Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,

im vergangenen Winter waren meine Frau und ich gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar drei Wochen lang in Costa Rica. Für einen Verleger kulturgeschichtlicher Bücher vielleicht kein naheliegendes Urlaubsziel, vermochte uns dieses kleine ferne Land wegen seiner äußerst vielfältigen, üppigen tropischen Fauna und Flora doch in den Bann zu ziehen. Dort drüben hinterm Atlantik und knapp überm Äquator haben die Menschen natürlich auch ihre Probleme, darunter Erdbeben, arme Einwanderer aus Nicaragua, von nordamerikanischen Konzernen dominierte Monokulturen, aber Touristen aus Europa wie wir blenden solche Aspekte ja mehr oder weniger aus und genießen die Abwesenheit dessen, was uns daheim umtreibt. Gern möchte man sich einreden, man sei im Paradies, da man im Februar unter Palmen am Strand spazieren kann und weil das syrische Drama hier tatsächlich keine Rolle spielt und weil weder an der atlantischen noch der pazifischen Küste Boote voll von nordafrikanischen Flüchtlingen zu erwarten sind.

Wenige Tage vor Weihnachten feiert alljährlich mein guter Freund und wichtiger Autor Dirk Schumann seinen Geburtstag. Unter den Gästen sind in der Regel weitere Autoren des Lukas Verlags, was mir eine gerne genutzte Bühne bietet, über die Schwierigkeiten des Berufs und überhaupt des Niedergangs der Branche zu lamentieren. Und natürlich hatte ich angesichts des gerade erst überstandenen Dramas um die furchtbaren Rückzahlungen an die VG Wort und die VG Bild-Kunst hinreichend Anlass und Stoff zur Klage. Denn ohne die massive Unterstützung meiner Frau, die dazu Rücklagen zu ihrer beziehungsweise unserer Altersvorsorge opferte, hätten ich die fällig gewordenen 35.000 Euro niemals begleichen können, das heißt, mein kleines Unternehmen wäre ohne sie nach gut zwanzig Jahren vermutlich endgültig am Ende gewesen, zumal auch die Umsätze in 2016 eher unerfreulich ausfielen und mich allein schon die Gehälter für das dreiköpfige Dream-Team aus Jörg Hopfgarten, Alexander Dowe und meiner eigenen Person meist überfordern.

Wie ich also auf der Party munter am Schimpfen und Jammern war, bemerkte jemand aus der Runde mit trockener Ironie, dass die Lage ja so dramatisch nicht sein könne, wenn immerhin ein Urlaub nach Costa Rica noch drin sei. Dieser Einwand war ein Wirkungstreffer. Denn er verdeutlicht ganz grundsätzlich die Widersprüchlichkeit der Lage und mehr noch ihrer Wahrnehmung: Die Dinge ums uns herum sind einerseits schwieriger als zuvor geworden und drohen scheinbar aus dem Ruder zu laufen und bieten jedenfalls Anlass zu Sorge, doch andererseits leben wir weiterhin auf einer enorm gepolsterten, abgesicherten Insel der Glückseligen, in der uns die Katastrophen der Welt in aller Regel nur als Schlagzeilen ereilen.

Sich einzugestehen, dass die eigenen Probleme in Wahrheit meistens nur marginal und peripher sind, ist freilich unpopulär. Das Jahr 2016 war geprägt von einer großen Verunsicherung, von Misstrauen und Zwist, von Selbstmitleid und Vorurteilen. Die Bewertungen der politischen und wirtschaftlichen Lage des Landes und der eigenen Person driften auch unter meinen Freunden und Bekannten zunehmend auseinander. Im Sommer und Herbst 1989 zum Beispiel diskutierten wir ärgstenfalls darüber, ob es besser sei, endlich in den Westen zu gehen oder im Lande selbst sich für Veränderungen einzusetzen; der Gegner und die Ideale schienen indes eindeutig und verbindend. Heute dagegen bin ich sowohl Menschen verbunden, die beispielsweise eine islamische Überfremdung Deutschlands fürchten oder mit Alexander Gauland befreundet sind oder die russische Okkupation der Krim für rechtens halten, als auch solchen, die von einem sozialistischen Umsturz der kapitalistischen Verhältnisse träumen oder den linksalternativen Scharmützeln der alten Bundesrepublik nachhängen. Gemeinsam ist ihnen die Verachtung des im historischen und weltweiten Vergleich nach wie vor sehr komfortablen Status Quo hierzulande und ein Geschimpfe über Angela Merkel. Mit solchen Positionen kann ich nichts, aber auch gar nichts anfangen. Politische Diskussionen drohen neuerdings spätestens nach einer Flasche Rotwein aus dem Ruder zu laufen und Freundschaften zu zerbrechen. Es wird mir schwerfallen, aber für 2017 habe ich mir vorgenommen, bestimmte Bewertungen und Meinungen, die so ganz verschieden sind von meinen eigenen, zumindest im Freundeskreis einigermaßen auszuhalten. Denn wie soll eine Gesellschaft nicht auseinanderbrechen, wenn dies sogar im Privaten geschieht?

Das Programm und das Selbstverständnis des Lukas Verlag sind einerseits geprägt von programmatischer Kontinuität, von Beharren auf dem, was ich unverändert für richtig und vernünftig erachte und insofern dem Zeitgeist, dem Aktuellen eher fremd entgegensteht. So werden wir gewiss auch in Zukunft immer wieder Bücher veröffentlichen, die sich mit den Opfern, Gegnern und Tätern des Nationalsozialismus befassen – und zwar im vollen Bewusstsein dessen, dass neulich ein einschlägig engagierter Buchhändler frustriert resümierte, das Thema würde kaum noch jemanden interessieren und er die einst dafür vorgesehenen Regale immer weniger bestücken. Andererseits halte ich es nicht nur für ein Anzeichen nach wie vor vorhandener eigener Wachheit, sondern auch für eine paradoxe Grundbedingung wirtschaftlichen Überlebens, fortwährend offen zu sein für Autoren und Themen, die eben nicht dem Angesagten, sondern eher dem Speziellen, dem Partikularen oder dem Regionalen folgen. Im vergangenen Jahr erschien zum Beispiel eine zweifellos launige, dabei äußerst kenntnisreiche Publikation des österreichischen Bildwissenschaftlers Franz Reitinger zum Phänomen der reduktiven bzw. blauen Farbigkeit in der Kunst des Rokoko – ich halte dessen Studie für allemal origineller und wichtiger als – zum Beispiel – jede weitere Untersuchung des Rembrandt’schen Spätwerks oder der Bauhaus-Architektur. Und schon jetzt freue ich mich sehr auf eine fundamentale wissenschaftliche Biographie von Otto Weidt, der in seiner Blindenwerkstatt in Berlin-Mitte Juden das Überleben ermöglichte, gleichermaßen auf ein Werkverzeichnis des bedeutenden Graphikers Arno Mohr und schließlich auf einen Aufsatzband »Johann Tetzel und der Ablass« (einer unter mehreren unserer Beiträge zum Reformationsjubiläum).

Das vergangene Jahr war, wie gesagt, ein ausgesprochen schwieriges, und das nicht allein wegen der erwähnten Zahlungen an die beiden Verwertungsgesellschaften, und das nicht nur für uns. Von ein paar anderen Verlagen weiß ich zuverlässig, dass sie mindestens genauso schwer, und das heißt: wirklich existentiell, davon betroffen sind wie wir. (Und wen es interessiert: Nein, die jüngst in der Presse kommunizierten diesbezüglichen Anstrengungen des Gesetzgebers, wonach grundsätzlich doch eine Verlegerbeteiligung an den VG-Ausschüttungen möglich sei, sofern die einzelnen Autoren bereit sind, auf ihren Anteil generös zu verzichten, mildern das Drama nicht im Mindesten und sind nichts als praxisferne Augenwischerei.) – Verlagen wie dem meinigen droht obendrein weiteres Ungemach: die Einführung einer sogenannten Bildungs- und Wissenschaftsschranke. Mir war auch nicht gleich klar, was damit gemeint ist und was dies für uns bedeutet, aber jetzt weiß ich es: Bücher, die dem Unterricht und der Forschung dienen, sollen künftig in den Bibliotheken frei kopierbar sein. Damit dürfte sich das seit Jahren ohnehin stark rückläufige Bibliotheksgeschäft völlig erledigt haben. Mit der Folge: noch geringere Auflagen, noch höhere Druckkostenzuschüsse, noch höhere Ladenpreise.

Aber genug der Jammerei (den Rest spare ich mir dann für den Jahresrundbrief 2017/18 auf); ich komme wie üblich zu den wichtigsten meiner letztjährigen Kulturerlebnisse. In literarischer Hinsicht war dies eindeutig der Roman »Unterleuten« von Juli Zeh. Wie nie zuvor freuten sich meine Frau und ich auf lange Autofahrten, so sehr tauchten wir beim Hören der achtzehnstündigen Lesung von Helene Grass ein in den Kosmos eines fiktiven, dabei aber doch realitätsnahen Dorfes in der Ostprignitz, wo wie unter einer Lupe alle Zwistigkeiten und Schäbigkeiten, alle geplatzten Träume und deren hilflose Begründungen von etwa zwei Dutzend Hauptpersonen seziert werden. Zwei Dutzend Wahrheiten, zwei Dutzend Lebenslügen, zwei Dutzend Kämpfe ergeben ein schlüssig und klug komponiertes, spannend erzähltes, brillant geschriebenes Gesellschaftspanorama der deutschen Gegenwart!

Ebenso euphorisch und eindeutig fällt mein Urteil aus, was das Kino betrifft: Hier reichte nichts an »Toni Erdmann« heran. Maren Ade bebildert in poetischen, anrührenden, verblüffenden Situationen und Wendungen die Fremdheit und das Zueinanderfinden eines hilflos zauseligen Vaters (Peter Simonischek) und seiner straighten, unterkühlten Tochter (Sandra Hüller) – und damit auf nie platte Weise die Entfremdung der Menschen im heutigen Kapitalismus.

Während in »Toni Erdmann« um Nähe gerungen wird, ist sie in »Paterson« von Jim Jarmusch in geradezu idealer Weise fortwährend vorhanden. Den Busfahrer und lakonischen Poeten Paterson und seine rastlos kreative, schöne Frau Laura verbindet nichts als ihre Liebe, das heißt die unbedingte Achtung des Anderen im Anderen. Lange sah ich keinen so zärtlichen, warmherzigen, grundgütigen, dabei auch leise amüsanten Film.

Meine Favoriten Ryley Walker und Steve Gunn gaben 2016 im Abstand mehrerer Monate je zwei Konzerte in Berlin vor eher kleinem Publikum. Dabei verband sie nicht nur ihr musikalisches Bemühen um eine Synthese irgendwie aus Folk, Jazz, Hippietum, psychedelischem Gegniedel, brachialem Lärm und feiner Melodie, sondern auch, dass sie beide und ihre vorzüglichen Bands erst je einen wahrlich nicht schlechten, beim zweiten Mal indes ganz grandiosen Auftritt ablieferten. Eine Entdeckung war ferner der Gitarrist Duke Garwood beim faszinierenden Support-Act eines dann leider enttäuschend uninspirierten Mark Lanegan.

Dass die Platte des Jahres »You Want It Darker« heißt und von Leonard Cohen stammt, dürfte unstrittig sein. Ähnlich wie damals Johnny Cash hat er kurz vor seinem bereits geahnten, ja antizipierten Tod einen zum Niederknien großen Wurf abgeliefert. Cohen unterstrich damit auch, wie vollkommen berechtigt es ist, endlich mit der sinnlos gewordenen Unterscheidung angeblicher Hoch- und Populärkultur zu brechen, die selbst noch in manchen verständnislosen Reaktionen (zum Beispiel von Denis Scheck) auf Bob Dylans Nobelpreis sich kundtat. Jedem, der genug Herz und Verstand hat zu hören, sei Patti Smith’ unter die Haut gehender Stockholmer Vortrag von »A Hard Rain’s a-Gonna Fall« empfohlen, der auf Youtube leicht zu finden ist. Wer da immer noch nicht goutieren mag, dass etliche von Dylans Songs große Kunst sind, der hört und begreift überhaupt nichts, Punkt.

Für den Jahreswechsel und das ganze kommende Jahr wünsche ich allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, wie immer von Herzen viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit sowie intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!

Frank Böttcher