Petra Marx
Die Stuck-Emporenbrüstung aus Kloster Gröningen
Ein
sächsisches Bildwerk des 12. Jahrhunderts und sein Kontext
Kloster Gröningen, ein nordöstlich von Halberstadt links der
Bode gelegener Ortsteil der Stadt Gröningen, die auf dem rechten Flussufer
liegt, geht auf eine Stiftung des 10. Jahrhunderts zurück. Der Bruder Siegfried
des Markgrafen Gero, des Gründers vom Damenstift Gernrode, habe – so berichtet
die Chronik des Joh. Georg Leuckfeld 1710 (oder 1727?) – 934 den Königshof
Gröningen zum Geschenk bekommen und 936 eines familiären Unglücks, des
Verlustes seiner Kinder wegen, seine Güter westlich der Bode dem Kloster Corvey
übergeben, welches sofort Mönche dort ansiedelte. Diese Stiftung einer dem
Reichskloster unterstellten Benediktinerpropstei bestätigte der Abt von Corvey
am 26. Mai 936. Eine Abhängigkeit von Corvey, 1154 päpstlich verbrieft, bestand
bis zur Aufhebung 1550. Demzufolge war dem Kloster größere Bedeutung seitens
der Historiker nicht zugestanden. Graf Siegfried gehörte jedoch wie sein Bruder
zu den Großen der Frühzeit sächsischer Könige. Nach seinem Tod 937 schein er
aber im Schatten Geros mehr oder weniger in Vergangenheit geraten zu sein. Man
wird davon ausgehen können, dass Siegfried in dem von ihm gestifteten
Klosterbezirk seine letzte Ruhe gefunden hat. Ende des 11. Jahrhundert
schloss sich Corvey der Hirsauer Refom an, was sich offenbar auch auf Groningen
auswirkte. »Steinernes Zeugnis der monastischen Erneuerung ist die hier
wahrscheinlich nur kurze Zeit später, d.h. zu Beginn des 12. Jahrhunderts,
errichtete neue Klosterkirche, die einige Merkmale der ostsächsischen
Reformarchitektur aufweist.« (278). Petra Marx geht auf diese geschichtlichen
Vorgänge erst ab Seite 265 ihres Buches ein, auch auf die Klosterkirche in
Groningen selbst, ihre Baugeschichte und Gestalt, insbesondere aber auf deren
Westbau, mit dessen Deutung sie ihre Arbeit beschließt. Ihren Ausgang nimmt sie
dagegen von einem bisher viel zu wenig beachteten Werk romanischer Plastik aus
dem Nordharzraum, eben von der sog. Gröninger Empore im Berliner Bodemuseum.
Unter der Inv. Nr. 2739 wird dieses Exponat dort als »Westempore der
Klosterkirche zu Groningen« im Amtlichen Führer von 1910, in »Die Kunstwerke
des Gröninger Saales« (o.J., wohl 1985) und in »Skulpturensammlung im Bode-Museum« (20072)
geführt. Natürlich ist es nicht eine Empore, was sich nach mehrfach gewechseltem
Ausstellungsort heute im Raum 141, im oberen Wanddrittel angebracht, darbietet, sondern,
wie die Autorin im Titel richtig formuliert, die mit figürlichen Stuckreliefs
geschmückte Brüstung der Westempore in der Kirche St. Vitus des ehemaligen Klosters
Groningen. Die Klosterkirche des frühen 12. Jahrhunderts ist nur als Torso erhalten.
Seitenschiffe, Nebenchöre und Hauptapsis fehlen. Sie war eine kreuzförmige Basilika
mit dem »sächsischen« Stützenwechsel PSSP und mit einem dreischiffigen Ostteil
in der sog. Hirsauer Form, wobei die Nebenchöre mit dem Hauptchor aber nicht
»kommunizierten«, sondern durch geschlossene Wände voneinander getrennt waren. Sie
glich damit den Kirchen der Augustiner-Chorherren im Nordharzgebiet (ULF
Halberstadt, Hamersleben) und stand auch mit dem stattlichen Vierungsturm in der
Kunstlandschaft nicht allein (Hildesheim; St.Godehard, Königslutter). Als Westabschluss wird eine,
nach den unter Mitarbeit der Autorin entstandenen Aufmaßzeichnungen zumindest in der Planung
auch wahrscheinliche,
Doppelturmanlage
nach niedersächsischem Muster (Gandersheim, Drübeck, auch Halberstadt ULF)
angenommen; einen Eingang an der Westseite gab es nicht. In der Regel haben diese
»Westriegel« von vornherein eine Empore, hier aber ist sie offenbar erst nachträglich in
ein mit dem Mittelschiff raumhoch verbundenes querrechteckiges Joch zwischen
seitlichen Räumen (Unterbauten zu den geplanten Türmen?) eingefügt worden, und zwar über
einer Kapelle, die mit einer Quertonne gewölbt ist und mittig zwischen zwei Durchgängen zum
Mittelschiff apsisartig ausbuchtet. Dem Grundriss der Kapellenostwand folgt die
Brüstung der Empore mit der Ausbuchtung ins Schiff, an der Christus mit den Aposteln als
Relieffiguren aus Stuck dargestellt sind. Die Gestalt der Kirche und die besondere Form des
Emporeneinbaus machen deutlich, dass die Einschätzung von Kloster Groningen als von
geringer Bedeutung
zu
Unrecht besteht, und Petra Marx legt dar, welche Bewandtnis es mit der außergewöhnlichen Erscheinung der Westemporenanlage
auf sich gehabt haben müsste. Dazu dienen die bis hierher referierten Abschnitte des
gewissermaßen zweiten Teils ihrer Arbeit.
Der erste Teil ist dagegen zunächst der Forschungsgeschichte, ferner der Überführung des Originals
nach Berlin unter Wilhelm von Bode und der Anfertigung eines am Ursprungsort
angebrachten Gipsabgusses, dann dem Erhaltungszustand, dem Material und der
Technik der Emporenbrüstung gewidmet. Weiter werden der Erhaltungszustand und
die Technik der am Ort erhaltenen Wandmalereien behandelt und schließlich
ausführlich die Beschreibung sowie die ikonografische und stilistische Analyse
der Brüstungsreliefs und der Wandmalereien geleistet. Die Erwerbungsgeschichte
offenbart ein spannendes Stück Geschichte von Denkmalpflege und Restaurierung
um 1900. Das schließlich aus Groningen geholte Original war seit 1904 im
Kaiser-Friedrich-Museum aufgestellt. Es wanderte dann ins 1930 fertiggestellte
Deutsche Museum, wurde während des Krieges im Zoobunker verwahrt, 1945 aber
nach St. Petersburg verbracht, von wo es 1958 nach Berlin zurückkehrte und
schließlich 1964 erneut im nunmehrigen Bodemuseum Aufstellung fand. Im Zuge
neuer Ausstellungskonzeptionen nach der umfassenden Sanierung des 2006 wieder
eröffneten Gebäudes verblieb die Emporenbrüstung »wegen konservatorischer
Problematik« am bisherigen Anbringungsort, wo »nahestehende Bildwerke der
Schatzkunst und kleinere Skulpturen das Umfeld bilden« sollen. Dass damit der
Wunsch der Autorin, »die Brüstung künftig weniger als isoliertes Objekt,
sondern unter Hinweis auf ihren ehemaligen Kontext gesehen werden kann«, darf
bezweifelt werden.
Dem Abschnitt zum Erhaltungszustand sind in sehr guter Wiedergabe informative
Abbildungen beigegeben. Die Spuren originaler Fassung entdeckte schon Franz
Kugler 1838. Eine gründliche Untersuchung erfolgte in den 1960er Jahren durch
Wolfdieter Kunze
und Eva
Mühlbecher. Auf deren inzwischen aber wieder hinterfragte Ergebnisse geht die
Rekonstruktion auf Farbtafel VIII zurück. Zum Kontext der Sitzfigurenreihe gehört die Wandmalerei an der
Kapellenwand unter
der Empore zum Mittelschiff hin und an den Gewölben im Kapelleninneren. Dargestellt bzw.
rekonstruierend erkennbar sind außen Szenen des Jüngsten Gerichts und innen in besserer Erhaltung ein typologischer Zyklus.
Ein szenischer Zusammenhang zwischen den Stuckreliefs und der Malerei ist
schwer herstellbar, wohl aber ein ikonografischer, aufgrund dessen die Verfasserin entgegen
älteren Meinungen für die Gleichzeitigkeit der Entstehung plädiert. Von Wichtigkeit für solche
Aussagen
sind die beiden Spruchbänder an den ausgebreiteten Armen Christi, was in der ikonografischen
Analyse eingehend dargelegt wird. Auch stilistisch könnte sich daraus eine Herleitung des Figurenstils aus Westfalen (Taufstein
in Freckenhorst) ergeben. Mit entsprechender
Ausführlichkeit behandelt Petra Marx den typologischen Zyklus am Gewölbe im Inneren der
Kapelle. Er
zeigt auf der westlichen Hälfte die Kindheit
Christi und auf der östlichen die Passion mit den kanonischen alttestamentlichen
Typen. »Westliche Handschriftenillustrationen« werden als Vorlage
wahrscheinlich gemacht. Schließlich geht es, was die stilistische Ortung
angeht, neben den hergebrachten Zusammensichten (Erfurter Stuckmadonna,
Godehardschrein in Bildesheim, Merseburger Taufstein, Apostelteppich in
Halberstadt u. a.) und Hinweisen auf zeitübliche Byzantinismen um die Frage
nach einem »Reformstil«, wobei auch
zeitgenössische Skulpturen in Süddeutschland (Freudenstädter Lesepult) mit in
den Blick kommen. Als Schlussfolgerung gibt Petra Marx zu bedenken, »dass der Einsatz
einer byzantinisierenden formelhaften Formensprache nicht nur einem Ideal der
Zeit, sondern auch einer bestimmten theologisch-politischen Ausrichtung der für das
Kunstwerk Verantwortlichen entsprochen haben mag.« Ehe die Autorin dazu kommt,
diese Feststellung mit dem Postulat einer Stiftermemoria zu untermauern, fügt
sie die eingangs referierte Baugeschichte und Beschreibung der Klosterkirche
mit der besonderen Anlage des Westteiles ein. Was hat es mit dem nachträglichen
Einbau, erfolgt »um oder kurz nach 1150«, einer bis dahin nicht vorhandenen
westlichen Empore in einer für die Region einmaligen Form und einem
bildkünstlerischen Schmuck heilsgeschichtlichen Inhalts auf sich? Entscheidend
für die Deutung dürfte der Fund von Bestattungen unter einer vom Bodenestrich
frei gebliebenen Stelle sein, westöstlich ausgerichtet in der Raummitte und in
der Achse des in der Apsis zu denkenden Altars. Wichtig sind weiter folgende
Beobachtungen: Wiederbelebung (»Aktualisierung«) der Krypta, gerade im
Nordharzgebiet in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, und das Auftreten
von zweigeschossigen Westbauten mit geschlossenen Untergeschossen (Magdeburg
St. Sebastian, Ballenstedt, Klostermansfeld). Andererseits könnten für
Groningen Baumaßnahmen im näheren Umfeld von Bedeutung gewesen sein, der Umbau
des Corveyer Westwerks unter Abt Wibald (1146–59) und die Anlage eines
Westchors mit Krypta anstelle des westwerkartigen Dreiturmbaus aus dem
10. Jahrhundert in Gernrode. Eine verwandte Anlage mit der vermuteten
Funktion einer Stiftermemoria erkennt Petra Marx schließlich in dem
rekonstruierten Westbau von Marienmünster (bei Höxter), einem erst 1128 von
Corvey aus begründeten Kloster, dessen Kirche in der Tat gestalterisch, soweit
die Erkenntnisse über das ursprüngliche Aussehen reichen, mit Groningen verglichen werden könnte (Stützenwechsel PSSP, Vierungsturm).
Offen bleiben muss die Frage nach dem Nutzer der Empore, der Plattform über der Kapelle. Da offenbar ein weltlicher Klosterherr nicht
vorhanden war, ist die Annahme eines sekundären Sanctuariums für den Klostervorsteher oder den
Abt von Corvey die
wahrscheinlichste. Die Überlegungen zur »kultisch-liturgischen Nutzung« des westlichen Einbaus
im ganzen sprechen für einen selbständigen Sakralbereich innerhalb der Kirche, westchorähnlich,
der aber auch in die Gesamtliturgie und in Prozessionsgottesdienste einbezogen
werden konnte. Dass damit Totenmemorien verbunden waren, beweisen auch spätere,
prominente Beispiele. Wichtig ist dabei immer das Interesse, sich der Geschichte des Ortes und der
an ihr beteiligten Personen in kultischer Handlung und Fürbitte erinnern zu können. Die Inhalte von bildkünstlerischem
Schmuck gleichen dann meist dem für Groningen ermittelten, Menschwerdung Christi,
Tod und Wiederkehr im Gericht,
auch unter Zuhilfenahme der Typologie, was richtig mit Reformeinfluss
(»theologischer Widerstand gegenüber häretischen Strömungen«) in Zusammenhang gebracht ist. Die
Auswahl der
alttestamentlichen
Typen weist auf maasländische Beispiele und stellt den Gröninger Zyklus in die Reihe der
frühen Anwendungen des 12. Jahrhunderts.
Alles in allem listen die letzten Abschnitte über Funktion und Nutzung des kryptaartigen
Kapellen- und
Emporeneinbaus
aber nur noch die bleibenden Fragen auf, auf die es vorerst keine Antworten gibt. Die
Unsicherheit der
Aussagen,
deren meist
hypothetischer Charakter durch den Mangel an Quellen bedingt ist, teilt Petra Marx mit
den zahlreichen Autoren, die sich zu diesem und ähnlichen Problemen früh- und
hochromanischer Architektur und Kunst vor allem in der zur Rede stehenden
Region geäußert haben. Die gründliche Literaturrecherche gibt darüber Auskunft.
Dass die Zusammengehörigkeit der Gröninger Westanlage in ihrer zeitlichen
Entstehung – baulich, plastisch und malerisch, technologisch, ikonographisch
und stilistisch – jedoch außer Frage steht, nimmt man der Verfasserin
zustimmend ab und gerne auch die abschließenden Überlegungen zur Kenntnis, die
zwar etwas ausufern, aber auf jeden Fall zur weiteren Beschäftigung mit der
Materie anregen. Die Arbeit von Petra Marx, eine Dissertation unter der
Mentorschaft von Robert Suckale, ist aus dem Teamwork des Graduiertenkollegs
»Kunstwissenschaft – Bauforschung – Denkmalpflege« der Technischen
Universität Berlin und der Bamberger Universität hervorgegangen, einem seit
mehr als einem Jahrzehnt sehr effektiv arbeitenden Kolleg, dessen
interdisziplinär angelegtes Konzept bereits eine stattliche Zahl wichtiger
Arbeitsergebnisse zu allen Themenbereichen hervorgebracht hat und hoffentlich
in Zukunft auch noch bringen wird.
Ernst Badstübner im
»Journal für Kunstgeschichte«, 12. Jg. 2008, Heft 1