Mark Escherich

Städtische Selbstbilder und bauliche Repräsentation

Architektur und Städtebau in Erfurt 1918–1933

 

Das Bauhaus war ursprünglich wirklich der Name einer Ausbildungsstätte. Heute ist es ein festgeschriebener Stilbegriff der Architektur- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, und die mit dem Namen verbundene Erneuerungsbewe­gung in der Baukunst und im Bereich der angewandten Künste hat in Thüringen ihren Anfang genommen …
Überraschend jedoch, dass diese Bewegung in Thüringen kaum sichtbare Sach­zeugen hinterlassen zu haben scheint …
Der Architekt und Bauhistoriker Mark Escherich ist einer der führenden Köpfe in der Gruppe – Rainer Müller und Christian Misch gehören als Kunst­historiker und Denkmalpfleger dazu –, deren Engagement die Wiederentdeckung dieser Kulturschicht in Thüringen zu verdanken ist. Escherich hat in dem Buch, das aus seiner Dissertation an der Bauhaus-Universität unter der Mentor­schaft von Hermann Wirth hervorgegangen ist, die Methoden für die wissen­schaftliche Erforschung dieses architekturgeschichtlichen Materials grundgelegt. Obwohl die baukünstlerischen Bestrebungen des in Rede stehenden Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts im Rückblick wie die Merkmale einer kurzlebigen Episode an­muten, haben sie letztlich ein Jahrhundert in Atem gehalten. Mark Escherich legt dar: Es ging nicht nur um eine stilistisch neue Baukunst, die Historismus und Bodenständigkeit durch eine sachliche Architektursprache überwinden und welt­weit wirksam werden konnte, es ging um die gestalterische Selbstfindung von Städten, die ihre nach dem Ersten Weltkrieg gewonnene Autonomie mit einem bau­künstlerischen Erscheinungsbild zur Darstellung bringen wollten, das Befreiung von autoritären Bindungen signalisiert. Die Erscheinung ist in großen wie kleine­ren Städten Deutschlands zu beobachten, Mark Escherich macht sie an Architek­tur und Städtebau in Erfurt fest.
Er beginnt mit einem geschichtlichen Überblick und schließt die etwas dispara­ten, aber von der Öffentlichkeit als durchaus zusammengehörig angesehenen »Städtischen Selbstbilder« sogleich an: Erfurt als Blumen-, Luther- (?) und Dom­stadt. Der Wunsch, zur Hauptstadt der Region, Thüringens oder Mitteldeutsch­lands, auf jeden Fall aber eine moderne Großstadt zu werden, ist als Motivation zu spüren – sowohl mit einem Blick auf die Stadt als Metropole im Mittelalter als auch auf die wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in der Gegenwart. Die kommunalen Planungsvorgänge (Stadterweiterung, Siedlungs- und Wohnungs­bau, Bildung, Gesundheit, Sport, Unterhaltung und Erholung) nehmen einen großen Teil des Buches ein. Dazu gehört auch die Pflege der historischen Stadt, ihres Bildes und ihrer Substanz, wobei Escherich die Feststellung einer Inszenierung von Mittelalterlichkeit nicht unterdrücken kann, vielleicht aufgrund von Erfahrungen mit gegenwärtigen Praktiken von Rekonstruktion und Rück­bau. Der Exkurs »Zur Genese des Neuen Bauens in Erfurt« erklärt dann den Im­puls, den die avantgardistischen Aktivitäten im historischen Kontext Erfurts be­kommen haben …
Im Schlussabschnitt schlägt Mark Escherich Töne an, die nicht frei sind von Skepsis und Bedenken. Die Entfaltung Erfurts stand mit dem Konzept, Haupt­stadt der Region zu werden und ein Zentrum der Avantgarde zu sein, in Kon­kurrenz zum benachbarten Weimar, hatte aber wegen der dortigen »antimoder­nistischen« Entwicklung Chancen, ihrem Ziel nahezukommen. Nachteilig wirkte sich jedoch – nach Meinung des Autors – die bleibende Zugehörigkeit zu Preußen aus, sie sei die Ursache für ein Gefühl von Benachteiligung und Demütigung, und die Gegenwehr habe in der Schaffung von repräsentativen Selbstbildern mit den Mitteln moderner Kunst und Architektur unter Ausnutzung historischer wie gegenwärtiger Gegebenheiten bestanden. Escherich lenkt abschließend unter dem Aspekt »Hauptstadt« den Blick auf die Planung von »Stadthalle, Aus­stellunghallen und Stadion.« Er nennt die Anlage »ein beeindruckendes Forums­projekt«, »einen als würdig empfundenen Zukunftsentwurf der neuen Metro­pole
« …
Ernst Badstübner, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte, 7 (2012)

 

Erfurt visionär als amerikanisierte Wolkenkratzercity mit vierspuriger Magistrale, Flugplatz und Kraftwerk sowie Hochhäusern, die Werbung für American House, Kaugummi, die Technische Hochschule Erfurt und einen Wegweiser »Nach Erfurt Bad« tragen und mit Flugzeugen im Himmel konkurrieren – das blaue Frontispiz auf orangenem Grund illustriert in einer städtebaulichen Utopie von 1927, die Erfurt im Jahr 1955 darstellt, das Selbstbild der Stadt in Form eines comicisierten Feiningers. Am Horizont erst taucht die »erfordia turrita«, die turmreiche Metropole des Mittelalters auf, wobei die in Strahlenkränzen leuch­tenden Turmkugeln auch Assoziationen an die Frei­heitsstatue zulassen.
Der j
üngste, wieder leuchtend farbige, doch nunmehr in nahezu quadratischem Format erschienene Band der Erfurter Studien zur Kunst- und Baugeschichte »Städtische Selbstbilder und bauliche Repräsentation. Architektur und Städtebau in Erfurt 1918–1933« zeichnet die architektonische und städtebauliche Stadthistorio­graphie Erfurts in der Zeit der Weimarer Republik auf. Der Autor, Mark Escherich, legt damit nach zahlreichen Ver­öffentlichungen zur regionalen architektonischen Mo­derne seine 2008 an der Architekturfakultät der Bau­haus-Universität Weimar eingereichte Dissertation vor, die nicht zuletzt durch Anschaulichkeit mit großen, Ge­samtbauten abbildenden Aufnahmen, Stadtplänen so­wie Modell- und Entwurfsabbildungen besticht.
Mag zuerst der Titel
»Städtische Selbstbilder und bauliche Repräsentation« in Bezug auf Städtebau und Architektur irritieren, da nicht die Stadt selbst, sondern ihre Bewohner in Form verschiedener Interessen- und Lobbygruppen Bilder von Stadt oder Stadtbilder erschaffen, klärt der Autor diese Entscheidung auf. Er verwendet ein soziologisches Begriffspaar von Jochen Guckes und Gabriele Christmann, die »städtische Selbstbilder« als »weitgehend dauerhafte Denkfiguren« und »Kerne lokalen Wissensvorrats« bezüglich der Eigenschaften einer Stadt definieren, die »vom Wissen und Gefühl der Bewohner gegenüber ihrer Stadt« abhängig seien.
Die architektur-, Städtebau- und sozialgeschichtliche Darstellung Erfurts in der Weimarer Republik ist in elf Hauptkapitel gegliedert. Die Stadtbilder
»Kapitale«, »Mittelalterstadt«, »Blumen- und Gartenstadt« sowie »gesunde Wohnstadt« werden darin untersucht ebenso wie die Bauverwaltung, der Siedlungsbau, Altstadt­sanierung als Stadtbildpflege, Citybildung und Großstadtarchitektur. Der Kommune als Bauherrin von Sozialraum sind gleich drei eigenständige Kapitel gewidmet: Grünanlagen und Fürsorgebauten; Kinder-, Jugend- und Schulbauten; öffentliche Gebäude und das Sport- und Kulturforum im Löber Feld. Spannend ver­steht es der Autor seine Analysen der Bauten mit den politischen Verflechtungen von Staats-, Stadt- und Bau­interessen zu verbinden und die überraschende Vielfalt der Bauaufgaben – mit ihren Lösungen und auch mit ihrem Scheitern zwischen Tradition und Moderne – dar­zustellen. Dabei werden Kontinuitätslinien und die geschichtsverhaftete Identität der Stadt in facettenreichen Planungsprozessen deutlich.
Einf
ührend spannt Mark Escherich den Bogen von den Anfängen der Stadtentwicklung bis in die Zeit der Weimarer Republik. Entwicklungsgeschichtlich entstan­dene Strukturen, Ab- und Unabhängigkeiten der Stadt vom Mainzer Erzbistum bis zu Napoleon und Preußen, Wirtschaft und Politik, Handwerk und Industrie, das Selbstverständnis der Bürgerschaft und die städtische Verwaltung werden in Bezug auf städtebauliches Wachstum erklärt. Eckdaten wie die Klostergründungen im 12. und 13. Jahrhundert, die erste urkundliche Erwähnung der »universitas civium« 1234, der Status Reichsstadt im 15. Jahrhundert, Erfurt als »hauptstatt« Thüringens im 16. Jahrhundert und der kulturelle Auf­schwung durch Humanismus, Reformation und den Aufenthalt Martin Luthers in der Stadt konturieren diesen Zeitensprung.
Mit der preu
ßischen Herrschaft, die der Wiener Kongress 1815 bestätigte, wurde Erfurt Verwaltungssitz der neugeschaffenen Provinz Sachsen, verlor aber im gleichen Zug den Status als Universitätsstadt an die konkurrierende Schwester in Halle.
Die im gleichen Jahr 1815 getroffene Entscheidung, die seit dem 12. Jahrhundert bewehrte und milit
ärstrategisch günstig liegende Stadt zu einer »Festung ersten Ranges« auszubauen, brachte neben dem Festungswerk die Rayon-Bestimmungen. Sie verboten Neubauten in einem Bereich von 800 bis 1.300 Schritten vor den Befestigungsanlagen und schränkten damit die städtebauliche und die industrielle Entwick­lung ein. Im Umkehrzug brachte das kommunale Großprojekt »Stadtentfestigung« durch den 1880 begründeten Entfestigungsfond neben dem indus­triellen Aufschwung auch die notwendige Finanzierung einer modernen Infrastruktur.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs f
ührten die von den Arbeitern der Erfurter Rüstungs- und Metallbetriebe ausgehenden Revolten zur Novemberrevolution und zu dem entscheidenden Bedeutungsverlust der Stadt. Nicht das unruhige Erfurt, sondern Weimar wurde am 1. Mai 1920 die Hauptstadt des Landes Thüringen, Sitz der Nationalversammlung und Namenspatronin der demokratischen Republik zwischen den Weltkriegen. Auch aufgrund seines kulturellen Erbes zog Weimar im Städte-Ranking an Erfurt, das mühsam mit Magdeburg und Hal­le wetteiferte, vorbei.

Auch der wichtigsten Bauaufgabe in der ersten deutschen Demokratie, dem Wohnungsneubau, räumt der Autor viel Platz ein, um die städtebauliche Entwick­lung von der Gartenstadtkolonie der Vorkriegszeit bis zum Großstadtquartier umfassend darzustellen. Aus Mitteln des Hauszinssteuerfonds und städtischen Anlei­hen sowie durch verbilligte Baulandabgabe wurden bis 1929 in Erfurt fast 4.000 Wohnungen gefördert. Im Unterschied zu anderen Groß- und Mittelstädten Deutschlands stellt Mark Escherich für Erfurt fest, dass der Arbeiterwohnungsbau hier nicht von freigewerk­schaftlichen Baugenossenschaften, auch nicht von der deutschlandweit agierenden Deutschen Wohnungsfür­sorgegesellschaft für Arbeiter, Angestellte und Beamte (DEWOG) getragen wurde. Stattdessen dominierten wie in der Vorkriegszeit private Bauunternehmer und Archi­tekten. Erstaunlich ist der große Einfluss Hamburger Bauunternehmer, die mit dem so genannten »Ham­burger Block«, dem »Flensburger Block« und dem »Hansa-Block« das thüringische Stadtbild nicht nur mit nördlichen Bezeichnungen akzentuierten. Mit dem Lau­benganghaus des »Hamburger Blocks« hielt das avantgardistischste Wohn- und Architekturmodell seiner Zeit Einzug in die Stadt. Und es verwundert kaum, dass es ein ehemaliger Mitarbeiter des Hamburger Stadtbaurats Fritz Schumacher, Otto Jacobsen, war, der ebenso wie sein Hamburger Kollege Karl Schneider in Erfurt ein Experimentierfeld für neue siedlungsräumliche Konzepte sah. Neben den kommunalen und genossen­schaftlichen Bauunternehmungen thematisiert der Autor auch die sonst oft vernachlässigten Privatbauten, wie beispielsweise die der lokalen Baufirmen Carl Haddenbrock und Rudolph Walther: Sie errichteten mit staatli­cher Bauförderung innerhalb von vier Jahren fast 100 Einfamilienhäuser und 36 mehrgeschossige Mietshäu­ser.
Überzeugend sind Mark Escherichs gleichberech­tigte Analysen traditioneller und moderner Bauten, für die er außer Architekturzeitschriften historische Be­bauungspläne, Bauakten, Eingemeindungsbeschlüsse, Verwaltungsberichte und ähnliche Archivalien konsul­tierte. So untersucht er in dem Kapitel »Kommunale Fürsorgebauten« die beiden Altenheime der Stadt, das englisch beeinflusste »Große Hospital« und den städtischen Neubau von Theo Kellner und Felix H. Hinssen von 1929/30. Dieser Bau setzte nicht nur formal durch die konsequente Orientierung am Neuen Bauen, sondern auch inhaltlich durch die vorurteilslose Aufnah­me von konfessionslosen Frauen neue Maßstäbe. Seine Architekten waren die Protagonisten des Neuen Bauens in Erfurt und zeichneten für die neuen Bauaufgaben wie die Allgemeine Ortskrankenkasse in der Augustinerstraße, das Lehrlingsheim und das Wohnhaus für berufs­tätige Frauen verantwortlich.
Von den umfangreichen Ergebnissen des Buches k
önnen hier nur einige überblicksartig skizziert werden. Nur wenige Kritikpunkte sind erwähnenswert wie das vermisste Register, mit dessen Hilfe die Vielzahl von Per­sonen, Bauten, Projekte, Straßen und Plätze leichter zu finden wären. Auch die konsequent verwendeten Schwarz-Weiß-Aufnahmen hätten stellenweise durch aktuellere, vor allem als solche besser gekennzeichnete Bilder aufgelockert werden können. Inhaltlich wäre es wünschenswert, wenn die Vogelperspektive, die auf dem Umschlagbild der Flugverkehr versinnbildlicht, ihre Ergänzung in der noch ausstehenden Vorstellung des bodenständigen Erfurter Flughafens von 1925 finden würde. Damit könnte den bereits bestehenden Stadtbil­dern der Blumen-, Dom-, Luther- und Grünen Stadt noch das des verkehrstechnisch wegweisenden Flugwesens hinzugefügt werden, das damals wie heute Stadt-, Lan­des- und Territorialplanung miteinander verknüpft.
Mark Escherich er
öffnet mit diesem grundlegenden und jüngst mit dem Forschungspreis der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung aus­gezeichneten Buch einen kaum zu überschätzenden Wissensfundus über das Baugeschehen im Erfurt der Weimarer Republik, einer Stadt, der er selbst ein gestörtes »Selbstwertgefühl« bescheinigt. Hocherfreulich sind die unaufgeregte Argumentation und die stilistische Form, die das Buch zu einem Lesevergnügen und zu einer Entdeckungsreise durch einen spannenden Ausschnitt lokaler Stadtgeschichte geraten lassen.
Silke Dähmlow, in: kunsttexte.de, 4/2010