Barbara Metselaar Berthold

Albatros

Vom Abheben. Fotografien 1971–2010

 

 

Bilder, die sie nicht mehr sehen wollte
Was machen der Mann im kurzen Mantel und sein Kind wohl heute? Das fragt man sich, wenn man ihn so am Zaun lehnen sieht, Zeitung lesend, neben sich den schwarzen Kinderwagen mit weißer Decke und hochgeklapptem Verdeck, fast zu adrett und aufgeräumt. »Wer jung ist, liest die Junge Welt« steht es groß im Hintergrund zu lesen. Die Reklame-Buchstaben ragen aus der abblätternden Fassade der fensterlosen Hauswand. Lautlos, melancholisch, eine triste Stille liegt hier über einem Alltag, in den schon die nächste Generation hineinwächst. Dem Alltag damals, 1983 in der Friedrichstraße, fast menschenleer und im Einheitsgrau der geteilten Stadt Berlin.
Wie Mitteilungen aus einer fremden Vorzeit wirken die Schwarzweißfotos von Barbara Metselaar Berthold heute. Die Frisuren, die Mäntel, das im Gegenlicht glänzende Buckelpflaster, die Autos verloren zwischen Brachen, die Hausfassaden mit Einschusslöchern aus dem Krieg, in deren bröselnden Kuhlen sich der Ruß der DDR-Kohleheizungen ablagerte und verkrustete wie das System selbst.
In Farbe dagegen, aber nicht viel bunter, hängt unter dem Foto von 1983 ein Bild als Diptychon, das ebenfalls einen Kinderwagen zeigt: Sein Verdeck ist himmelblau, die Eltern jung. Die Frau trägt Kopftuch, der schwarzhaarige Mann Sonnenbrille, er blickt direkt in die Kamera. Menschen mit Migrationshintergrund. Ihr Kind schieben sie über die Spree-Promenade, gleich um die Ecke von der Friedrichstraße. Alltag heute, 2010.
Die Fotografin Metselaar Berthold hat die Mitte Berlins in den 80er Jahren von beiden Seiten erlebt. Was auf ihren Bildern nur wenige Schritte voneinander entfernt ist, lag und liegt Zeiten und Welten auseinander. Und jedes Motiv ist nur eine Momentaufnahme, eine von 45 verschiedenen Ansichten als Doppelbilder in der Ausstellung »Filetstücke – Vexierbilder Berlin Mitte«, die das Stadtmuseum im Ephraim-Palais im Europäischen Monat der Fotografie zeigt.
Es ehrt damit die Preisträgerin für künstlerische Fotografie des Senats. Metselaar Berthold hat für dieses Projekt viele jener Orte in Mitte und Prenzlauer Berg noch einmal aufgesucht, die sie vor über dreißig Jahren mit der Kamera in »symbiotischer Beziehung« durchstreunt, aufgenommen, dabei mehr im Sinne von filetiert, und offengelegt hat. Es ist die Lebenswelt im Osten, es sind Menschen, die keine Karrieren zu verlieren hatten, die warteten oder auch randständige Existenzen. Und da ist das Vorwende-Westberlin, wo etwa die Händlerbuden sich auf den matschigen Brachen an der Mauer breit machten.
Die Bilderpaare ziehen sich wie ein Reigen voller zufälliger und beiläufiger Geschichten durch die drei Museumsräume: Die oberen Fotos jeweils in Schwarzweiß, entstanden vor 1989 im Osten, manche schon im Westen. Die unteren, farbig, zeigen die Aufnahmen von 2010. Die Orte ähneln sich, sind aber nicht identisch. Das macht den besonderen Reiz aus, und das fordert auf zum genauen Betrachten, welche Beziehung die Fotografin mit ihren Blicken von damals zu den Lebenswelten von heute herstellt: der Alexanderplatz, das Reichstagsviertel mit den weißen Gedenk-Kreuzen am Grenzzaun, vor 1989 und heute. Das zertrümmerte Tacheles in der Oranienburgerstraße 1978, ein Niemandsort – und als kreativer Kunstort 2010. Wie zufällig legen sie zugleich Zeugnis ab von der Gentrifizierung der Stadt, von der Veränderung der Lebenswelt mit ihren Freiräumen hin zu Kommerzialisierung als Kulisse und Event, ihrer Einengung durch Zäune und Absperrgitter heute.
Die alten Fotos spiegeln noch eine Sehnsucht, die sich niederschlug in den immer weniger selbstbestimmten Lebensentwürfen der DDR, mit Patina überzogen, zwischen unverputzten Mauern und Nischen. Randzonen zu beiden Seiten der Systemgrenze, des Mauerstreifens, der als tiefe Wunde in Berlins Mitte klaffte.
Direkt an die Mauer ist Metselaar Berthold mit der Kamera dennoch nicht gegangen, als sie ab 1976 acht Jahre lang im Prenzlauer Berg nur hundert Meter von der Grenze entfernt wohnte. Denn das hätte Ausweiskontrolle und Filmabgabe bedeutet. Sie zog es mehr in die Kleine-Leute-Gegenden um das Scheunen-Viertel und den Alexanderplatz. Dort schoss sie Bilder von der Umgebung, die sie »nicht mehr sehen wollte«. Im Schatten der Mauer, diesem Trauma, wuchs ihr Widerstand. Mit Gleichgesinnten baute sie sich eine Gegenwirklichkeit zu den offiziellen Propagandabildern. »Hassbilder« nennt sie sie heute, entstanden aus Wut und Zorn im Klima jener grauen Ostseite von Tristesse und Sprachlosigkeit.
Dieser Hass hatte sich sukzessive angestaut. Geboren ist Barbara Berthold 1951 im sächsischen Pleißa, ab 1971 studierte sie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Fotografie und wurde bereits in ihrem ersten Studienjahr bespitzelt. Und die künstlerischen Einflüsse? Sie könne sich allenfalls an handwerklich-technische Unterweisungen erinnern. Bei Arno Fischer, er war damals ab und zu Gastdozent, eine feste Stelle bekam er an der Hochschule erst 1983. Da war die junge Fotografin längst in Berlin, unterwegs in einer Szene, die sich in der verkrusteten Gesellschaft ihre Gegenwelt schaffte.
Bis 1984 gelang ihr das immer weniger. Sie heiratete in den Westen. In Westberlin hat sie weiter ihre Kamera »draufgehalten«. Bis auch das nicht mehr funktionierte. »Es war eine Zeit von Verwirrung, weil ich plötzlich überall mit Fotos überschüttet wurde, alles war visuell.« Die Verwirrung hat sie bald überwunden. Und längst ist sie mit ihrem direkten, filetierenden Blick zur wichtigen Chronistin geworden.
Stadtmuseum im Ephraim-Palais, Poststraße 16 (Mitte). Bis 27. März 2011,Do – Di 10–18 Uhr, Mi 12–20 Uhr, Mo geschlossen. Es erschien ein Katalog.

Irmgard Berner, in: Berliner Zeitung 16.11.2010