar aphoristischer Art, präzisiert anhand von Einzelbeispielen grundlegende Fragen zu Wagners Werk und enthält wichtige, vor allem analytische Beobachtungen. Der Autor zielt dabei auf Grundsätzliches und illustriert seine Gedanken mit einer Fülle von Notenbeispielen. Dabei spannt sich der Bogen von »Bayreuth – gescheiterte bürgerliche Illusion« über Wagners Auseinandersetzung mit der Oper und (natürlich) über den Ring des Nibelungen bis zu »Erlösung dem Erlöser? Nachdenken über Konstellationen im Parsifal«.
Rienäckers Buch entzieht sich jedoch einer Zusammenfassung, nicht zuletzt wegen der dialektischen Denkweise des Autors, mit Hilfe derer er den Widersprüchen Wagners (im doppelten Sinne des Wortes) auf die Spur kommt, ohne sie im Einzelnen auflösen zu wollen. Wenn einerseits in wenigen Zeilen die Idee der leitfadentauglichen Leitmotive nach Wolzogen’schem Muster als »jämmerlicher Ausrutscher« charakterisiert wird, zugleich aber darauf hingewiesen wird, daß Autoren wie Wolzogen Wagner eben nicht völlig mißverstanden haben, »ihr Tun« aber »vom Kopf auf die Füße zu stellen [wäre] – ihr Tun, nicht erst dessen Bewertung!«, so faßt Rienäcker damit auf knappem Raum eben jene »programmierten Widersprüche« im Ring zusammen, die dann »in Querstände umschlagen, Gelingen zum ›großen Mißlingen‹ transformieren«, was er nicht als Defizit, sondern als »fernab kompositorischer Inkonsequenz« bewertet. Brillant ist auch, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, die musikalische und aus dem Musikalischen gewonnene inhaltliche Interpretation des Walhall-Motivs, auch wenn im Einzelnen einzuwenden wäre, daß die Crux im Ring nicht die ist, daß Verträge abgeschlossen werden, »denen innewohnt, daß sie nicht eingehalten werden sollen« (das erwägt Wotan zwar in der Auseinandersetzung mit den Riesen, allerdings eher der Not, denn der – unmittelbar folgenden – Einsicht gehorchend), sondern daß sich die Verträge bzw. die Verpflichtungen daraus widersprechen und dieser Widerspruch nicht ohne Schuld zu generieren gelöst werden kann. Was die Lektüre von Rienäckers Buch interessant macht, ist seine Detailversessenheit in der musikalischen (und manchmal auch sprachlichen) Analyse, die mit einem auf Hegel und Adorno zurückweisenden Blickwinkel verknüpft werden. Wer diesen nicht teilt, wird gleichwohl im Widerspruch aus diesem Buch Gewinn ziehen. Freilich ist der Untertitel des Buchs ernst zu nehmen: es ist ein »Nachdenken« über Wagner, nicht das Liefern von »Wissen über Wagner«.
Michael Walter in: Österreichische Musikzeitschrift, 58. Jahrgang, 8+9/2003

Auch Bücher haben Schicksale. Gerd Rienäckers Arbeit »Richard Wagner – Nachdenken über sein ›Gewebe‹« geriet in die Zeit des Mauerfalls und der Wende. Der in der DDR wirkende Verfasser – er arbeitete von 1966 bis 1996 am Musikwissenschaftlichen Institut der Berliner Humboldt-Universität – beendete das ihm in Auftrag gegebene Manuskript 1988, der Druck sollte 1990 erfolgen. Erst 2001 kam es heraus – unverändert und inzwischen fast »historisch«, wie der Autor bekennt. Rienäcker beschreibt Wagner als einen »Taumelnden zwischen Einsicht und Illusion, als einen allmächtig-ohnmächtigen Komödianten und Tragöden«, dessen Ort das Theater ist. Und er analysiert seine Werke (anhand von Notenbeispielen) sehr genau, kritisch und eigenwillig. Stellt Fragen zur Diskussion – so auch Wagners Antisemitismus –, die trotz aller nachgekommenen Literatur nach wie vor aktuell und nicht vollauf beantwortet sind. Seine Sprache ist wissenschaftlich, schwierig, von etwas umständlichem literarischen Stil, in den man sich hineinlesen muß. Aber er umreißt klare Figuren und Situationen und wagt in seinen Deutungen Meinungen, die durchaus zum »Nachdenken« anregen.
Das Buch dürfte für Wagner-Fans wie für Wagner-Kritiker lohnende Lektüre sein, die auf etwas andere Weise Aufschluß gibt über die wichtigen Werke, ihren Ursprung, ihre Wirkung und ihre Rezeption. Und über die Institution »Bayreuth«, wo Wagner seine Ideen zur Veränderung einer »hinfälligen Welt« realisieren wollte. »Westfälische Rundschau«, 17. Juni 2002

Eine Repertoirevorstellung des »Parsifal« an der Berliner Staatsoper. Gegen Ende des schlampig durchexerzierten Vorspiels kämpft sich ein Mann durch die Reihen, zum Ausgang, ins Freie. Dieser Flucht des Autors der »Marginalien zum ›Parsifal‹-Vorspiel«, abgedruckt im Programmheft des Abends, haftet nichts Demonstratives an – der Fliehende will sich nur der körperlichen Folter entziehen, die ihm abgestumpfte Interpretationen bereiten. Dem Studenten, der den drögen musikgeschichtlichen Unterrichtungen an der Hochschule »Hanns Eisler« entkommen will, bietet sich im Berlin (Hauptstadt der DDR) der 80er Jahre ein Ort, wo Musik als Wissenschaft gelehrt wird: die Humboldt-Universität. Unverbindliches musikjoumalistisches Gerede ist Gerd Rienäckers Sache nicht. Er liest konzentriert und er formuliert entschiedene Thesen. Die wenigen Einleitungstakte zur »Salome« genügen ihm, ein umfassendes Bild von den dramaturgischen Techniken Richard Strauss' zu entwerfen; in Humperdincks Bühnenfestspiel »Hänsel und Gretel« vermag er Wagners »Ring«-Tetralogie zu spiegeln. Er empört sich über musiktheatralische Auftragsschinken und hört noch in die fragwürdigsten Hervorbringungen von DDR-Komponisten den Keim des Neuen hinein. Er demonstriert einen Übergang, eine Passage am Klavier, ohne alle Töne zu treffen, trifft aber sehr wohl den Gestus, und auf den kommt es ja an. Dass dabei Noten zu Stücken immer als Noten zu sozialen Verhältnissen, gelesen werden müssen, daran ließ Rienäcker bereits in den 80er Jahren keinen Zweifel. Von welchen Institutionen war denn die Rede, wenn er über die Bayreuther Festspiele sprach? Welche »gebrochenen« Akteure meinte er, wenn es um Wotan und Siegfried ging? Wo lag denn die Wolfsschlucht, über der sich an jenem denkwürdigen 12. Juni 1983 in tiefster DDR-Provinz der Vorhang hob? In Agathes Zimmer? Im Schlachthof? Auf der Startbahn eines Flugplatzes? Auf der Opernbühne! Peter Konwitschnys Inszenierung des »Freischütz« wäre ohne Gerd Rienäcker so nicht möglich gewesen. Konwitschnys »Freischütz« hat sich all jenen ins Gedächtnis gebrannt, die eine der wenigen Vorstellungen am Landestheater Altenburg se‹‹-Szene« weit mehr sein als nur musikdramaturgische Analyse. Sie wollten Theatertätigkeit und Lebenstätigkeit noch zum Besseren befördern helfen, als beide längst schon den Stücken des rotierenden Besens glichen, die der Zauberlehrling nicht mehr in den Griff bekommt. Von Webers Wolfsschlucht führt ein direkter Weg zu Richard Wagners romantischen Opern (von Brecht und Eisler zu Wagner übrigens auch). Rienäcker geht diese Wege seit dem Ende der siebziger Jahre. Aufgehoben sind sie in den Arbeiten seiner besten Schüler, die wichtige Wagner-Inszenierungen als Dramaturgen begleiten. Nachgehen kann man ihnen jetzt in einem Buch, das als die wohl aufregendste deutschsprachige musikwissenschaftliche Veröffentlichung dieses Jahres bezeichnet werden darf.
»Verhältnisse und nichts als Verhältnisse« bieten sich Richard Wagner dar, als er den wahren Menschen des Urdeutschen Mythos in der Geschichte aufsucht: »den Menschen sah ich aber nur insoweit, als ihn die Verhältnisse bestimmten, nicht aber wie er sie zu bestimmen vermocht hätte Verhältnisse, nichts als Verhältnisse, bilden auch Wagners dramatisch-musikalisches »Gewebe« (der Begriff findet sich bei ihm selbst!). Rienäcker sucht Wagners Festspielidee in der Festspielrealität auf und analysiert die Institution Bayreuther Festspiele als »Ineinander von vorindustrieller, quasi handwerklich betriebener und gleichzeitig kapitalisierter Produktionsstätte«: ein ebenso illusionärer wie utopischer Revolutionsersatz von allem Anfang bis heute. Rienäckers Einlassungen zu Wagners Dramaturgie und dem dramaturgischen Sinn seiner orchestralen Gewebe, zu »Tristan«-Akkord und Ur-Anfang des »Rheingold«-Vorspiels, zu Figuren und Figurenkonstellationen – sie alle ergeben stets den selben Befund: Immer vermitteln sie »jene sozialen Verhältnisse«, auf deren Abschaffung hin Wagner sein Theater konzipiert, für deren Veränderung er »eine Reformidee nach der anderen gebiert« und auf deren leeres Weiterexistieren er zu antworten sucht. Weder verliert sich Rienäcker dabei im Gestrüpp Wagnerschen Denkens, Handelns und Komponierens, noch versucht er es auf ein kompendienhaftes Großwerk zurückzustutzen. Exkurs, Gedankensplitter, Notat, Vor-Wort nehmen die einander überlagernden Widersprüche seines Gegenstands in den Text hinein. Was dem Ungeübten als akademische Kapriolen vorkommen mag, ist nichts anderes als Gebrauch und Kritik radikaler Dialektik in der Tradition Hegels, Marxens und Adornos, wie sie in der ost- wie westdeutschen Musikwissenschaft nach Carl Dahlhaus kaum noch einer wagte. Rienäckers Analysen sind nach wie vor auf die Praxis ausgerichtet, wie diese wiederum – er nennt u.a. die Namen Chéreau, Herz, Kupfer und Berghaus – auf das Denken Rienäckers rückgewirkt hat.
Das Buch hatte der Deutsche Verlag für Musik Leipzig 1983 in Auftrag gegeben; das 1988 abgegebene Manuskript sollte im Frühjahr 1990 gedruckt werden. Verhältnisse und nichts als Verhältnisse haben das verhindert. 14 Jahre zu spät und zur richtigen Zeit ist das erste Buch von Gerd Rienäcker endlich erschienen. Alle, die Rienäckers Aufsätze nicht kennen, dürften sie am dringendsten benötigen – und sei es, um die Hoffnung auf Opernabende nicht verblassen zu lassen, die den mündigen Zuhörer länger als ein Vorspiel lang auf seinem Sitz zu halten vermöchten. »Der Tagesspiegel« vom 6. Dezember 2001

Ein in jedem Sinne gewichtiger Band, nämlich die bereits Mitte der achtziger Jahre in der ehemaligen DDR geschriebene Studie Gerd Rienäckers, wurde 2001 ohne jede Änderung in den Druck gegeben, was der Sache nicht schadete, im Gegenteil: die marxistisch inspirierten Interpretationen des an der Humboldt-Universität lehrenden Forschers wurden von der »Wende« nicht ad absurdum geführt.
Rienäcker beginnt seine Analysen mit einer am Marxschen Warenbegriff orientierten Kritik des Kunst-Handels, der den Widerspruch zwischen Wagners revolutionärer Theorie und seiner schließlichen Bayreuther Praxis markiert – ein »Querstand«, der nur unter Zwängen zu einem utopischen Welterlösungstheater umgebogen werden kann. So vermag Rienäcker dem Zusammenhang der bürgerlichen Warenproduktion mit der seriell anmutenden Oper einen Romantik-Begriff entgegenzustellen, der mit der bloßen Idylle wenig, mit wirklicher Harmonie viel zu tun hat. Gilt es auch, so Rienäcker, über »Kriterien artifiziellen Gelingens und Mißlingens« nachzudenken, entdeckt er doch bei Wagner eher die Spuren des kompositorischen Erfolgs. »Komplikationen« werden da häufiger vermutet als benannt – daher überraschen auch die präzisen, zuweilen überraschenden Mikroanalysen, als sähe man zum ersten Mal in die Partitur. Der »Feuerzauber« läßt etwa, hört und sieht man nur genau hin, wohl nur einen Schluß zu, den man so radikal bislang nicht ziehen wollte: »Nicht Brünnhilde ist bezwungen, sie hat, thematisch, gegen ihren Richter sich durchgesetzt, Loge ist ihr zu Willen, trägt sie empor, statt sie einzuschließen.«
Radikal verfährt Rienäcker mit der versteinten Gralssphäre, indem er, dialektisch geschult, die Gral- und die Klingsor-Welt als zwei Seiten einer Medaille betrachtet: das ist nicht nur dramaturgisch, sondern gerade musikalisch triftig. Der harmonisierenden Meinung, der »Parsifal« sei der »fünfte Teil des ›Ring‹«, entgegnet er mit einer kühlen Frage: »Ist Siegfried überwunden in Parsifals Mission oder verdrängt Allein auch Rienäcker vermag sie nur – gegen alles modische Utopiegerede – als Dilemma zu beantworten: »Beides zugleich, es gibt keinen anderen Weg Frank Piontek in den [Bayreuther] »Festpiel Nachrichten«, 2001

[...] »Verhältnisse, und nichts als Verhältnisse« bieten sich Richard Wagner dar, als er den wahren Menschen des urdeutschen Mythos in der Geschichte aufsucht: »den Menschen sah ich aber nur insoweit, als ihn die Verhältnisse bestimmten, nicht aber wie er sie zu bestimmen vermocht hätte Verhältnisse, nichts als Verhältnisse bilden Wagners dramatisch-musikalisches »Gewebe« – der Begriff findet sich bei Wagner! –, weben erkannt und unerkannt noch im wogendsten Schwall und tönendsten Schall seines Orchesters, darin schon mal ertrinken und versinken könnte, wem Wagners radikale Dialektik im Weihrauch illusionistisch-mystifizierender Lesart verloren ginge. Dieses Gewebe durchsichtig zu machen, führen allein Umwege zum Ziel.
Gerd Rienäcker sucht Wagners Festspielidee in der Festspielrealität auf wie diese in jener und analysiert die Institution Bayreuther Festspiele als »Ineinander von vorindustrieller, quasi handwerklich betriebener und gleichzeitig kapitalisierter Produktionsstätte«, illusionärer wie utopischer Revolutionsersatz von allem Anfang an bis heute. Er geht Wagners »Romantischem« in dem »fernen Reich der Romantik« seiner Vorläufer auf den Grund und nimmt es – Wagner folgend – »beim Wort, entziffernd das erschreckende Nahe, die Reflexion prosaischer Verhältnisse, die Opposition und Irrefahrt«. Er findet Wagners Kompositionstechniken, Standardisierung und Montage, in der Grande opéra Giacomo Meyerbeers wieder und legt die Ursachen derer »Wirkung ohne Ursache« offen. Rienäckers Einlassungen zu Wagners Dramaturgie und dem dramaturgischen Sinn seiner orchestralen Gewebe, zu Tristan-Akkord und »Ur-Anfang« des »Rheingold«-Vorspiels, zu Figuren und Figurenkonstellationen – sie alle ergeben stets den selben Befund: Immer vermitteln sie und vermitteln sich in ihnen »jene soziale Verhältnisse« – auch der Begriff findet sich bei Wagner! – , auf deren Abschaffung hin Wagner sein Theater konzipiert, für deren Veränderung er »eine Reformidee nach der anderen gebiert« und auf deren leeres Weiterexistieren er zu antworten sucht, am Rande des Verstummens.
Das Buch hatte der Deutsche Verlag für Musik Leipzig im Jahr 1983 in Auftrag gegeben; das 1988 abgegebene Manuskript sollte im Frühjahr 1990 gedruckt werden. Verhältnisse, und nichts als Verhältnisse, haben das verhindert. Nach nunmehr vierzehn Jahren ist also das erste Buch des Berliner Musiktheater-Wissenschaftlers Gerd Rienäckers endlich erschienen, unverändert, als ein historischer Text, in Gelingen und großartigem Mißlingen den Werken Wolfgang Heises und Lothar Kühnes verpflichtet und ebenbürtig, zwei Philosophen, welche die DDR hervorgebracht hat und denen sie ans Leben ging.
Weder verliert sich Rienäcker in dem Gestrüpp Wagnerschen Denkens, Handelns und Komponierens, noch versucht er es auf die gärtnerischen Maße eines kompendienhaften Großwerks zurückzustutzen. Exkurs, Gedankensplitter, Notat, Vor-Wort, Versuch nehmen die einander überlagernden Widersprüche seines Gegenstands in den Text. Was dem Ungeübten als willkürlicher Mechanismus eristischer Verdrehungen vorkommen mag, ist doch nichts anderes als Gebrauch und Kritik radikaler Dialektik in der Tradition Hegels, Marxens und Adornos, wie sie in der ost- wie westdeutschen Musikwissenschaft nach Carl Dahlhaus kaum einer noch wagte.
Damit sich Zeit in Raum und Raum in Zeit wandele, Musik sich »zur Überfahrt ins Szenische« rüste, bedarf es des Fährmanns, noch vor den kundigen Interpreten, deren »Bilderwelt (...) Wagners Kunst des feinsten Übergangs mit all seinen Implikationen, mit all seiner eingeschriebenen Dialektik in höchst beklemmende Vorgänge, Verwandlungen, Widersprüche« übersetzt. Kein Zweifel: Rienäckers musikdramaturgische Analysen sind auf eingreifende Praxis ausgerichtet, wie diese wiederum – er nennt die Namen Chéreau, Herz, Kupfer und Berghaus, heute käme der Name Peter Konwitschny hinzu - auf das Denken Rienäckers rückgewirkt hat.
Dem Lukas Verlag Berlin ist Verkaufserfolg zu wünschen, damit endlich auch die Veröffentlichung bisher an schwer zugänglichen Stellen publizierter oder noch gänzlich unpublizierter Aufsätze Rienäckers möglich wird, allen voran seiner großen Arbeit zu Theorie und Geschichte des Opernfinales. Jens Knorr in »Theater der Zeit«, ähnlich auch in »Die andere Welt« 05/2002

Gerd Rienäckers bereits fünfzehn Jahre altes – unmittelbar vor der Wende in der ehemaligen DDR entstandenes und dadurch nicht veröffentlichtes – Buch nennt sich ebenso spröde wie zutreffend «Richard Wagner – Nachdenken über sein ›Gewebe‹«. Es ist sperrig, manchmal unzugänglich in seinem in Adorno-Nachfolge brillant verrätselten Stil und emphatisch leidenschaftlich zugleich, dabei auch durchaus humoristisch ironisch in der Wortwahl und der aus vielen Sätzen sprechenden geistigen Freiheit jenseits ideologischer Verbrämung. Der grandios einseitige und polemisch zugespitzte Beginn mit einer Zernichtung der besonderen Art (»Bayreuth – gescheiterte bürgerliche Illusion«) und einer geradezu abenteuerlichen Gleichsetzung des Musizierens im verdeckten Graben mit entfremdeter Arbeit steht zwar an prominenter Stelle, ist aber keineswegs charakteristisch für den Rest des Buchs, das als Ganzes vor 1986 geschrieben und damit heute schon fast historisch ist. Das macht den Reiz – und die Fragwürdigkeit – des umfangreichen Manuskripts aus, das für die späte Veröffentlichung nach dem Zusammenbruch der DDR bewußt nicht revidiert wurde.
Die Kapitel folgen keinem stringenten Aufbau, gewichten ganz unterschiedlich, folgen allerdings der Werk-Chronologie. Von den Romantischen Opern – und ihren Quellen Carl Maria von Weber und Giacomo Meyerbeer – über »Tristan« und »Ring« bis zum »Parsifal« reichen die Texte – unter weitgehender Aussparung der »Meistersinger«. Kluge Verweise sind hier enthalten über die Ambivalenz der Leitmotiv-Technik, oder es wird – im Kapitel »Verwandlungen« – die vielfache Wiederkehr nahezu, aber eben nur nahezu identischen musikalischen Materials analysiert. Kühn aber erhellend und durchaus plausibel phantasiert Rienäcker am Ende über die Thematik des »Parsifal«-Vorspiels mit seinen die gesamte Partitur prägenden »Psalmodien«. Dabei gibt es immer wieder Hinweise auf interessante, unveröffentlichte Manuskripte, doch leider kein Literaturverzeichnis, das alle diese Querverweise auf Gedrucktes und Ungedrucktes, leicht Greifbares und Entlegenes sammeln würde. Ein schwieriges, dennoch eminent lesenswertes, zum Widerspruch wie zur Bestätigung reizendes und sogar – auf hohem Niveau – unterhaltsames Buch. klk in »Opernwelt«, Heft 9+10/2001