Dieter A. Nanz

Edgard Varèse

Die Orchesterwerke

Kraftvoll und hochemotional, aber auch ohne nennenswerte Entwicklung und schon gar nicht analysierbar: Auf diesen schlichten gemeinsamen Nenner kann man das Bild bringen, das sich viele Kenner und Liebhaber von der Musik Edgard Varèses machen. Die Gründe für dieses Vorurteil, das sich nun seit Jahrzehnten mehr oder weniger unverändert hält, sind nicht einfach zu fassen und wohl auch sehr verschieden: Zunächst vielleicht ganz simpel die Annahme, daß eine starke und mitunter ausufernde Emotionalität, wie sie sich in der Musik von Varèse ausdrückt, nur in sehr beschränktem Umfang mit Intellektualität und Rationalität vereinbar sei. Diese schlichte Denkweise liefert das Muster für eine Rezeption, die sich bequem auf der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Verstand und Gefühl ausruht.
Darüber hinaus scheint der Hang zu sorgfältigem und geduldigem Partiturstudium spätestens seit Ende des orthodoxen Serialismus, also ungefähr seit Beginn der siebziger Jahre, beständig abzunehmen. Die Rezeption von Neuer Musik beschränkt sich angesichts postmoderner Vielfalt mit Vorliebe auf das Erfassen von Stilelementen, die Vermittlung musiksprachlicher Inhalte hat im Zeitalter einer Festivalkultur, die jährlich ein gewisses Kontingent neuer Stars mit angemessen vermarktbarer Aura und dem dazu gehörigen neuen Stil ausspucken sollte, wenig Konjunktur. Dieses verbreitete Desinteresse an kompositionstechnischen Fragen erstreckt sich im gerade begonnenen ›Jahrhundert des Design‹ wohl auch zunehmend auf die Auseinandersetzung mit Komponisten und Werken, die längst der Tradition zuzurechnen sind.
Inzwischen fast überflüssig zu betonen, daß auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk als einer der wenigen verbliebenen potentiellen Vermittler zeitgenössischer Musik sich unter dem Druck der Quote weitgehend auf das wohlgelaunte und/oder geistreich raunende Feature verlegt hat. Mediale Vermittlung, die nachvollziehbar auf fundierter Kenntnis der jeweiligen Notentexte basiert, wird zunehmend an den Rand verschoben. Redakteure und Autoren, die die Vermittlung kompositorischer Fragestellungen dem genreübergreifenden Spaß vorziehen, dürfen sich fragen, ob ihnen denn die Rolle als Feigenblatt für den Bildungsauftrag oder die Strafversetzung hin zu Nachtzeiten, die von den Media-Analysen mangels Relevanz für die Öffentlichkeit nicht mehr erfaßt werden, angenehmer ist.
Im Fall von Varèse ist es allerdings nicht zuletzt der Komponist selbst, der gewissen Mißverständnissen bezüglich seiner Musik Vorschub geleistet hat. Besonders deutlich wird in seinem Fall, wie weit Sprache und Musik, mündliche und textlich fixierte Äußerungen auseinander klaffen können. Die Bildhaftigkeit seiner verbalen Äußerungen bewegt sich, auch emotional, auf einer völlig anderen Ebene als seine mit Sorgfalt und Akribie komponierten Partituren. Im Zusammenhang mit der unmittelbaren Erscheinung seiner Musik, ihrer realen Klanglichkeit, haben die Titel seiner Stücke, die Metaphorik seiner Sprache, seine abfälligen Äußerungen zur musikalischen Analyse, sein oftmals pathetischer Impetus die Rezeption in eine Richtung gelenkt, die das sorgfältige Studium der Notentexte nicht unbedingt nahegelegt hat. Um so erfreulicher ist es, daß ein Buch des Schweizer Musikwissenschaftlers Dieter A. Nanz zur Orchestermusik von Varèse vorliegt, das keine Wünsche offenläßt, was die analytische Durchdringung der Musik betrifft und das sich dem Klischee der Nicht-Analysierbarkeit von Varèses Musik nicht beugt.
Um es vorweg zu sagen: Bequem kann man es sich mit diesem fast sechshundert Seiten starken Buch und seinem Sujet nicht mehr einrichten, hier sind Mitarbeit und Mitdenken gefragt. Um von den herausragenden analytischen Leistungen dieser Arbeit in Gänze zu profitieren, ist es für den Leser unabdingbar, die Schritte selbst mit Hilfe der Partituren mitzuvollziehen. Darüber hinaus sollte Varèses Musik schon vom Hören her möglichst vertraut sein, eine Forderung, die sich angesichts der akribischen Arbeit, die das Studium dieses Buchs bedeutet, allerdings wohl von selbst versteht.

Das sollte nicht mißverstanden werden: Nanz widmet sich nicht ausschließlich der Analyse. Das kompositorische Detail ist lediglich immer wieder der Ausgangspunkt und wird auf verschiedenen Stufen der Abstraktion und Verallgemeinerung unterzogen. Diese Vorgänge sind sehr bewußt und klar nachvollziehbar gestaltet. Vielfach folgt auf die Detailanalysen ein zusammenfassender Kommentar, der die Relevanz des Gezeigten noch einmal in übergeordnete kompositorische oder musiksprachliche Zusammenhänge stellt. Darüber hinaus schließen viele solcher Kommentare mit einer Liste vergleichbarer Stellen, die dem Leser eine Orientierung für das eigene Studium an die Hand geben. Zusammenfassende Übersichten am Ende größerer Abschnitte stellen die jeweilige Thematik in größere Kontexte und formulieren Rückschlüsse auf die Arbeitsweise oder – noch weitergehend – auf das Denken des Komponisten. Der Leser bewegt sich also andauernd auf verschiedenen Ebenen der Beziehung zum Analysegegenstand, verändert quasi permanent seine Distanz zum betrachteten Objekt. Vom Ansatz her ist dieses Verfahren trotz des rigorosen Anspruchs also durchaus auch vom Leser her gedacht, für den sich im Nachvollzug so etwas wie ein eigener Rhythmus von Nähe und Ferne, Betrachtung und Reflexion einstellt. Daß es hierbei angesichts der Fülle des gebotenen Materials auch zu Überschneidungen von Ergebnissen und Erkenntnissen, die aus der Analyse gezogen werden konnten, kommt, liegt in der Natur der Sache.
Auch die Gesamtanlage des Buchs ist sehr durchdacht. Im Zentrum steht Varèses »Amériques«, sozusagen sein opus I, das er nach der Übersiedlung nach Amerika komponiert hat. Dieses Werk eignet sich für die analytische Betrachtung nicht nur als Ausgangspunkt für die Darstellung der Entwicklung von Varèses Personalstil, es eröffnet auch den Blick auf die Beziehung zur Musik der Komponisten, auf die er sich mehr oder weniger explizit bezogen hat. Sehr aufschluß- und kenntnisreich führt Nanz dem Leser im Kapitel »Les Amériques et les Europes« vor, wie genau sich Varèse mit bestimmten Stücken von Schönberg, Strauss, Debussy und Strawinsky beschäftigt haben muß. Der Mythos des großen Einzelgängers, der die Musik vermeintlich komplett aus sich selbst heraus geschaffen hat, wird hier gründlich in Frage gestellt.
Nebenbei bemerkt: Nanz scheut sich keineswegs, zu vermeintlichen Schwächen in anderen Analysen oder auch in der Musik von Varèse – vor allem in seinen Frühwerken – Stellung zu beziehen. Der aufklärerische Impetus der Entmythologisierung zugunsten der Genauigkeit im Umgang mit dem Notentext durchzieht das ganze Buch.
Von der Analyse von »Amériques« her wird dann diejenige von »Arcana« und von »Déserts«, nicht minder detailliert und jeweils als Beispiel für den voll entwickelten Personalstil und das Spätwerk, angegangen. Wie im ganzen Buch werden auch hier die Ergebnisse aus der Analyse auf zentrale Begriffe des Komponierens und der Ästhetik – Dauer, Kontrast, Formalisierung, Expression und vielem anderen – bezogen. Der Blick auf die Entwicklungslinien im Œuvre von Varèse geht dabei genausowenig jemals verloren wie die Erwägung potentieller Beziehungen zu Denken, Werk und Ästhetik anderer Komponisten.
Eine große Stärke des Buchs, auch im Vergleich mit bisher vorliegenden Arbeiten, ist das akribische Studium der Quellen aus dem Nachlaß und der Manuskripte. Das reicht vom detaillierten Vergleich der beiden Fassungen von »Amériques«, der bedeutende Aufschlüsse über die Entwicklung von Varèses Denken gibt, bis hin zur Erörterung von Fragen zum Gebrauch bestimmter Papiersorten und Tintenfarben, die für mögliche Erkenntnisse zum Œuvre und zur Arbeitsweise von Varèse nutzbar gemacht werden könnten. Alle diese Forschungsergebnisse werden letztlich nachvollziehbar auf die Musik selbst bezogen. Auch hier wird dem Werk die Priorität vor der Person des Komponisten eingeräumt.
Nanz’ Buch entspricht in allen Fragen – Zitattechnik, Literaturverweise, et cetera – dem wissenschaftlichen Standard. Ein wenig schade für ein Buch solchen Niveaus sind lediglich die relativ zahlreichen Druckfehler, die sichtbar durch die Arbeit mit dem Computer bedingt sind. Auch wäre zu überlegen, ob die zahlreichen, sehr aufschlußreichen Zitate im englischen und französischen Original wirklich alle unübersetzt bleiben sollten. Unüberwindbar ist eine solche Hürde für Leser, die diese Sprachen nicht fließend beherrschen, wohl nicht, aber immerhin möglicherweise eine Einschränkung. Auch hätte man sich zur Person von Dieter A. Nanz ein paar mehr Anmerkungen und Informationen als nur den Namen und die Nationalität gewünscht.
Angesichts der spärlichen analytisch orientierten wissenschaftlichen Literatur zum Œuvre von Varèse wäre es sehr verkürzt formuliert, wenn man sagen würde, Nanz’ Buch schließe eine Lücke. Mittels geduldiger Arbeit wird hier mit Klischees und Mythen aufgeräumt, die sich, auch im Rahmen der wissenschaftlichen Literatur, um die Musik und Person des Komponisten gebildet haben. Sowohl vom Umfang und der Vollständigkeit her als auch von der Erkenntnistiefe hat Nanz hier ein Buch in den Raum gestellt, das nachhaltig Maßstäbe in der Varèse-Forschung setzt und setzen wird.
Andreas Fervers in »MusikTexte«, Nr. 103 (2004)

 

Die Untersuchungen von Dieter A. Nanz betreffen drei Orchesterwerke aus verschiedenen Lebensphasen. Nanz setzt sich nicht das Ziel nach übergreifenden personalstilistischen Gesichtspunkten zu suchen. Seine Analysen folgen unterschiedlichen Aspekten, um den Weg eines Komponisten bis zum Spätwerk nachzuzeichnen. Abhängigkeiten werden aufzuweisen versucht.
Einige davon sind bekannt (Mahler, Strauss, Debussy, Strawinsky). Skeptisch darf man gegenüber der Suggestion sein, Varèses Idee einer spatialen Musik sei von Schönberg abhängig und speziell auf dessen Vorlesung von 1935 zu beziehen. Dazu sind die Vorstellungen beider Komponisten zu verschieden. Auch wurde immerhin seit 1888 allgemein in der Musiktheorie ein musikalischer Raum diskutiert.
Das Buch hat vor anderen Publikationen den Vorzug, daß der Hüter des Nachlasses von Varèse Einblick in einige Quellen gewährte. Vor allem bezüglich der Komposition von Déserts ergeben sich dadurch neue Einblicke. Aus solcher Gunst jedoch zu schließen, daß nicht sehr viel weiteres Material vorhanden sei, ist vielleicht etwas zu vertrauensselig. Es tauchen immer wieder neue Quellen auf (z.B. vor kurzem Dance for Burgess, und zwar entgegen allen Behauptungen in der Handschrift von Varèse, auch mit deutschen Eintragungen). Der Nachlaßhüter hat für eine Ausstellung außerdem die erste Seite der Etüde pour Espace ausgeliehen. Besitzt er das ganze Werk? Und warum sollte es »unwahrscheinlich« sein, daß der von Louise Varèse angefertigte zweite Teil der Biographie nicht auffindbar sein wird? Daß Quellen nur bröckchenweise zum Vorschein kommen, trägt zu einer Mystifizierung eines Komponisten bei, über den man gern größere Klarheit besitzen möchte; Nanz kommt das Verdienst zu, etwas zu solcher beizutragen.
Helga de la Motte-Haber in »Österreichische Musikzeitschrift«, Nr. 5/2004

 

Obschon seit dem Tod von Edgar Varèse fast vierzig Jahre vergangen sind, steht bis heute kaum eine ausführliche Studie zur Verfügung, die dem komplexen und schwer zugänglichen Werk gerecht würde. Erschwerend kam hinzu, daß der Varèse-Nachlaß bisher nicht zugänglich gewesen ist. Dieter A. Nanz stellt nun zum ersten Mal umfangreiches Quellenmaterial aus dem Nachlaß des Komponisten vor. Es ist daher verständlich, daß der Autor keine umfassende Aufar­beitung des Quellenmaterials leisten konnte. Eine solche Arbeit – das gibt er freimütig zu – steht noch aus, wenngleich auch nach der Öffnung des Varèse-Archivs für die Öffentlichkeit die Arbeit an den Primärquellen nicht den Schwerpunkt der Forschung ausmachen wird, da Varèse nur in wenigen Fällen umfassendes Skizzen­material hinterlassen hat. Außerdem (dies hat Nanz ebenfalls zu Recht bemerkt) ist für einen analytischen und letztlich auch hermeneutischen Zugang das Werk in seiner Endgestalt maßgebend.
Der Schwerpunkt von Nanz' umfangreicher und ausführlich dokumentierter Monographie liegt auf der Analyse der musikalischen Werke, genauer von drei Orchesterwerken, die Nanz je drei Stilperioden zuordnet: der Frühstil in Amériques (Frühfassung von 1919–1921), der Personalstil in Arcana (1925–1927) und der Spätstil in Déserts (1949). Biographische und werkgeschichtliche Angaben beschränken sich auf die mit der Analyse unmittelbar zusammenhängenden Fragen.
Die Studie zeigt deutlich, daß Varèses Musik keinesfalls aus dem Nichts entstanden ist, sondern in verschiedener Weise auf Vorgänger verweist. In Amériques wird vor allem der Einfluß von Schönbergs atonaler Phase in erstaunlichem Ausmaß deutlich – Nanz ist der erste, der darauf mit Nachdruck hingewiesen hat. Bereits in Varèses Frühphase wird deutlich, wie der Komponist den Begriff der »Neuheit« neu definiert: Es geht ihm nicht um die Originalität des Einfalls (daher die Nicht-Unterscheidung zwischen Eigenem und Zitat), sondern um den Prozeß der Transformation. Die im Laufe seines Schaffens erfolgten stilistischen Veränderun­gen, die Nanz differenziert aufzeigt, widerlegen ein weiteres Vorurteil, daß Varèses Werk sich gewissermaßen vom ersten bis zum letzten Werk stets unverändert selbst reproduziert. So führt der Autor den durch Kohärenz und Stilisierung geprägten Personalstil der dreißiger und vierziger Jahre vor und hebt ihn vom Spätstil ab, der zwar eine Weiterentwicklung, ja geradezu Perfektionierung früherer Tendenzen darstellt, gleichzeitig aber durch die Homogenität der Textur eine unverwechselbare Eigenheit aufweist.
Der Schweizer Dieter A. Nanz erweist sich als ein versierter Musikwissenschaftler zwischen deutschen und französischen musikwissenschaftlichen Traditionen – was eher selten anzutreffen ist. Der Autor scheint mit den strukturalistischen und semiotischen Schriften eines Lévy-Strauss oder Jean-Jacques Nattiez ebenso vertraut wie mit der historisch-philosophischen bzw. soziologischen deutschen Tradition. Der breite Hintergrund und die methodische Offenheit des Autors machen denn das Buch zu einem unentbehrlichen Werk für jeden, der sich zukünftig mit dem komplexen Œuvre von Varèse auseinandersetzen will.
Ein Fragezeichen ist allenfalls zum Begriff der »analyse neutre«, die Nanz für seine Arbeit beansprucht, zu setzen. Eine solche »neutrale Analyse« geht von der Observation des Werkes aus und schließt deren Formalisierung auf technischer Ebene von vornherein aus. Hier ist zu fragen, wie Analyse ohne die Wahl vorgängig definierter Parameter überhaupt möglich sein soll. Nanz selber – entgegen seiner Neutralitätserklärung – muß Verstehensparameter setzen, um von der reinen Heuristik wegzukommen.
Beat A. Föllmi in »Die Tonkunst. Das monatliche Online-Magazin für Klassische Musik«, Nr. 4/2004
(
http://www.die-tonkunst.de/dtk-0404/Neuerscheinungen/ind.html)

 

Edgard Varèse hat das kompositorische Denken revolutioniert wie nur wenige seiner Zeitgenossen. Das ist erstaunlich, denn sein lediglich einige wenige Werke umfassendes Œuvre läßt seine grundlegend neuen Vorstellungen einer modernen Musiksprache nur ansatzweise erkennen. Vieles blieb im Stadium der Idee und wurde nie realisiert.
Obwohl Varèse bis heute der Ruf vorauseilt, einer der wichtigsten Vertreter der Avantgarde zu sein, ist sein schmales Œuvre kaum wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Das liegt nicht nur an der schwierigen Quellenlage – Varèse hat die Skizzen zu den meisten seiner Kompositionen zu Lebzeiten vernichtet –, sondern auch am Verhalten der Erben, die eine umfassende Auswertung des vorhandenen Materials noch immer behindern. Das hatte Folgen: Im Zusammenhang mit der Selbststilisierung des Komponisten entstanden in der Fachliteratur zahlreiche Mythen, die Leben und Schaffen gleichermaßen betreffen. Dazu gehört etwa die These, daß sich die Komplexität seiner Arbeiten traditionellen Analysemethoden entzieht.
Mit diesem Vorurteil räumt Dieter Nanz, der als erster einen Großteil des Quellenmaterials einsehen konnte, in seiner informativen Studie über die Orchesterwerke gründlich auf. Er zeigt, welche Anregungen Varèse Komponisten wie Claude Debussy, Richard Strauß, Arnold Schönberg oder Igor Strawinsky verdankt, deren Werke er in Amériques und Arcana zum Teil sogar zitiert. Nanz belegt, daß sich der musikalischen Sprache Varèses, der häufig mit ganz einfachen Modellen arbeitet, sehr wohl mit den traditionellen analytischen Verfahren beikommen läßt. Die Schwierigkeiten rühren eher daher, daß der Komponist eine Abneigung vor geschlossenen Systemen hatte und so die einzelnen Modelle in einem mühsamen Prozeß aus einem äußerst vielschichtigen Satz heraus destilliert werden müssen. Dies gelingt Nanz dank detailliertester Partiturkenntnis.
Daß sich der Autor auf nur drei Werke, Amériques, Arcana und Déserts, konzentriert, hat Vor- und Nachteile. Zum einen erschwert es einen Überblick über die gesamte stilistische Entwicklung des Komponisten, entstanden doch die beiden ersten Werke kurz hintereinander, während Déserts erst mehr als zwanzig Jahre später vollendet wurde. Andererseits bietet die Konzentration auf die orchestralen Arbeiten bessere Möglichkeiten vergleichender Studien. So scheint vor allem Nanz' These interessant, Varèse habe in Amériques mit thematischen Gestalten operiert, in Arcana lediglich noch mit Themenköpfen, während sich Déserts durch athematisches Komponieren auszeichne und zur Aufhebung einer musikalisch absichtsvollen Gestaltung des Zeitverlaufs tendiere. Insgesamt, so der Autor, »entwickelt sich Varèses Stil von der Maxime größtmöglichen Kontrasts zu jener der kleinstmöglichen Nuance«. Nanz belegt seine Thesen mit ausführlichen analytischen Betrachtungen zu diesen drei Werken, die in ihrer Klarheit nicht nur gut zu lesen sind, sondern darüber hinaus zeigen, daß Varèse seine Musik keineswegs, wie in der Fachliteratur häufig zu lesen ist, aus dem Nichts erfunden habe. Nanz ist ein detailreiches und gut geschriebenes Buch gelungen, das der Varèse-Forschung neue Impulse verleiht und an dem niemand vorbeikommen wird, der sich näher mit dem Komponisten beschäftigen möchte.
Martin Demmler in »neue zeitschrift für musik«, Heft 5 (September/Oktober) 2003, S. 76