Klaus-Peter Möller
Der wahre E
Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache

 

Mit dem Wörterbuch der DDR-Soldatensprache wird die außergewöhnliche wie auch befremdlich wirkende Umgangssprache der Wehrpflichtigen in der DDR erschlossen. Der mit Sachkenntnis ausgestattete Autor versucht mit diesem Kompendium die Gedankenwelt der ehemaligen Soldaten und Offiziere sichtbar zu machen und verbindet damit einen hohen Wiedererkennungseffekt. Tatsächlich können sich die früheren Wehrdienstleistenden in dieser Aufzählung der Wörter, Begriffe und zum Teil vulgären Redewendungen wiederfinden, denn die damals benutzte Sprache spiegelt natürlich auch die alltäglichen Probleme und Konflikte und die sozialen Verhältnisse in der NVA bzw. in den Grenztruppen der DDR wider. Auf diese Weise kann veranschaulicht werden, in welchem Maße der Wehrdienst bzw. der militärische Dienst in der DDR überhaupt von Schikanen, Entwürdigungen, Heuchelei und Anpassung, von Gewalt und ohnmächtiger Wut, von freiwilliger Unterwerfung und rücksichtsloser Unterdrückung geprägt gewesen war. Das Wörterbuch entstand auf der Grundlage von Befragungen, Umfragen in Zeitungen, Zeitschriften, im Rundfunk und von persönlichen Unterlagen des Verfassers aus der Zeit des Armeedienstes. Hauptbestandteil ist das Glossar, in dem die Lexik der DDR-Soldatensprache erfaßt und knapp erklärt wird. Die Stichwörter enthalten Angaben zu den grammatikalischen Merkmalen, zur Bedeutung, zu Gebrauchsbesonderheiten und typische Beispiele. In die Soldatensprache im weitesten Sinne bezieht der Autor sowohl den inoffiziellen Sprachgebrauch der Soldaten als auch die militärische Fachsprache und die inoffizielle Sondersprache der Vorgesetzten mit ein. Im Anhang werden Lieder, Sprüche, Witze und Dokumente präsentiert, die einen anschaulichen Einblick in die eigentümlichen Lebenswelten der Soldaten und Offiziere bieten. Der unbestrittene Vorzug dieses Kompendiums besteht in dem Umstand, die Absurdität der damaligen Mikrowelt "Armee" plastisch gemacht zu haben. Das betrifft die damaligen offiziellen wie auch inoffiziellen Hierarchie- und Unterdrückungssysteme, die damit im Zusammenhang stehenden Handlungen (Bräuche, Rituale) und die daraus resultierenden sprachlichen Erscheinungen. Ob damit jedoch, wie das der Autor selbst formulierte, schon die Voraussetzungen für vergleichende militärhistorische und philologische Forschungen geschaffen worden sind, darf bezweifelt werden.
Andreas Malycha (Berlin), in: Deutschland Archiv - Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 35. Jahrgang, 6/2002, S. 1089/1090

»Der wahre E« – so heißt ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache, fleißig kompiliert von Klaus-Peter Möller. Daß er zwischen Soldatensprache, Offizierssprache und allgemeiner Militärsprache unterscheidet, weist ihn als Mann mit ernsten Absichten aus. Was schon wieder komisch wirkt, denn mit den Mitteln des Wörterbuchs ist das schillernde Register von Bedeutungsnuancen und Konnotationen zahlreicher Lexeme, die je nach Situation auf unterschiedliche Weise verwendet werden konnten, nur schwer darstellbar. Und gewiß gehört auch ein hoher Grad Verbissenheit dazu, Tausende Synonyme für den Begriff Nichtstun (»Abdul anbeten«, »Radkästen anwärmen«) zu archivieren und so bocksteif wie möglich zu erklären. Knapp gefolgt in der Häufigkeitshitparade wird das Faulenzen von den Tarnbegriffen für die geschlechtliche Interaktion (»Kompanieentsafter: Mädchen, dem ein abwechslungsreiches Liebesleben nachgesagt wurde«) und die Einnahme von Alkoholika (»0,7-Glasmantelgeschoß«, »Granate mit Schraubzünder entschärfen«). Superlative, Kontrafakturen, Schimpfnamen für Feiglinge (»Hustensaftschmuggler«), umgedeutete Abkürzungen (hier: NVA = Nationale Verrückten Anstalt) oder witzige Zielansprachen wie »kniende Ameise, halb links, 400 Meter« wird es sicher in jeder Armee geben (vgl. auch »Humor in Uniform«, Rastatt 1990; »So lacht man im Schützengraben«, Königsberg 1898). Was dieses Wörterbuch wirklich zu etwas Besonderem macht, ist die akribische Auflistung sogenannter EK-Belustigungen. »EK« stand für Entlassungskandidat (noch kürzer »E«; siehe Buchtitel). »Die E's beanspruchten eine Vorzugs- und Vormachtstellung dienstjüngeren Soldaten gegenüber, die nicht selten auch von den Vorgesetzten akzeptiert wurde.« Einige der eigenartigsten Rituale seien hier beweishalber kurz zitiert: Erstens: »Heimfahrt. EK-Belustigung: durch Vorbeitragen von Bäumen und Ortsschildern am Fenster, Rütteln am Bett, Bedienung wie durch Mitropa-Kellner usw. wurde die Heimfahrt der EK's simuliert.« Zweitens: »Hawaii spielen. EK-Belustigung: mit Hilfe von Sand, der in die Unterkunftsstube getragen worden war, Decken u. a. Utensilien wurde eine Strandsituation simuliert, in der sich der EK von den Soldaten des 1. Diensthalbjahres bedienen ließ.« Drittens: »Reisernte. EK-Belustigung: Soldaten des 1. DHJ mußten auf Knien über den Flur rutschen und dabei Ernte-Bewegungen ausführen und Laute von sich geben, die die chinesische Sprache nachahmen sollten: >Hing hang hung. Wiau Piau. Mejing fingin. Ent las sung!< usw.« Und, schließlich, viertens: »Staubsauger. Berüchtigte EK-Belustigung: der Atemschlauch der Schutzmaske wurde mit der flachen Hand zugehalten, so daß der Träger der Maske keine Luft bekam, dann wurde der Atemweg plötzlich freigegeben und das Ende des Atemschlauchs in einen vollen Aschenbecher gehalten.« Selten wohl gab es einen größeren Erfindungsreichtum an Schikanen als in dieser sozialistischen Volksarmee. Wie lustig wären sie wohl erst mit ihren Feinden umgesprungen? Hans Mentz in der »Titanic«, 08/2002

Im Titel des Buches befindet sich kein Druckfehler. Der Buchstabe E steht hier für »Entlassungskandidat« – ein Begriff, der in der DDR-Soldatensprache einen zentralen Platz einnahm und zugleich zum Synonym für den Kem eines umfassenden inoffiziellen Hierarchiesystems in der Nationalen Volksarmee (NVA) wurde. Dem »wahren E« und anderen »merkwürdigen sprachlichen Erscheinungen« der 1990 untergegangenen Armee wendet sich der Autor, von Haus aus Sprachwissenschaftler, in der vorliegenden Publikation vorrangig zu. Sein Wörterbuch erfaßt die Lexik der DDR-Soldatensprache im weitesten Sinne, »also den inoffiziellen Teil der Sondersprache, die in sämtlichen Bereichen, in denen Wehrdienstleistende in der DDR in militärischen Strukturen zusammenwirkten und kommunizierten«, verbreitet war, und ermöglicht so deren Einbeziehung in vergleichende militärhistorische und philologische Forschungen. [...]
Den Hauptteil des Buches bildet ein alphabetisch gegliedertes Stichwort-Glossar. Hier findet man sie – die Wortspielereien und Begriffe, die jeder wehrdienstleistende Soldat in der einen oder anderen Weise schnell lernen und letztlich auch kennen mußte, um im Armee-Milieu bestehen zu können. Es werden Wörter und Phraseologismen aus dem Alltag der Soldaten aufgezählt, die auf Außenstehende zumeist befremdlich wirkten und wirken. Diese Wortschöpfungen sind subversiv, anarchisch, witzig, erfinderisch, volkstümlich, aber auch banal, vulgär, frauenfeindlich, im Einzelfall rassistisch und nazisfisch. Einige Beispiele dazu: Politstellvertreter = Pope, Schützenpanzerwagen = Muckerbus, Einberufung = Deportation, Stubendurchgang = Zimmerservice, SPW 152 = Eisenschwein, Patrone = Mumpel, Zivilangestellte = Larvenmatratze. Die Soldatensprache nahm offenbar Einflüsse aus allen Bereichen der Gesellschaft, vom Osten wie vom Westen, in sich auf und schuf so einen von »Ungedienten« oft nicht nachvollziehbaren Slang. Das Niveau der Kommunikation auf den Soldatenstuben und im Umgang mit den meisten Vorgesetzten war dementsprechend niedrig.
Neben dem Jargon der Soldaten und teilweise mit ihm vermischt stand die offizielle Militärsprache, die solche eher verpönten Begriffen wie Ehrendienst, Bruderarmee oder Genosse hervorbrachte. Der Autor unterscheidet nicht nur sachgerecht zwischen beiden, was den Wert des Buches auch für die militärhistorische Forschung erhöht, sondern stellt in einem gesonderten Register ausgewählte militärsprachliche Lexeme dar. Zusätzliche Informationen bereichern die Stichworte in beiden Registern und erklären manche Umdeutung. Bei der Zuordnung einiger Wortschöpfungen hätte man sich jedoch eine stärkere Abgrenzung von der allgemeinen Umgangssprache gewünscht. Von Vorteil wären auch Hinweise zu Übereinstimmungen mit der Soldatensprache anderer deutscher Armeen gewesen.
Daß die Untersuchung der Sprache auch unmittelbar zur historischen Forschung über die NVA beitragen kann, macht der Autor vor allem mit seinen einleitenden Ausführungen über bestimmte Erscheinungen deutlich, die etwa ab Mitte der 60er Jahre die inneren Verhältnisse der DDR-Streitkräfte als ein in sich gestaffeltes inoffizielles Machtsystem wesentlich mitbestimmten: die sogenannte EK- bzw. E-Bewegung. Bis heute gibt es zu diesem Phänomen keine grundlegenden wissenschaftlichen Untersuchungen. Der Autor versteht unter dem Begriff der E-Bewegung eine »umfassende Bezeichnung für das aus der noch verbleibenden Dienstzeit der Wehrdienstleistenden abgeleitete inoffizielle Hierarchie- und Unterdrückungssystem der Soldaten und Unteroffiziere und die damit im Zusammenhang stehenden Handlungen (Bräuche, Rituale), Gegenstände besonderer Bedeutung (Idole) und sprachlichen Erscheinungen (Hierarchiebezeichnungen, Redensarten)«. Diese Bewegung negierte die offizielle Hierarchiestruktur der Streitkräfte und hatte sich in allen Einheiten der NVA festgesetzt. Alle Grundwehrdienstleistenden und auch ein großer Teil der Unteroffiziere auf Zeit wurden von ihr erfaßt. Zu bemerken ist aber, daß in der NVA das militärische Grundprinzip von Befehl und Gehorsam der offiziellen Hierarchie bis zuletzt funktionierte – trotz oder vielleicht auch wegen der EK-Bewegung.
Zur Erinnerung: In der DDR hatte (ab 1962) ein Wehrpflichtiger in der Regel 18 Monate Wehrdienst zu leisten – das waren umgerechnet 542 Tage. Mit jedem »gedienten« Tag kam er faktisch seinem Entlassungstag näher. Deshalb wurde nicht nur jeder Tag gezählt, sondern die Tageszahl als wichtigste Maßeinheit im Dienst und in der Freizeit bestimmte die Stellung des Soldaten in seinem Umfeld. Wer im ersten Diensthalbjahr, also quasi noch neu in der Armee war, wurde »Sprilli«, »Spritzer«, »Frischer«, »Glatter« gerufen, im zweiten Diensthalbjahr nannte man sich selber gern Vize, mußte sich aber auch mit Bezeichnungen wie »Zwischenpisser« oder »Zwischenfurz« abfinden. Endlich angekommen im letzten Drittel der eineinhalbjährigen Grundwehrdienstzeit wurde man Entlassungskandidat, eben EK bzw. E. Damit war die Spitze der inoffiziellen Hierarchie erreicht. In der Kompanie avancierte der EK zum ungekrönten König mit zahlreichen Privilegien. Diese wiederum gingen vor allem auf Kosten der beiden anderen Diensthalbjahre, wobei die »Frischen« oft einem regelrechten Terror der EK ausgesetzt waren und in ein regelrechtes Sklavendasein gepreßt wurden. Unterordnung nach dem Prinzip »Der E denkt, der Vize lenkt, der Spritzer rennt« hieß das erste Gebot. Hoffnung in diesem seelischen Ausnahmezustand gab den Neuen in ihren ersten sechs Monaten nur das Wissen, spätestens im dritten Diensthalbjahr ähnliche Macht gegenüber ihren Nachfolgern ausüben zu können. Symbole und Rituale unterstützten verbale und körperliche Attacken. Das Statuszeichen des EK war das Bandmaß (150 cm), von dem Tag für Tag ein Schnipsel abgeschnitten werden mußte. Alle Längerdienenden, vor allem aber Offiziere und Berufsunteroffiziere, verachtete man. Sie galten in diesem System als »Tagesäcke«. Sie waren nicht selten Zielscheibe des Spotts und der Häme der Wehrpflichtigen. Offiziere bezeichnete man u.a. auch als »Staatsgammler«, »Dienetod« oder »Brikettfabrik« (viele Tage bedeuteten hier viel »Kohle«); aus der offiziellen Abkürzung BU für Berufsunteroffizier wurde z.B. »blind und unfähig«.
Angesichts der vielen witzigen Begriffe sollte jedoch nicht vergessen werden – der Autor geht darauf in seiner Einleitung nur kurz ein –, daß die EK-Bewegung auch Schattenseiten hatte. Sie war nicht nur gegen die offizielle Hierarchie gerichtet, sondern entlud sich besonders gegen die Schwächeren. Für die Soldaten der unteren Diensthalbjahre bildeten die EK-Rituale keinen Spaß, sondern nicht selten eine Tortur, die vor allem im Zusammenhang mit Alkoholexzessen menschenverachtende Züge annehmen konnte. Bei vielen jungen Soldaten prägten sich ihre Erfahrungen mit dem »wahren E« traumatisch ein. Manche von ihnen nahmen seelischen Schaden, viele wurden auch körperlich gedemütigt. Vereinzelt führten schikanöse Handlungen durch Soldaten des zweiten und dritten Diensthalbjahres gegen Angehörige des ersten Diensthalbjahres auch zu Kurzschlußreaktionen bis hin zu Selbstmordversuchen. Das Einschreiten der Vorgesetzten gegen die EK-Bewegung blieb in den meisten Einheiten aber eher halbherzig oder kampagnenhaft, mancherorts wurde sie gar für die eigenen Interessen instrumentalisiert. Dennoch riefen »Verstöße gegen die sozialistischen Beziehungen« wiederholt die Militärstaatsanwaltschaft auf den Plan, die auch nicht versäumte, in ihren jährlichen Berichten an die Armeeführung gebetsmühlenhaft auf das »gestörte Verhältnis zwischen den Diensthalbjahren« hinzuweisen. So wurden allein im Ausbildungsjahr 1986/87 27 Armeeangehörige wegen Militärstraftaten verurteilt, die sich gegen die »sozialistischen Beziehungen« richteten. Die Täter kamen zumeist nach Schwedt in die dortige Disziplinareinheit der NVA.
Das Buch bietet insgesamt ein breites Informationsspektrum. Dem Wortverzeichnis von A (»Die zehn A«: alle anstehenden Arbeiten auf andere abwälzen, anschließend anscheißen, aber anständig«) bis Z (»Zwölf-Stunden-Schicht«: 12stündiger Grenzdienst) schließen sich Numeralien (»0,7er Glasmantelgeschoß« für Schnapsflasche mit 0,7 Liter Inhalt), Toponyme (»Eggenesien« für Eggesin) sowie das Register der DDR-Militärsprache an. In einem kleinen Dokumententeil befinden sich u.a. die Faksimiles eines »EK-Statuts« sowie eines Tagesdienstablaufplans. Eine Sammlung von Liedtexten, Sprüchen und Witzen sowie ein recht ausführliches Literaturverzeichnis schließen den Band ab.
Der Autor hat eine enorme Fleißarbeit geleistet. Sein Versuch, »den auffälligsten und charakteristischsten Teil des Wortschatzes der DDR-Soldatensprache zu erfassen und zu dokumentieren«, ist ihm bravourös gelungen. Ob darüber hinaus mit dem Sprachzustand auch »der Charakter der Armee und der Epoche« (S. 19) hinlänglich und überzeugend zu beschreiben ist, bleibt freilich zu bezweifeln. Hierfür ist mehr historisch-analytische und inhaltliche Substanz erforderlich, als dies die relativ knappe Einleitung und die Wortzusammenstellungen vermitteln können. Dennoch: Das Buch über die Sprache in der NVA ist nicht nur für den Philologen interessant, sondern es leistet einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation und Aufarbeitung des Wehrdienstes und damit zur Erforschung der DDR-Militärgeschichte. Rüdiger Wenzke in der »Militärgeschichtlichen Zeitschrift (MGZ)« 1/2001

[...] Der Wehrpflicht konnte sich in der DDR praktisch kein Mann entziehen. Die Zwangssituation der Kasernierung und die sehr weit gehende Abschottung der Soldaten vom Zivilleben forcierten die anstaltsinterne Sprachsozialisation. Die Mannschaftsdienstgrade bekamen nur selten Ausgang und Urlaub. Über vier Fünftel der Truppe hatten auch an den Abenden und am Wochenende in den spartanischen Unterkünften auszuharren, um stets eine hohe Gefechtsstärke der NVA zu gewährleisten. »Tagedrücken« und »Kasernenkoller« waren keine Seltenheit und wurden in (Sprach-)Ritualen abreagiert. Diese Zwangssituation erklärt die Zwiespältigkeit, Aggressivität und Affektgeladenheit der Umgangssprache in den Kasernen der DDR. Sie ist eine Sprache der Unterdrückten und der Unterdrückung, der Ohnmacht und des Widerstandes, des Frustes und des Triumphes über den alltäglichen Stumpfsinn. Das Wörterbuch erschließt den Militäralltag als eine durchherrschte und demoralisierende Ordnung. Das heißt nicht, daß sich die Soldaten ihrer Haut nicht zu wehren wußten. Das Buch belegt auch den reichen Schatz an verbalen und rituellen Widersetzungen, der sich unter dem Druck des Dienstregimes entwickelt hat. Viele Wörter der offiziellen DDR-Militärsprache hatten soldatenmundartliche Pendants, die ihren dienstvorschriftsmäßigen Sinn ad absurdum führten. Die meisten Wehrpflichtigen traten nicht ihren »Ehrendienst« in der NVA an, sondern gingen zur »Asche«. Aus dem »Politunterricht« wurde in der Sprache der Soldaten die »Bummistunde« bzw. »Rotlichtbestrahlung« und aus dem als Belobigung gemeinten »Bild vor der entfalteten Truppenfahne« ein »Aktfoto vor der ausgebreiteten Tischdecke«. [...]
Was die naheliegende Frage nach den DDR-Spezifika der NVA-Soldatensprache und der E-Bewegung im Vergleich etwa zur Bundeswehr, zur Wehrmacht oder zu den Verhältnissen in den sozialistischen Bruderarmeen betrifft, beschränkt sich Möller auf einige Hinweise. Die Leistung des Wörterbuches besteht vor allem darin, die materialen Voraussetzungen für einen solchen Vergleich geschaffen zu haben. Die E-Bewegung nahm jedenfalls nicht die erschreckenden Ausmaße an wie das »dedovšcina«-System in der Sowjetarmee, das offiziellen Angaben zufolge zwischen 1975 und 1990 Zehntausenden jungen Soldaten des Leben gekostet hat.
Last but not least hat Möller mit diesem Lexikon auch ein Wörterbuch der (DDR-)Männersprache vorgelegt, das instruktive Einblicke in einen Kernbereich der Geschlechterkonstruktion in der DDR eröffnet. Viele der dokumentierten vulgären und zotigen Ausdrücke, der archaisch anmutenden Rituale und E-Belustigungen dienten der männlichen Identitätsbehauptung und Selbstinszenierung durch kollektive Grenzerfahrungen, die bis heute von vielen ostdeutschen Männern als Schlüsselerlebnisse – mit Stolz oder mit Abscheu – erinnert werden. Henri Band in einer Online-Rezension in literaturkritik.de sowie etwa gleichlautend in der »Berliner Debatte Initial« 4/2001

Sind Sie schon einmal einem »Tageschwein«, einem »Hüpper« oder gar einem »ideologischen Gartenzwerg« begegnet? Waren Sie schon einmal in einer »Bummistunde«? Haben Sie jemals »Atombrot« oder »Bismarckhusten« essen müssen, einen »blauen Würger« getrunken und sich vor »Hängolin« gefürchtet? Sie verstehen nur Bahnhof? Dann sind Sie offensichtlich nie in »Hoffmanns« bzw. »Keßlers Trachtengruppe« aufgetreten. Zu Ihrem Glück. Gemeint ist nämlich die NVA, die Nationale Volksarmee der DDR. Militärische Organisationen gehören zu jener Kategorie von geschlossenen Anstalten, die der amerikanische Soziologie Erving Goffman vor vier Jahrzehnten als »totale Institutionen« bezeichnet hat. In ihnen entwickelt sich ein »Anstaltsjargon«, der die Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Insassen und dem Aufsichtspersonal auf verschrobene Weise zum Ausdruck bringt.
Der Germanist Klaus-Peter Möller hat in akribischer Arbeit ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache zusammengetragen. [...] Herausgekommen ist nicht nur ein philologisches Wörterbuch einer Spezialsprache, das höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern ein vielschichtiges Porträt des Alltags in den Kasernen der DDR. [...] Einmal mehr erweist sich die gesprochene Sprache als ein hervorragender Seismograph des sozialen Zusammenlebens von Menschen. Die Zwangssituation der Kasernierung der Soldaten erklärt die Zwiespältigkeit und Aggressivität ihrer Umgangssprache. Sie ist eine Sprache der Unterdrückten und der Unterdrückung, der Ohnmacht und des Widerstandes, des Frustes und des Triumphes über den alltäglichen Stumpfsinn. Und sie ist eine Sprache der Männer, die bekanntlich in anstaltsmäßig zusammengefaßter Gruppe schnell vulgär und zotig werden. Das Wörterbuch erschließt den Militäralltag als eine durchherrschte und demoralisierende Ordnung. Das heißt nicht, daß sich die Soldaten nicht ihrer Haut zu wehren wußten. Das Buch dokumentiert auch den reichen Schatz an verbalen und rituellen Widersetzigkeiten, der sich unter dem Druck des Dienstregimes entwickelt und behauptet hat.
Viele Wörter der offiziellen DDR-Militärsprache hatten soldatenmundartliche Pendants, die ihren dienstvorschriftsmäßigen Sinn ad absurdum führten. Die meisten Wehrpflichtigen traten nicht ihren »Ehrendienst« in der NVA an, sondern gingen zur »Asche«. Aus dem »Politunterricht« wurde in der Sprache der Soldaten die »Rotlichtbestrahlung« und aus dem als Belobigung gemeinten »Bild vor der entfalteten Truppenfahne« ein »Aktfoto vor der ausgebreiteten Tischdecke«. Angesichts solch virtuoser Sprachschöpfungen könnte man versucht sein, in den NVA-Soldaten nur die kollektiven Nachfahren Schwejks zu sehen. Der Blick, den das Buch eröffnet, reicht jedoch unter diese Oberfläche. Sichtbar wird die paradoxe Funktionsweise einer Herrschaftsordnung, in der die Herrschaftsunterworfenen aktiv zum Erhalt dieser Ordnung beitrugen. In der NVA geschah dies vor allem durch die »EK-Bewegung«. Es gab eine strikte Rangordnung der Diensthalbjahre. An der Spitze der inoffiziellen Hierarchie stand der »Entlassungskandidat« (»E« bzw. »EK«), dem die anderen Diensthalbjahre zu Willen zu sein hatten. Der »EK« denkt, der »Vize« lenkt, der »Spritzer« rennt, hieß es damals. Lästige Arbeiten wie Stuben- und Revierreinigen blieben dem ersten Diensthalbjahr vorbehalten. Die Führungsarbeit überließ der große »EK« den »Zwischenpissern«; für sich selbst beanspruchte er Ruhe, Geborgenheit und Wärme (»RGW«). Das Spektrum der Pflichten der »Glatten« reichte je nach moralischem Format der »EKs« von eher harmlosen Spielen wie »Betteinstieg trainieren« (ohne das Bett des »EKs« zu erschüttern) bis hin zu schikanösen Praktiken wie »sibirischer Winter« (Reinigen des mit Scheuerpulver bestreuten Fußbodens).
Die »EK«-Bewegung verlängerte auf diese Weise das militärische Prinzip des ranggebundenen Gehorsams bis in die Soldatenstuben und die Freizeit hinein. Diese Komplizenschaft irritiert um so mehr, als die politisch-ideologische Indoktrination der Wehrpflichtigen weitgehend scheiterte. Obwohl subversiv in manchem Inhalt und mancher Form, war die »EK«-Bewegung ein stabilisierender Ordnungsfaktor. Wer nicht mitspielte bei den »EK«-Belustigungen, hatte einen schweren Stand. In der kollektiven Erinnerung vieler ehemaliger Wehrdienstleistender scheinen dagegen bis heute die schrägen Geschichten und ausschweifenden Gelage zu dominieren, die es eben auch gab: der kollektive Sieg der Truppe über den hysterisch brüllenden Feld-, Wald- und Wiesenwebel, die »UE-Gänge« (unerlaubte Entfernung) mit Einkehr in eine Gartenschänke und Rückkehr mit einer Tasche voller »Glasmantelgeschosse« und natürlich die Feier des »Anschnittes des Bandmaßes«, dem wichtigsten Idol der Entlassungskandidaten. Ein klassischer Fall von Verdrängung. Und eine männliche Form von Identitätsbehauptung: sich der Erlebnisse zu brüsten, die man letztendlich doch überstanden hat. Wer jedoch diese Männer damals gesehen hat, wußte, wie ihnen wirklich zumute war und daß sie nur einen einzigen Tag ihrer Dienstzeit in vollen Zügen genossen haben: den »Tag der Befreiung«, den Entlassungstag aus der Armee. Henri Band in der »Thüringischen Landeszeitung« vom 04. Mai 2001

Cäsar, so schreibt das Geschichtsbuch, schlug die Gallier. Hatte er, so fragte Bertolt Brecht verschmitzt nach, nicht mal einen Koch dabei? »Militärgeschichtsschreibung befaßt sich meist mit technischen Fragen oder mit der Geschichte von Schlachten. Arbeiten zur Lage einfacher Soldaten findet man dagegen schwer«, resümiert Klaus-Peter Möller. In rund 20jähriger Sammlerarbeit trug er rund 5000 Begriffe, Phrasen, Witze und Liedtexte zum »Wörterbuch der DDR-Soldatensprache« zusammen. Das Werk eines ehemaligen Zeitsoldaten der Nationalen Volksarmee (NVA), geboren aus der Liebe zur Sprache und aus der Verachtung fürs Militär. Möller: »Ich war naiv, als ich einberufen wurde. Ich ging damals zur Armee, weil ich glaubte, mich dort für die Erhaltung des Friedens einsetzen zu können. Aber die Desillusionierung begann nach wenigen Tagen. Man wurde in der NVA sinnlos schikaniert.«
Drei Jahre mußte er bleiben, Vorbedingung für sein späteres Germanistikstudium. Denn die Sprache und ihre Ausdrucksmöglichkeiten hatte den literaturbegeisterten Rilke-Leser schon immer fasziniert. Auch beim Militär stieß er auf eine eigene Sprache. Wer sie nicht lernte, ging unter. Möller lernte sie nicht, er studierte sie. Er befragte andere Soldaten, notierte akribisch, was ihm erzählt wurde. Dabei verbot die NVA das Führen von Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen. Eine paradoxe Situation, denn obwohl das DDR-Militär den preußischen Militarismus in all seinen Abgründen weiterführte, fürchtete man Sprachstudien, die das verrohende Soldatentum beschrieben hätten. »Die tatsächliche Sprache paßte einfach nicht ins offizielle Menschenbild«, konstatiert Möller.
Daß sich unter dem Druck einer ausweglos erscheinenden Situation der Gebrauch der Wörter immer weiter von ihrer lexikalischen Definition entfernt, ist zunächst einmal kein DDR-spezifisches Phänomen. Henry Louis Gates, ein US-amerikanischer Literaturprofessor, hatte dies schon in den Texten schwarzer Rapper beobachtet und auf den latenten Rassismus seines Landes zurückgeführt Ein unterdrückt Sprechender, so Gates, »lebt in den Zwischenbereichen der Diskurse, verdreht die Wörter und spielt mit ihnen, er bildet Wortfiguren und zeigt die Ambiguitäten der Sprache auf, indem er ihr ihre Eigentümlichkeit nimmt«.
In der NVA wurde auf diese Weise ein Oberfeldwebel als Oberwebfehler zum Gespött der unteren Ränge. Seine Wortsammlung ordnete Möller in verschiedene Kategorien. Eine »Positionsfunktion« erfüllen Begriffe, die Hierarchien entweder zu unterlaufen oder zu zementieren trachten. Die »Kompensationsfunktion« ähnelt dem Galgenhumor, den man aufbringen mußte, wenn etwa »Leuna 3« serviert wurde, eine nach den Leuna-Chemiewerken benannte und stark synthetisch schmeckende Fruchtsuppe. Die Übergänge zur »ästhetischen Funktion« sind fließend, etwa die »Kommandeursbesprechung«, die ein Saufgelage war, oder der als »Lötlampe« verballhornte russische Kampfjet Mig 21. Auch wenn Möllers Wörterbuch eine oft amüsante Lektüre darstellt, ist es doch alles andere als ein Kompendium lustiger Militärschwänke. Schon der Titel »Der wahre E« spielt auf ein ebenso zentrales wie unmenschliches Phänomen der NVA an: Wer seinen Grundwehrdienst antrat, war Handlanger und Blitzableiter für die »Zwischenpisser«, Soldaten des zweiten Diensthalbjahres. Über diesen standen die Entlassungskandidaten, »E's« oder »EK's« genannt, und veranstalteten mitunter sadistische Spiele. [...]
Als Möller sie in den 90er Jahren befragte, wollten sich einige Ex-Soldaten nur ungern an ihre Dienstzeit erinnern. Andere hingegen waren froh, daß dieser Abschnitt ihres Lebens nun eine Art geschichtlicher Würdigung erfuhr: »Erinnerungen und Begriffe sprudelten aus ihnen heraus. Ich konnte seitenweise mitschreiben.« Und daß Möller mit seinem Buch wohl einen Nerv getroffen hat, belegen auch die für ein wissenschaftliches Fachwörterbuch ungewöhnlich hohen Verkaufszahlen. Nils Michaelis in der »Saarbrücker Zeitung« vom 09. April 2001

Klaus-Peter Möller hat mit dem vorliegenden Band ein Wörterbuch der Soldatensprache der DDR vorgelegt, das den zivilgesellschaftlichen »Aufklärungsprozeß« voranzubringen vermag. [...] Das Buch geht dabei oft über die bloße Zusammenstellung und alphabetische Aufreihung von Begriffen hinaus und bleibt trotzdem ein handhabbares Nachschlagewerk. Der Band [...] hat mit seinen zahlreichen Einträgen über Idole, Bräuche, Rituale und angemaßte Vorrechte die Qualität einer umfassenden Beschreibung von militär- und mentalitätsgeschichtlichen Mustern und will doch keine derartige Abhandlung sein. Nichtsdestotrotz trägt das Wörterbuch vorsichtig analytische Züge, die »Schützenhilfe« und Anregung für zukünftige historiographische Fragestellungen sein können. [...] Das Wörterbuch ist kollektive Erinnerungshilfe und gleichzeitig ein Beitrag zur Aufarbeitung des Wehrdienstes in der DDR. [...] Möllers Buch wird zum Bindeglied zwischen den zahlreichen literarischen Verarbeitungen des Militärdienstes in der DDR und seiner historiographischen Aufarbeitung. Die Zusammenstellung der DDR-Soldatensprache kann aber auch, in Anknüpfung an den gut dokumentierten Wortschatz vorangegangener deutscher Armeen und der Bundeswehr, ein Hilfsmittel und eine Herausforderung für die vergleichende Forschung sein. [...] Neben seiner Bedeutung als Erinnerungshilfe liegt der wesentliche Wert des Buches gerade in der Anstiftung zur Nachfrage. [...] Das Wörterbuch gibt der Forschung zahlreiche Handreichungen. Gerade indem es das Männergemeinschaften zugeschriebene und militärischen noch dazu eigene Vokabular ordnet, eröffnet es vor allem den Blick auf das Vorhandensein entwürdigender und unmenschlicher Praxis im militärischen System der DDR. [...] Das kritische Hinterfragen derartiger Phänomene zur Beschreibung und Analyse des Alltags in der NVA, ihre Entmytologisierung ist Aufgabe weiterführender Forschung. Derartige Arbeiten werden um dieses Wörterbuch nicht herumkommen. Thomas Koinzer, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 3/2001

Der Sprachwissenschaftler Klaus-Peter Möller archivierte mit größter Sorgfalt und Grimmscher Unschuld die Soldatensprache im weitesten Sinn [...] Der Erfindungsreichtum dieser in sich geschlossenen Welt erstaunt und amüsiert den Leser, ohne die kleinen Schikanen und großen Entwürdigungen vergessen zu machen, von denen der Wehrdienst in der DDR geprägt war. Das Wörterbuch stellt den Sprachschatz einer genau fixierten gesellschaftlichen und zeitlichen Ära dar und steht in einer Linie mit Victor Klemperers »LTI«, der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reichs. Anne Hahn in der »jungen welt« am 31. Januar 2001

In mühevoller Kleinarbeit ist ein »Wörterbuch der DDR-Soldatensprache« entstanden, das so grundlegenden Wörterbüchern wie »Landserdeutsch« (1970) und »Bundessoldatendeutsch« (1979) von Heinz Küpper oder Ernest Bornemans »Sex im Volksmund« (1974/90) durchaus an die Seite zu stellen ist.
Acht Seiten sind allein dem Begriff, »der in der DDR-Soldatensprache eine zentrale Rolle spielte«, dem magischen»E«, in vielfältigen Verknüpfungen reserviert, denn »E« bedeutet »Entlassungskandidat«. Der EK stand in der Soldatenhierarchie am höchsten, einer Hierarchie, die offiziell geleugnet, von einigen mutigen Offizieren und Soldaten erfolglos bekämpft, jedoch allgemein geduldet wurde, weil eben diese Hierarchie über die »Kampfkraft« jeder Armee entscheidet, auch einer »sozialistischen«.
Von diesem Begriff aus nähert sich Klaus-Peter Möller in seinem Vorwort bedachtsam den in der NVA gesprochenen Soldatensprache, Militärsprache und Offizierssprache, spürt deren fataler gegenseitiger Bedingtheit nach und scheut auch nicht den Vergleich mit dem »Bundessoldatendeutsch« und der von Victor Klemperer so genannten LTI, der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reiches. Und das kann an Möllers Arbeit nicht genug hervorgehoben werden: Wo sich moralinsaure Betroffenheitsprosa längst erschöpft hat, dort beginnt die Arbeit der Erinnerung und der Wissenschaft, und zwar mit unbestechlichem Sammeln und Aufschreiben dessen, was da gesagt wurde. Vieles von dem, was ich gelesen habe, wurde so oder ähnlich gesagt und getan; und ich habe auf über 300 Seiten kaum etwas gefunden, wo ich zweifeln würde, daß das so oder ähnlich gesagt wurde. Vor allem hat Klaus-Peter Möller die schnelle Ausflucht verbaut, der arme einzelne »Wehrdienstleistende« wäre einer bösen, unentrinnbaren, übermächtigen Militärmaschinerie ausgeliefert gewesen: Auf jeder Stufe der Hierarchie, noch auf der untersten, verkörperte er die Maschinerie!
Klaus-Peter Möllers Wörterbuch ist ein Anfang. Das eigentliche Wörterbuch wird durch einige viel zu wenige Bild- und Textdokumente ergänzt, darunter Beispiele für Lieder, Sprüche und Witze, welche letztere jedoch zumeist die üblichen ranzigen Militär-Kamellen variieren. Das Literaturregister ist mit Titeln aufgebläht, die mit der engeren Thematik nur im weitesten Sinne zu tun haben; dagegen wurde Wichtiges offensichtlich nicht ausgewertet, darunter die komplette offizielle NVA-Belletristik (Walter Flegel, Heinz Senkbeil u.a.). Ein Register zur offiziellen DDR-Militärsprache mit zahlreichen Rückverweisen zu der Soldatensprache macht das Wörterbuch erst handhabbar – überraschend weniges findet sich unter dem Stichwort »Homosexualität« – und verdeutlicht sowohl Diskrepanz als auch Übereinstimmung beider. Denn – und das kann nicht oft genug wiederholt werden: – die weitaus meisten Wortschöpfungen spiegeln keine grundsätzliche Ablehnung der NVA und der eigenen Rolle darin, sondern in ihrer sprachlichen Bewältigung des Soldatenalltags grundsätzliches Einverständnis.
Darum keine »Entwarnung«! Die Armee, »die nie einen Krieg führte«, die »Armee neuen Typus« war eine Armee wie jede andere auch, ihre Soldaten waren Soldaten wie andere auch, keine Mörder, doch wären sie ohne jeden Zweifel Mörder geworden, wenn sie in die Verlegenheit gekommen wären, also die Gelegenheit gehabt hätten. Wer sich fragt, warum die Übernahme der NVA in die Bundeswehr weitgehend reibungslos erfolgen konnte, der sollte zu Klaus-Peter Möllers Buch greifen. -Jens Knorr in »Die andere Welt. Unabhängige Monatszeitschrift nicht nur für Lesben und Schwule« (Januar/Februar 2001), ähnlich auch in »Das Blättchen«, 4/2001

Sprachgeschosse
Der Tod poetisiert mitunter. Nicht schlagartig, sonden allmählich – es geht wie das Verfärben des Laubes im Herbst. Stirbt einer, dem die Leute die Pest an den Hals wünschten, so fliegen nach und nach die Vorbehalte wie schwarze Vögel auf und davon. Als das alte Schlachtschiff Volksarmee versank – es blubberte ein bißchen, aus! – hob ich den Kopf und sann nach. Dann schrieb ich ein Buch: Japanischer Garten. Reminiszenzen an meine Verteidigungsbereitschaft. Damit war für mich alles über diese Armee gesagt. Und wenn die Lesungen nicht gewesen wären, hätte ich über dieses Thema kaum noch ein Wort verloren. Unverhofft geriet mir eine Sammlung der DDR-Soldatensprache in die Hände. Das Kasernenidiom war mir noch gut in Erinnerung. Ich ließ es einst spärlich in meinen Text einfließen, aus Sorge, es könnte die Ästhetik sprengen. Gespannt und vorsichtig zugleich öffnete ich nun die Seiten dieses Wörterbuchs, als fürchtete ich, daß mich etwas anspringt.
Froschvotze f, Pl. ~n Vorgesetzter, Offizier der Bereitschaftspolizei, Schimpfw., vgl. Frosch
Kastenficker m, Pl. ~ Angehöriger einer Nachrichteneinheit.
Ich schlug Seite um Seite um, las wahllos die Begriffe, Wortspielereien, Namen, und je länger ich darin blätterte, desto deutlicher schien ich Stimmen zu vernehmen, Stiefelgeklapper, das Scheppern von Waffen und Ausrüstung, unbändiges Fluchen, Verwünschungen, höhnisches Gelächter, schadenfrohes Gekicher, Gezischel. Als ich in den achtziger Jahren zum Reservistendienst einberufen wurde, fiel mir auf, daß etwas mit der Sprache der Soldaten geschehen war. Sie schien mir komplexer geworden zu sein. Daß es sich dabei um eine sprachliche Entwicklung in einer Subsozietät handeln könnte, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Der Slang war mir nicht nur widerwärtig. Es gab Schöpfungen, die ich bemerkenswert fand (beispielsweise Hühnerknie – Bagger, braunsche Röhre – Bierflasche). Nun aber, da dieses Buch mit circa dreihundertdreißig Seiten vor mir lag, war es so, als würde ich eines jener Ornamente betrachten, die nach längerem Schauen eine Figur oder ein Gesicht freigeben. Oder wie bei den Bildern von Maurits Cornelius Escher: Etwas verwandelt sich in ein Anderes. Erst tauchte diese ganze versunkene waffenstarrende Welt vor mir auf, dann offenbarte sich der finstere, bösartige Humor, der Fadenscheiniges bloßlegt und Unechtes geißelt. Wäre dieses Buch damals veröffentlicht worden, ein Spaß, der sich nicht mal ausmalen läßt, hätte man eines deutlich sehen können: Mit dieser Jugend ist kein Staat zu machen. Beispiele: Nachbrenner – einer, der sich länger verpflichtet. Udo – unser dummer Oberst. RGW-Soßenverbundleitung – da das Essen immer und überall gleich schmeckte, wurde unterstellt, es komme aus einer Art Pipeline, durch die der gesamte RGW versorgt wurde (RGW: Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, eine Art Ost-EU). Paul-Greifzu-KG – Stasi. Nuttentäschchen – Sturmgepäck der Offiziere. Kampfhubschrauber – Vorgesetzter mit übertriebenen Anforderungen. Märchenauge – Parteiabzeichen der SED. Memphis – Staatssicherheit, Abk. MfS. Schrottstadt – Eisenhüttenstadt. Stadt der drei Lügen – Perleberg: kein Berg, keine Stadt, keine Perlen. VDLV – vor dem Lesen vernichten.
Wer hat das gesammelt und bearbeitet? Vermutlich einer, mit aller Vorsicht ausgedrückt, wie Viktor Klemperer: mittendrin und doch stark distanziert, abgestoßen und fasziniert zugleich. Der Autor Klaus Peter Möller hat nach einem Studienabbruch und Streichung von der Kandidatenliste der SED und einer sogenannten Bewährung in der Produktion von 1981 bis 1984 als Unteroffizier auf Zeit bei der NVA gedient (dienen – Dien du erst mal so lange, wie ich schon Urlaub hatte!). In dieser Zeit legte er ein erstes Glossar zur Soldatensprache an, in dem er die merkwürdigen sprachlichen Erscheinungen, die ihm aufgefallen waren, nach Sachgruppen geordnet verzeichnete. Von 1985 bis 1990 studierte er an der Pädagogischen Hochschule »Karl Liebknecht« Potsdam (Deutsche Sprache und Literatur / Musik). Und man kann sich gut vorstellen, wie die »Zettelkästchen« daheim ihrer Erlösung harrten. In der Einleitung heißt es auch, daß der spielerische Umgang mit Sprache zu lexikalischen Ungetümen führte: Zwischenkeimkotzkübelkastendeckelumdieeckespringschwein – Soldat im zweiten Diensthalbjahr. Solche Gebilde sind Beleg dafür, wie hoch der seelische Druck in dieser Armee war. Er entlud sich nicht nur zischelnd gegen die Obrigkeit, sondern lauthals gegen Schwächere. Die Truppe war kunterbunt durcheinandergewürfelt, genauso verhält es sich mit dieser Sprache. Sie kommt mitunter rassistisch und frauenfeindlich daher (Monatsbinde – Armbinde von Diensthabenden, wegen ihrer roten Farbe; jugoslawische Partisanenvotze – Käppi; Ohneglied – weibliche Militärangehörige), um an anderer Stelle in harmlose Wortspielereien zu verfallen: Glasmantelgeschoß – Schnapsflasche. Popentaxi – Dienstfahrzeug eines Vorgesetzten. Popenkind – Offizierskind. Das klingt nach Sippenhaft. Die Abneigung gegen die Offiziere übertrug sich selbst auf ihre Kinder.
Die Welt, in der diese Sprache gedieh, war abgeriegelt. Die Bewachung kam der von Gefängnissen nahe. Die Posten gingen mit scharfer Munition auf Wache (Mumpel – Patrone, Geschoß; Kalasche – MPi Kalaschnikow, durchreißen – unnachsichtig, konsequent durchführen). Ihr eigentlicher Auftrag lautete: den Ausbrecher stellen, notfalls mit der Waffe. Die Sehnsucht, für ein paar Stunden in die Freiheit zu entweichen, machte die Kasernierten oft kühn. Besonders wenn junge Soldaten Wache standen, galt es als riskant, über den Zaun zu springen. Sie neigten aus Ängstlichkeit dazu, sich an die Befehle zu halten (Blitz-E – verunglückter oder plötzlich verstorbener Militärangehöriger, also einer, der blitzartig aus dem Wehrdienst entlassen wurde). Außerdem fürchteten die älteren Soldaten, daß ein Rekrut sich für die Schikanen rächen könnte.
Eine Befürchtung, die gar nicht mal so abwegig war. Kaum einer der gerade Einberufenen hatte eine Ahnung, was ihn wirklich erwartete. In der Gesellschaft war der Dienst an der Waffe gegen Kritik weitgehend immunisiert. Das entsprach den deutschen Traditionen: Militär als Initiationsritus. »Da werden sie dir schon die Hammelbeine langziehen!« scherzten Eltern und Verwandte. Die Militärzeit dieser Männer lag oft lange zurück. In den fünfziger Jahren bei der kasernierten Volkspolizei und später, als die NVA entstand, herrschte mitunter die Gemütlichkeit der Gründerjahre. Erstaunlich ist, daß kaum jemand von den Berichten entlassener Soldaten Notiz nahm. Wenn sie versuchten, das wahre Leben in den Kasenen zu schildern, hörte man ihnen selten zu. »Das kann nicht schaden, davon stirbt man nicht«, hielt man ihnen entgegen. Und die Großväter wiegelten ab: »Hat's Krieg gegeben? Nein. Also bitte!«
Der Frische (Frischer, Spritzer, Sprilli, Rotarsch, Krummfinger, Kalenderfräse – Soldat im ersten Dienstjahr) tappte unbedarft in die Falle. Bislang behütet, bemuttert (Jugendliche waren in der Regel an Aufmerksamkeit und Fürsorge gewöhnt, da sie als »zukünftige Erbauer des Sozialismus« galten), trat man ihm nun gewaltig in den Hintern (Deportation – Einberufung zum Wehrdienst). Das Kesseltreiben begann. Neben der schweren Grundausbildung sah er sich dem psychischen Terror der Es oder Eks (E, EK –Entlassungskandidat, Soldat im dritten Diensthalbjahr; Minutowitsch – Wehrdienstleistender, der nur noch wenige Minuten zu dienen hat) ausgesetzt, an dem sich auch, nachdem sie gerade dem unmittelbaren Sklavendasein entronnen waren, munter die Zwipis beteiligten (Zwipi – Zwischenpisser, Soldat im zweiten Diensthalbjahr). Der Rekrut stand unter Schock, ein Zustand, der je nach Seelenlage mehr oder weniger lange anhielt. Und während er dumpf vor sich hinbrütend den Fußboden keulte (keulen – den Fußboden mit der Bohnerkeule blankpolieren), flogen ihm die Sprachgeschosse um die Ohren, deren Splitter Klaus Peter Möller für die Nachwelt aufsammelte: Schnibber, Schnipper, Seiger, Socke, Springsau, Springvieh ...
Den Rest besorgte das Ambiente. Uralten Rezepten folgend verschrieb man dem Wehrpflichtigen Abrichtung durch Askese. Ihm stand ein Bett zu, ein schmaler Spind, ein Hocker und ein Platz an einem Tischchen (Tischberechtigung – Berechtigung, am Tisch zu sitzen, mußte ... durch eine entsprechende Prüfung erworben werden). Da saß er nun, wenn er durfte, stierte auf seine Plastetasse und fragte sich, was er verbrochen habe. Die Wände waren mit blaßgrauer Ölfarbe gestrichen, Bilder anbringen nicht gestattet, ein kleiner Weihnachtsbaum wurde zentral im Klubraum erlaubt, Eigenmächtigkeit bestraft (Weihnachtskeulen – besonders gründliches Keulen der Fußböden am Weihnachtstag). Der Gott in dieser abgezirkelten Welt war die Zeit. Die Soldaten kehrten das System um und spielten dem die Würde zu, der diesen mausgrauen, freudlosen Ort bald verlassen konnte, und verachteten die Längerdienenden: Zeitmaschine, Zeitstrahl, Zeitsilo, Zeitsäule – Längerdienender, Jahrhundertwende – Kehrtwendung mehrerer Berufssoldaten (vier Offiziere repräsentierten zusammen hundert Dienstjahre), Tagebau – Ledigenheim für Offiziere.
Breiten Raum nehmen bei Möller jene Wörter ein, die sich gegen die Soldaten selber richten. Wie bei Klemperers LTI, dort heißt der Zahnarzt Zahnjude, eine von vielen hämischem Berufsbezeichnungen, die sogar die Opfer verwendeten. Eine Art düsterer Humor, der für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist (Kohlenlude – Soldat vom Heizungskeller, Kohlenmunk – Soldat, der zum Kohlenschaufeln abkommandiert ist, Filzlaus – Soldat im Wintermantel). In der Einleitung des Wörterbuchs steht, daß es in vielen Zuschriften und Gesprächen mit der LTI verglichen wurde. LQI sozusagen, die Sprache des Vierten Reiches. Es scheint wohl ein Merkmal der Folge von Unterdrückung zu sein, den »Sprachrevolver« an die eigene Schläfe zu setzen. Wie heißt es bei Lessing: »Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.« Frontflüchter Plt. – Stiefel. Harri Engelmann in »Die Gazette«, Nr. 32 (Januar 2001)

Ein durchschittlicher DDR-Mensch verbrachte seine freie Zeit hauptsächlich damit, der DDR-Wirklichkeit zu entfliehen. Mittels Schrebergarten, Autowaschen, Westfernsehen. Nur der NVA-Soldat blieb 24 Stunden Teil der DDR. Das prägte. Auch die Sprache. Darüber hat Klaus-Peter Möller ein »etymologisches Wörterbuch« verfaßt.
Die Spuren, die ein Rekrut im Sand von Eggesin zog, bleiben. Nicht im Sand, aber in der Pysche der Rekruten. Sandneurosen! Und nun robben wir mit Möller noch einmal da durch, träumen den Traum von Befreiung Seite für Seite wieder. Auf dem Sprung zur Befreiung sitzt der EK (Entlassungskanditat). Noch knapper: der E. Pathetisch: der wahre E. Der wahre E ist befreit inmitten der Unfreiheit. Ein geadeltes Zwischenwesen. Unfrei frei. Einer, der schon fast fort ist. Das ist viel besser, als schon ganz weg zu sein. Wenn man ganz weg ist, beneidet einen niemand, daß man schon bald nicht mehr da ist.
Sichtbares Statussymbol des E ist sein Maßband, von dem er in den letzten hundert Tagen täglich ritualienreich einen Zentimeter abschneidet und dazu seinem Unteroffizier Selbstgereimtes sagt: »Tausend Tage sind zu wenig, kohle auf und werde Fähnrich!« Damit auch der jugendliche West-Leser versteht, was dieser Satz bedeutet, gibt es nun das Handbuch vom »wahren E«. Die NVA wurde zur letzten deutschen Volksliedschmiede. Was sind schon Nietzsches Sprüche Zarathustras gegen die Sprüche des wahren E!
Die Schwierigkeiten der Erforschung des wahren E liegen in seiner separaten Struktur, in seiner komplexen Erscheinungsweise, die nur scheinbar im Widerspruch zu seinem simplen Wesen steht. Ein Beispiel: »Der wahre E geht nach dem Schnee.« Diese scheinbare Paradoxie im mythologischen Satz läßt sich nur historisch-kritisch auflösen. Zweimal im Jahr gab es Entlassungen, zweimal ging man hoheitsvoll durchs Tor.
Möller hat fleißig gesammelt und – ein wahrer Schalk – lexikalisch-biederes mit Abstrusen so durcheinandergemixt, daß man spürt, hier bekommt man ein Lexikon in die Hand, das Kultwert über wissenschaftliche Relevanz stellt. Es beginnt mit den zehn A's: »Alle anstehenden Arbeiten auf andere abwälzen, anschließend anscheißen, aber anständig.« Bleiben wir beim »A«. Was ist ein »abgestürzter Pilot«? Möllers Eintrag dazu lautet:»Grützwurst, Topfwurst, Kochwurst, vergl. Tote Oma«. Ein »achtundvierziger Schlüssel« ist ein Flaschenöffner. Und ein »Aktfoto vor der ausgebreiteten Tischdecke« entpuppt sich als Belobigungsfoto (in Uniform) vor der Truppenfahne. Auch schlichte Fakten verzeichnet Möller, so »1330«, die Postleitzahl vom Schwedter Strafbataillon, und »2000«, für die NVA zuständige Staatssicherheitsabteilung.
Möllers Buch vom »wahren E« bietet ein Stück exemplarischer wie extremer DDR-Alltagsgeschichte. Gunnar Decker in »Neues Deutschland« vom 15.12.2000

Selbst sahen sich viele E mit dem Spruch »Der wahre E, der ist okay« über alle anderen hinweg in Sonderstellung. Die Soldaten des zweiten Diensthalbjahres wurden »Vize« oder mit der längsten Wortschöpfung der NVA auch »Zwischenkeimkotzkübelhinundherspringschwein« genannt. Für den Hallenser Psychologen Hans-Joachim Maaz sind diese Auswüchse Beweise des Protestes gegen autoritäre Behandlungen. »Menschen werden zu Objekten gemacht, Ordnung, Tüchtigkeit und Disziplin machen die Leute aggressiv. Gegen die wirklichen Verursacher dieses psychischen Drucks hatte man keine Chance, also wurde mit der Sprache auf böse, zynische Weise protestiert«, sagt Maaz. Die Brutalität, die es ohne Zweifel im Alltag der NVA gegeben hat, wird mit der Sammlung verloren geglaubter Worte in Erinnerung gerufen. Wie Protest durch Humor kaschiert, wie sexueller Frust vertuscht wurde, das kann man im Wörterbuch der Soldatensprache gut nachlesen. Frank Schwarz in der »Märkischen Oderzeitung« vom 06.12.2000

Mit dem Buch »Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache« schließt Klaus-Peter Möller eher eine wissenschaftliche als literarische Lücke. Trotzdem entlarvt er hier auf beeindruckend simple Weise die inoffizielle Hierarchie Wehrdienstleistender in der DDR und die damit verbundenen Auswirkungen auf den Soldaten-Alltag. [...] »Der wahre E« ist ein inhaltreicher und notwendiger Beitrag gegen das Vergessen und die Verklärung, die zu diesem Thema bereits vorhandene Literatur wird eindrucksvoll ergänzt. »Warnow Kurier« vom 03.12.2000

Mittwochabend im Alten Rathaus. Männer in Uniform und Zivilpersonen aller Art harren der Präsentation des Wörterbuchs »Der wahre E« zur DDR-Soldatensprache. Hendrik Röder vom Brandenburgischen Literaturbüro moderiert in das historisch gewordene Thema hinein. Auch Ungediente erfahren so schnell und präzis, daß es sich beim wahren E um einen Entlassungskanditaten im Grundwehrdienst der NVA handelte. Wie man sich dessen Lebenswirklichkeit und die noch kümmerlicheren Vorstufen der E-Werdung vorstellen muß, demonstriert Schauspieler Klaus Dieter Klebsch. E spielt furios die ganze Palette militärischer Gefühllosigkeiten herunter und verwandelt den Saal kurzerhand in einen Kasernenhof. Diesem Realismus folgt ein Stück feinsten unfreiwilligen Humors. Wer je einen Schulungsfilm der NVA gesehen hat, weiß, wir urkomisch Text, Bild und gefühlssteigernde Musik in diesen schmucken Propagandastreifen kombiniert sind. Während eine Stimme süße Halbwahrheiten präsentiert, sieht man den Gefreiten X liebevoll die ihm anvertraute Mordmaschine putzen. Derweil singt nach frühbyzantinischen Brauch im Off ein Chor: »Und es schuf der Mensch die Erde.«
Es folgt eine Podiumsdiskussion. Hans-Joachim Maaz, Ost-Kulttherapeut aus Halle, sitzt munter blinzenlnd neben dem ehemals ranghöchsten Bundesmilitär Hans Peter von Kirchbach, der souveräne Gelassenheit ausstrahlt. Röder steuert mit immer wieder unvermittelt hereinbrechendem Humor die hauptsächlich am Autoren Klaus-Peter Möller orientierte Diskussion um die einstige Paradearmee des Ostblocks und deren sprachliches Erbe. Aufklärerische Momente gibt's vor allem, wenn Maaz über Zusammenhänge von sexueller Verdrängung, Fäkalsprache und ähnlich pikante Details des Soldatenlebens doziert. Als sich zum Schluß der Stau erzeugter Gefühle in einer Fragelawine aus dem Saal entlädt, kommen auch Ex-NVA-Offiziere zu Wort. Einer dieser Männer schimpft: »Ich war 36 Jahre bei der NVA und habe nicht gelitten.« Den Schlußpunkt setzt glücklicherweise eine Frau, die fragt, ob sich mit dem Wehrdienst von Frauen das militärische Klima ändern wird? »Ja«, sagt fest der General a.D., »da wird sich was ändern.« Lothar Krone in der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« vom 01.12.2000

Das ist kein Thema für nette Plauderstunden – so, als säße man bei einem Gläschen Wein und feierte wieder mal die »nackte Republik« des legendären, hüllenlos vor seinem Trabi posierenden Ossi-Paares. Hier tritt die Nationale Volksarmee zur Musterung an, und dort ist es eher selten lustig zugegangen. Wahrscheinlich wird deshalb nicht so gern darüber geredet. Viel öfter war es schikanös und entwürdigend, was die Soldaten in ihrem 18monatigen »Ehrendienst« in der NVA zu ertragen hatten.
NVA sagten wir Insassen der Kasernen übrigens nicht: »Asche« war das übliche Synonym. Ein wegwerfendes, verächtliches Wort. Zeugnisse rhetorischer Notwehr, auch Galgenhumor kennzeichneten die Soldatensprache der DDR ebenso wie aufgestauter Haß, Obszönitäten, Gewalt und rassistische oder antisemitische Ausfälle.
Der Sprachwissenschaftler Klaus-Peter Möller, 1960 in Parchim geboren, hat dies alles seit seiner eigenen Dienstzeit vor fast 20 Jahren gesammelt, in dem jetzt erschienenen Wörterbuch »Der wahre E« akribisch zusammengestellt und einleitend kommentiert. Am Mittwochabend wurde der Band im Alten Rathaus von Potsdam vorgestellt. Möllers Arbeit erhellt ein ebenso schlicht wie wirkungsvoll gestaffeltes System der Machtausübung, das sich in der Verrohung der Sprache manifestiert: Wenn ein Soldat im zweiten Diensthalbjahr den Status eines »Zwischenpissers« erreichte, so war er, verglichen mit dem »E«, dem allmächtigen »Entlassungskandidaten«, immer noch fast ein Nichts. Allerdings reichte es allemal hin, einen »Spritzer« (auch »Dachs«), also einen neu Einberufenen schikanieren zu dürfen. Er mußte es sogar, denn der »E« brauchte ja viel Ruhe.
Wer dabei war, wird sich erinnern. So, wie es die starke Fraktion ehemaliger NVA-Offiziere im voll besetzten Saal offenbar tat. Aber Erinnerung hängt eben von Wahrnehmung ab – und vom Willen zur Wahrnehmung. Letzterer gehörte offenbar nicht zwingend zum Berufsbild. Schon während des Podiumsgesprächs, an dem neben dem Autor auch der Hallesche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz sowie der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Hans Peter von Kirchbach teilnahmen, schüttelten die Herren wiederholt den Kopf oder lachten gar bitter auf.
So geschehen, als Maaz über die Zusammenhänge von absolutem Gehorsam, Demütigung, Haß und Chancenlosigkeit der NVA-Soldaten angesichts des fehlenden Rechtsstaates sprach. Und später, als Kirchbach, der im frisch vereinigten Heer als Kommandeur nach dem berüchtigten Eggesin geschickt worden war, konstatierte, etwas Vergleichbares wie die EK-Bewegung habe es in der Bundewehr seit dem »Rotarsch-Syndrom« in den 70er Jahren nicht mehr gegeben. Gegen die Schikanierung von Neulingen sei man seinerzeit energisch eingeschritten. Hier macht Kirchbach die Kernfrage aus: »Wie geht man damit um?« Und dann setzt der inzwischen pensionierte General noch einen drauf: Ob es je einen Aufstand der NVA-Offiziere gegen das EK-System gegeben habe?
Es gab ihn nicht. Allerdings gesteht Buchautor Möller »ernsthafte Versuche« zu, etwas an diesem System zu ändern. Bloß nicht noch Öl ins Feuer gießen! Einer der Ehemaligen steht am Ende auf, bedankt sich »für die Ausführungen, die hier durchgeführt worden sind«, gibt zu Protokoll, 36 Jahre dabei gewesen und nie schikaniert worden zu sein. Ein zweiter räumt zwar Schikanen ein, beharrt aber darauf, Einiges verifiziert zu bekommen. (Er meint etwa das Musikbox-Spiel, bei dem ein »Spritzer« im Spind sitzen und singen mußte. Das gab es wirklich.) Ein Dritter schließlich beschwört das Bild der »einsatzbereiten Armee«, die sich »kampflos geschlagen gegeben« habe. Hier gruselt's den Zuhörer. Da helfen nur frische Luft und wache Erinnerungen. Andreas Montag in der »Mitteldeutschen Zeitung« vom 01.12.2000

Ein witziges Wörterbuch, das einen traurig machen kann. Was war das für eine Welt, in der wir da für mindestens 18 Monate lebten? Hier kann man es erfahren. Die Einleitung sorgt dafür, daß diese Wörtersammlung auch unter anderen geographischen und zeitlichen Bedingungen verstanden werden kann. Sie schützt das Buch auch vor möglichen Mißverständnissen: es geht weder um ein schulterklopfend-nostalgisches Suhlen in Erinnerungen noch um eine selbstgerechte Abrechnung mit damals erlittenem Unrecht. Dafür ist der Respekt des Autors vor der Sprache zu groß. So besteht seine Leistung auch nicht nur im fleißigen Sammeln (Respekt auch dafür), sondern vielmehr im Aufschließen der Bedeutungen, im Organisieren der Materialfülle (im Ordnen seiner Truppen), im Differenzieren zwischen Soldatenjargon und offizieller DDR-Militärsprache (siehe das unglaublich umfangreiche – fast 60 Seiten! – Register ab S. 235). Angesichts der Fülle des Materials und der gelungenen Aufbereitung treten Einwände (es mag kleine Lücken geben; »Lola« ist wirklich nicht von den »Rolling Stones«) zurück ins letzte Glied. Der Autor, lt. Kurzbiographie Reserveoffizier der NVA, hat sich mit diesem Buch selbst befördert: zum Armeewörtergeneral der Aufklärung. Peter Schaefer (Leserrezension) bei www.amazon.de

[...] Mit acht anderen »Spatis« war ich im November 1982 »abkommandiert« worden – als Heizer. Das »System« funktionierte perfekt: Unten war der »Spritzer« (= der Neueinberufene des 1. Diensthalbjahres), ihn drangsalierte der »Vize« (= Soldat des »2. DHJ«), beide aber hatten dem »E« (= »3. DHJ«) untertan zu sein. Die, und das mußte wörtlich übernommen werden, Faust-regel lautete: »Der E denkt, der Vize lenkt, der Spritzer rennt.« Wehe, letztere lenkten und rannten nicht. Dem Einfallsreichtum für »systemerhaltende« Quälereien waren keine Grenzen gesetzt – gesehen habe ich »Musikbox«, »Schildkröte« und »Heimfahrt«.
Möllers trockene Beschreibungen geben am besten wieder, um welche »EK-Belustigung« es sich jeweils handelte: Für die »Musikbox« wurde »ein Soldat des 1. DHJ im Spind eingesperrt und mußte auf Verlangen, bzw. wenn ein Geldstück durch den Lüftungsschlitz eingeworfen wurde, singen«. Für die »Schildkröte« wurde »ein Soldat des 1. DHJ, mit Ellenbogen und Knien auf Stahlhelmen festgeschnallt, auf dem Korridor umhergeschoben«. Die »Heimfahrt« der EK wurde »durch Vorbeitragen von Bäumen und Ortschildern am Fenster, Rütteln am Bett, Bedienung durch Mitropa-Kellner« simuliert.
Gegen Ende seiner Dienstzeit gab sich der E aber hauptsächlich maulfaul. Statt verbaler Aktivitäten zeigte er sein »Bandmaß«. Anfänglich 150 Zentimeter lang, wurde »täglich nach Dienstschluß« ein Zentimeter, der »einem gedienten Tag entsprach, abgeschnitten«. Die von vornherein armselige »Soldatensprache« mündete konsequent im völligen Verstummen. Möller hat das Wörterbuch einer Unkultur verfaßt. Frank Kallensee in der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« vom 29.11.2000

Sprallis, Spritzer, Zwischenpisser gehörten einst zum NVA-Alltag – insbesondere den EK's (Entlassungskandidaten). Um jene Crème der DDR-militanten Unterstufe geht's im neuen Buch von Klaus-Peter Möller (40) »Der wahre E« – einem witzigen Wörterbuch der NVA-Sprache. »Während meiner dreijährigen Unteroffizierszeit in Eggesin und Rostock begann ich, Wörter, Wendungen und Witze aus der Soldatensprache aufzuschreiben«, verrät Möller seinen Sammeltick. Nach der Wende startete er zwischen Rostock und Suhl Aufrufe »EK's, wo seid ihr?«, um noch mehr Material an Land zu ziehen. Hunderte Briefe flatterten dem Potsdamer Sprachwissenschaftler vom Fontane-Archiv zu. Bombenerfolg! Die erste Auflage ist fast vergriffen – zweite kommt. Kostproben gefällig? Die 10 A's: Alle anstehenden Arbeiten auf andere abwälzen, anschließend anscheißen, aber anständig! Bullenkloster: Ledigenwohnheim der Offiziere. Der wahre E. geht vor dem Schnee. Nach dem Matsch, das wäre Quatsch. GGG: Gesehen, gelacht, gestrichen (Antwort auf Urlaubsantrag). Kotzen: Den Arsch betrügen. Matratzenhorchdienst: Schlafen gehen. Maulschaufel: Löffel. Muckerbus: Schützenpanzerwagen. Onanieren: Einen gegen fünf kämpfen lassen. Spralli/Spritzer: Frisch eingezogene Wehrdienstler. UB 1: Universal-Bagger, gemeint war der Spaten. Zwischenpisser: Soldaten im 2. Diensthalbjahr. »Berliner Kurier« und »Dresdner Morgenpost« vom 29.11.2000

Klaus-Peter Möller begann zu Beginn der 80er, Wortschöpfungen auf Karteikarten festzuhalten. Sie klingen grausam, wunderlich, banal, brutal, manchmal auch urkomisch. [...] Die Qualität der Arbeit liegt in ihrer Nüchternheit. Mit der rein numerischen Erfassung gebrauchten Vokabulars liefert sie einen markanten Beitrag zur Sozialgeschichte. Einmal mehr funktioniert Sprache als Spiegel einer Gesellschaft. Möller sagt, er sei wie viele aus Idealismus drei Jahre zur Armee gegangen. »Als ich dann dort war, sind mir schnell die Augen aufgegangen. Das ist der Bruch gewesen für mich.« Volker Oelschläger in der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« vom 28.11.2000

[...] 1000 Tage zuviel. Möller begann sein erstes Notizbuch. Er hat es noch. Es ist schon geführt mit der Akkuratesse des späteren Sprachwissenschaftlers. So muß Humboldt die fremden Idiome gesammelt haben. Mit diesem ganz und gar unbeirrbaren Interesse am Sonderbaren. Nur daß Humboldt immer gleich alles veröffentlichen durfte. Möller nicht. Sein Wörterbuch »von unten« wäre zu DDR-Zeiten unmöglich gewesen. Natürlich haben Sprachwissenschaftler auch etwas Militärisches. Alle Worte streng alphabetisch in einer Reihe angetreten. »Der wahre E« ist ungefähr so präzise gebaut wie ein Soldatenspind. Es wiederholt die subversive Wirkung der DDR-Soldatensprache: das Anarchische, das völlig Unmögliche, das sagenhaft Vulgäre, gepreßt in einen ehernen, vollkommen gleichgültigen Rahmen. Möller erklärt mit nie ermüdender wissenschaftlicher Objektivität: »oberaffentittengeil – toll, Steigerung von affentittengeil«. Und welche Kulminationen des Wortes »Zwischenkeimkotzkübel« (Soldat des 2. Diensthalbjahres) möglich waren! Natürlich erregt solch selbstloser wissenschaftlicher Einsatz bereits höchstes Befremden. Die Ostsee-Zeitung regte an, Möllers Wörterbuch umgehend zu verbrennen, nachdem sie dortselbst 54 Redewendungen und 14 weitere Zusammensetzungen mit dem Wort »Arsch« ausgemacht hat, von denen mit »V« und »F« gar nicht zu reden. Auch Möllers Frau besieht mit leisem Argwohn ihren Mann, den heutigen Leiter der Handschriftensammlung im Potsdamer Fontane-Archiv. Kinderpuppentheater-Stücke schreibt er, die heißen »Knorx und Pinchen«. Und kein einziges Wort aus dem Wörterbuch kommt darin vor. Möller liebt die Dichter. Das machte die NVA. Jede Wache eine Duineser Elegie. [...]
Wer also war der E? Ein gemeiner Unterdrücker der Neuen. Ein unfreiwillig-freiwilliger Stabilisator der Armee. Und zugleich ein Fast-schon-Freier, grenzenlos erfindungsreich in den Ritualen des Eigentlich-schon-weg-Seins. Ein anwesend-Abwesender. Und auch dieses Anwesend-Abwesendsein gab er weiter. Wenn die Anzahl der noch zu dienenden Tage der Deckenhöhe in Zentimetern entsprach, war »Deckendurchbruch«. Dann ging die E-Sonne auf. [...] Wahrscheinlich ist jede Armee Abbild ihres Staates. Die NVA war die DDR im Kleinen. Das absolute Gefängnis. Und die NVA-Soldatensprache zuletzt – ein großer Traum von Befreiung. Kerstin Decker im »Tagesspiegel« und in den »Potsdamer Neuesten Nachrichten« vom 28.11.2000

»›Der wahre E‹ muß vernichtet« werden, fordert die Rezensentin der Ostsee-Zeitung. Das von dem Potsdamer Sprachwissenschaftler Klaus-Peter Möller herausgegebene Wörterbuch der DDR-Soldatensprache scheidet die Geister. Entweder rigorose Ablehnung oder begeisterte Zustimmung über einen sprachwissenschaftlichen Kraftakt, der mehr verlangt als lexikalisches Sortiervermögen. Kaum ein Tag, an dem der Autor an diesem Konvolut gearbeitet hat, mag vergangen sein, ohne Erregung, Widerstand oder ein freudiges Glucksen.
Das Finale des E, also des Soldaten im letzen Diensthalbjahr (auch EK genannt), findet in Gestalt des Wörterbuchs selbst statt. Man muß nicht nachtreten. Mehr als zehn Jahre hat Möller sich mit diesem mehr als 300 Seiten umfassenden Buch herumgeschlagen, hat Umfragen unter ehemaligen Soldaten und in Zeitungen geführt. [...] Möller weiß, wovon er schreibt. 1981 verschlug es ihn an die Unteroffiziersschule »Max Matern« in Eggesin. Der Ortsname war Programm. Im Ohr eines jeden NVA-Soldaten klang dieser mecklenburgische Ort wie Wüste oder Beieinerübungvompanzerüberrollt. Während seines Studiums an der Potsdamer Pädagogischen Hochschule führte es ihn noch einmal zur NVA, als Reserveoffiziersanwärter ins thüringische Seelingstädt, genannt »Seelingrad«. Wer hier negativ auffiel, konnte sein Studium gleich vergessen. Glück hatte, wer die Kunst des Krankseins beherrschte – besonders beliebt waren Rückenprobleme. Mutig war, wer den bewaffneten Dienst verweigerte, um Bausoldat zu werden und damit sein berufliches Fortkommen bewußt einschränkte.
Was unterscheidet die DDR-Soldatensprache von der übrigen Sprachwelt? Zunächst war sie der inoffizielle Teil der Armee-Sprache, gesprochen von den Wehrdienstleistenden in Abgrenzung zum Offizierskorps, für die es wohl die meisten Schmäh- und Synonymworte gab (Batzen, Zeitstrahl, Klopper, Sackwalze, Brikett usw.). Auf der anderen Seite imitierte sie genau jene Hierarchieverhältnisse, die sie mit ihren sprachlichen Erfindungen einebnen wollte. Die sogenannte EK-Bewegung suchte sich als (Sprach-)Opfer bevorzugt die niederen Diensthalbjahre aus und setzte so das Prinzip des Gehorsams auf unterster Stufe fort. Sie wurden die »Glatten« oder »Sprutze« genannt, um nur zwei harmlose Beispiele anzuführen. Im euphemistischen Jargon der Offiziere hieß dieser Vorgang schlicht »Selbsterziehung«. Ein Grund dafür, warum die EK-Bewegung mit all ihren Absurditäten und zuweilen auch exzeßhaften Ausbildungen stillschweigend geduldet wurde. Sie war im Grunde das Zentrum kreativer Sprache und Leidzufügung. Als Beispiel sei das Unterwerfungsritual »Musikbox« erwähnt, wo zur Belustigung der EKs ein Soldat des 1. Diensthalbjahres im Besenschrank eingesperrt wurde, um zu singen, wenn ein Geldstück durch den Lüftungsschlitz eingeworfen wurde. »War die Musikbox kaputt (kam keine Musik), wurde der Schrank gerüttelt, auf den Kopf gestellt oder aus dem Fenster geworfen.« (Möller) Hartnäckig hielten sich in fast allen Kasernen der DDR Gerüchte über Tote, die es bei diesem »Spiel« gegeben haben soll.
Wie bereits bei den vielen Neuschöpfungen für das Wort Offizier angedeutet, dreht sich das Vokabular vor allem um das Thema Zeit, die Kürze bzw. Länge des Dienstes. Hier kehrt sich das Hierarchieverhältnis um. Der Soldat mit seinem 18monatigen Grundwehrdienst triumphierte über alle längerdienenden Offiziere und Unteroffiziere und war stets bereit, diesen Umstand mit Häme vorzutragen. Kaum ein Soldat, der sich dem Ritual »Bandmaß« (die letzten 150 Diensttage) und »Anschnitt« entzog. Eine unheimliche Faszination geht von dieser sklavensprachlichen Geheimwelt aus. Wie in der Geisterbahn huschen all die Insignien der verlorenen, stillgestandenen Zeit an einem vorüber, und bei aller gewollten Erinnerungsarbeit drängt sich unverdrossen die Komik vor die häßlichen, niederträchtigen Momente. Klaus-Peter Möller greift mit seinem Buch weit über die sprachwissenschaftlichen Grenzen hinaus. Hinter seinen detaillierten Begriffserklärungen entsteht das Bild einer (kleinen) Soziologie der Wehrdienstleistenden in der DDR. Deshalb verdient das Buch eine größere Aufmerksamkeit, auch außerhalb der »gedienten« Männerwelt, der es sowieso schwerer fällt, sich an Tatsachen zu erinnern. Torsten Schlemmer in den »Potsdamer Neuesten Nachrichten« vom 28.11.2000

Während meiner Soldatenzeit bei der Nationalen Volksarmee Mitte der siebziger Jahre war ich mir mit einem Freund aus der Kaserne einig, daß man in diesem aus dem zivilen Leben Geworfensein mit genau 17 Wörtern oder Kurzsätzen auskomme, um buchstäblich jeden Gefühlsausdruck oder jedes Bedürfnis benennen zu können. Ein kleinstes gemeinschaftliches Vielfaches für ein außerordentlich reduziertes, durch Befehle eingegrenztes Lebensgefühl. Unsere Idee war ein Sprachexperiment, das zum Glück weder ausgeführt wurde noch funktionierte. Als ich mich Jahre später daran erinnern wollte, fielen mir nicht einmal jene Begriffe ein, die uns damals erhaltenswert erschienen.
Jetzt ist im Berliner Lukas Verlag ein Wörterbuch der Soldatensprache der DDR erschienen, das die ganze Variationsbreite einer linguistischen Ausdrucksweise zusammenfaßt, die nötig war, um den 18monatigen Wehrdienst relativ unbeschadet an Leib und Seele zu überstehen. Das Buch »Der wahre E« von Klaus-Peter Möller, der selbst drei Jahre als Unteroffizier bei der NVA diente, zeigt deutlich, wie Sprache als Widerstandsmodell funktionieren kann. Möller hat jahrelang penibel Stichwörter gesammelt, die vom Buchstaben A (Die zehn A: alle anstehenden Arbeiten auf andere abwälzen, anschließend anscheißen, aber anständig) bis Z reichen (Zwölfmann-Deck, das als Vorderdeck der Marine auch Affenlast genannt wurde.) Möllers umfassend zusammengetragenes Kompendium macht deutlich, welchen Stellenwert Sprache als Zeugnis des Geschehenen wie als Erinnerungsinitial besitzt. Wer sein Werk liest, dem werden Worte wieder lebendig, die er einst selbst gebraucht hat, um Frust, Freude oder Zorn auszudrücken, er wird gleichzeitig feststellen, wie sich diese Spezialsprache bis zum Ende der DDR weiterentwickelt hat. Es scheint deshalb nahezuliegen, die vorgefundenen Beispiele aus dem abgeschlossenen Sammelgebiet Volksarmee, die zusammen mit der DDR verschwand, aber gleichzeitig in den Köpfen derjenigen weiterlebt, die dort ihren Dienst, offiziell Ehrendienst, ableisten mußten, als LQI zu bezeichnen, als Sprache des Vierten Reiches. Der Vergleich scheint dennoch gewagt, denn Victor Klemperers Sammlung LTI, Sprache des Dritten Reiches, bildete sich in ungleich gefährlicheren Dimensionen. Dennoch ist der methodische Ansatz ähnlich, er betreibt philologische Untersuchung, weil in der Sprache der Herrschenden wie der Unterdrückten am deutlichsten der Überbau des jeweiligen Systems sichtbar wird. Weshalb geschriebene, aber auch gesprochene Sprache der empfindlichste Bereich gesellschaftlichen Austauschs war und ist. Für einen politischen Witz konnte man in der frühen DDR auf Jahre im Gefängnis verschwinden, so daß selbst aus diesem Tatbestand noch eine Möglichkeit zum Lachen entstand: Welchen Hauptpreis gibt es für den besten politischen Witz? Fünf Jahre Bautzen. [...]
Wejen Ausdrücken konnte man auch bei der NVA im berüchtigten Militärgefängnis Schwedt landen. »Schwedter Initiative« wurde ein grober Verstoß gegen die Dienstvorschrift genannt, der mit Strafarrest von einem bis zu sechs Monaten bestraft werden konnte. Auch in diesem Begriff waltet Sprache kreativ, denn er knüpft an die Phrasen der DDR an, die aus jeder kleinen Geschichte eine gesellschaftliche Initiative machte. Es würde zu weit führen, die Vielzahl des in diesem Wörterbuch Gebotenen aufzuzählen, beispielsweise die mexikanische Schweigesuppe (ein Druckmittel, um Denunzianten zum Schweigen zu bringen) oder die Schweineleine, jenes Bandmaß, an dem die Soldaten jeden Tag, den sie hinter sich gebracht hatten, mit der Schere abschnitten. Vielleicht wäre es nötig, das Material zu interpretieren, um herauszufinden, wo Offiziere und Mannschaften im Konflikt lagen und wo sie übereinstimmten. Wenn Vorgesetzte die angetretene Kompanie anherrschten: »Ihr steht zusammen wie die Schwulis«, war mit ziemlicher Sicherheit innerhalb des schikanösen Satzes latent eine mentale Übereinstimmung zwischen Dienenden und Befehlenden gegen Homosexuelle gegeben.
Für Bürger aus den sogenannten alten Bundesländern wird Möllers Buch »Der wahre E« (E, der Entlassungskandidat des dritten Diensthalbjahres, der bald nach Hause darf) vermutlich eine Schrift mit sieben Siegeln bleiben. Gleichzeitig kann es bei wohlwollender Lektüre ein wenig zur Verständigung des anders Erfahrenen beitragen. Detlev Lücke im »Freitag« Nr. 48/2000 vom 24.11.2000

Was ist ein Zwischenpisser, auch liebevoll Zwipi genannt? Oder ein Hipperschwein? Alles das, was Sie schon immer mal wissen wollten, aber sich nie zu fragen getrauten, beantwortet jetzt das Pappbüchlein »Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache«. Damit nun nicht jeder nachschlagen muß, sei schon mal verraten, Zwipi usw. deuten auf die unterschiedliche Verweildauer der so Benannten in der Armee hin. In der Nationalen Volksarmee wohlgemerkt. Die Angehörigen des »bewaffneten Organs der Werktätigen der DDR« haben sich allerdings noch ganz anders über die deutsche Sprache hergemacht.
Akribisch genau ist der Autor Klaus-Peter Möller verfahren. Er fand zum Beispiel 54 Redewendungen und weitere 14 Zusammensetzungen mit dem Wort »Arsch«. Noch häufiger sind Sexual-Vulgarismen, die mit »F« oder »V« anfangen. Möller verfügt über Insider-Wissen. Als »Tausend-Tage-Schwein« mußte er in den 80ern Soldat sein, und zwar in Eggesin und Rostock. Es ist zu vermuten, daß sich dieses Buch zu einer Art Therapie für den angehenden Sprachwissenschaftler auswuchs. Für andere »Ehemalige« dürfte es allerdings eine Roß-Kur sein, sich abermals den Attacken auf Geist und Geschmack auszusetzen. Zum Beispiel Liedern von der Sorte »Auf, auf, ihr müden Leiber, die Pier steht voller nackter Weiber!« oder Offiziersspäßen wie: »Achtung! Stillgestanden! Ganze Abteilung kehrt! Bücken – Morgen, ihr Ärsche«.
Wird dieses Möller-Werk gebraucht? Vielleicht verhilft »Der wahre E« ja Dumpfbacken, Hools oder Glatzen zu neuen Lieblingswörtern? Womöglich sitzen Masochisten in Philosophen-Stuben und weiden sich am Fäkal-Verbalen?
Am flachen geistigen Horizont zeichnet sich ein Doppelnutzen ab. Zum einen zieht der Osten gleich, denn 1979 ist in den altgedienten Ländern bereits »Das Bundessoldatendeutsch« erschienen (mit vielen Übereinstimmungen, ganz unten waren wir schon früh vereint). Außerdem bleibt nun erhalten, was häufig erigierte Genossen an Ungeist so blitzen ließen. Aber ist das gut?
Soeben fand der Astrophysiker Stephen Hawking heraus, dass sich in spätestens 1000 Jahren die Atmosphäre infolge des Treibhauseffekts »zu brodelnder Schwefelsäure« verwandeln wird. Und er empfiehlt, den Weltraum zu besiedeln. Wir werden also womöglich auf Außerirdische treffen und diese auf unsere Kultur. Deshalb muß »Der wahre E« vernichtet werden. Oder sollen uns Aliens eines Tages mit den Worten begrüßen: »Morgen, Ihr Ärsche!«? Barbara Hendrich in der »Ostsee-Zeitung« vom 4/5.11.2000

Sehr geehrte Frau Hendrich, üblicherweise kommentieren Verleger nicht die Verrisse ihrer Bücher, doch Ihre Glosse lockt mich aus der Reserve amüsierter Zurückhaltung. Ihren Ekel vor Fäkalsprache und Sexualvulgarismen in allen Ehren, aber vielleicht hätten Sie dazumal besser die NVA (resp. die ganze DDR) abgeschafft anstatt nun auf den Autor des Wörterbuchs dreinzuschlagen. Noch besser wäre gewesen, Sie hätten den umfangreichen und wahrlich differenzierenden Eingangsessay gelesen, denn dann wäre Ihnen aufgegangen, daß es Möller nicht um eine Eigentherapie ging, sondern er einem aufklärerischen Ethos und einem sprachwissenschaftlichen Herangehen verpflichtet ist, wie sie - ich wage diesen großen Vergleich ohne jeden Skrupel - ein Victor Klemperer mit »LTI« exemplarisch vorgeführt hat. Wenn die Verhältnisse schlimm sind, verroht halt auch die Sprache. Ästhetizismus (»pfui, pfui!«) ist noch stets die bornierteste Reaktion darauf. Dem Buch immanent ist eine Warnung vor jedwedem Militarismus; Ihre Unterstellung, hiermit würde Neonazis Futter geliefert, ist insofern eine Unverschämtheit. (Glauben Sie, die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hätte ein Werk gefördert, das Hools und Dumpfbacken für den Hausgebrauch dienen soll?) Nazistischen Ungeist legt nicht Möllers Buch, sondern Ihre Forderung »›Der wahre E‹ muß vernichtet werden« nahe. Wie denn wohl soll das geschehen: vielleicht per Bücherverbrennung?
Daß Denunziation – und nicht etwa sachliche Kritik – Hauptanliegen Ihres Beitrags war, entnehme ich im übrigen allein schon dem Begriff »Pappbüchlein«: Es handelt sich um ein immerhin 334seitiges, solide gebundenes und gedrucktes Werk in Broschurform, an dem der Autor anderthalb Jahrzehnte und der Lukas Verlag zwei Jahre intensiv gearbeitet haben.
Frank Böttcher

Sehr geehrte Frau Hendrich,
die Rezension, die Sie über mein Buch veröffentlicht haben, ist geprägt durch selektive Wahrnehmung, gehässig-sarkastische Wortakrobatik und durch Schlußfolgerungen, die wenig originell sind, mit dem Gegenstand nichts zu tun haben und die mehr über Sie und Ihr Lektüreinteresse verraten als über das kritisierte Buch. Tatsächlich hätten Sie bei etwas mehr als rein oberflächlicher Betrachtungsweise anderes finden können als die von Ihnen zitierten und kritisierten Vulgarismen. Leider sind Sie gar nicht an einer ernsthaften Auseinandersetzung interessiert gewesen. Das sieht man auch daran, daß Sie das Interpretationsangebot, das ich in meinem Vorwort gemacht habe, überhaupt nicht berücksich­tigt haben. Dort heißt es: »Die Fäkaliensprache, von der traditionell in Soldatenkreisen exzessiver Gebrauch gemacht wird, diente nicht nur der sexuellen Kompensation, sondern überhaupt der Abwehr von Angriffen auf die persönliche Integrität des Einzel­nen. Charakteristisch ist die Abnutzung selbst der extremsten Lexeme und die daraus resultierende Suche nach immer neuen Steigerungsmöglichkeiten der Sprache.« Auch das Vulgäre in der Soldatensprache könnte also meiner Meinung nach ein interessantes Thema sein. Aber es ist nicht mein Gegenstand gewesen, sondern eine Komponente des untersuchten Materials, die nicht davon zu trennen war. Sie können nicht ernsthaft verlangen, daß ein Wissenschaftler nur das erforscht, was ihm und anderen angenehm und sympathisch ist. Das von Ihnen in diesem Zusammenhang beschworene »esse delendam« scheint mir, selbst wenn ich es scherzhaft nehme, ein völliger Mißgriff zu sein, zumal Sie nicht einmal angeben, was eigentlich Ihrer Meinung nach zu vernichten sei. Daß Menschen gemeint sein könnten, davor schrecke ich zurück. Vernichten ließe sich allenfalls das Buch. Man fragt sich allerdings, weshalb Sie mit solch einem extremen Verdikt darauf reagieren, das an Inquisition, Index und Bücherverbrennung erinnert. Genausowenig wie sich das in dem Wörterbuch zusammengetragene lexikalische Material in die Alltagssprache integrieren läßt, kann es vernichtet werden. Durch Eliminierung, Ausgrenzung, Vernichtung gewinnt man kein Wissen, man verhindert es. Wie soll der Mensch in ein kosmisches Zeitalter gelangen, wenn er nicht in der Lage ist, aufzuarbeiten, was sich Generation für Generation an Defiziten angehäuft hat?
»Der wahre E« ist ein Buch, das von vielen ehemaligen Wehrdienstleistenden, die sich hoffentlich an dieser Stelle ebenfalls äußern werden, begrüßt wird als eine Sammlung, in der endlich einmal unverblümt die Wahrheit über den Armeealltag in der DDR gesagt wird. Vielleicht machen Sie sich einmal die Mühe, die Militärgeschichtsschreibung daraufhin durchzusehen, wie dieser Gegenstand dort berücksichtigt wird. Ich weiß, daß viele Ehemalige überhaupt nicht auf die Zeit ihres Wehrdienstes anzusprechen sind. Es wird aber auch keiner gezwungen, das Buch zu lesen. Daß Hools und Glatzen ihre Lieblingswörter in Lexika finden, glaube ich nicht. Und die von ihnen geäußerte Befürchtung, »Masochisten in Philosophenstuben« könnten sich weiden »am Fäkal-Verbalen«, teile ich nicht. Und wenn schon, wem schaden Masochisten? Doch nur sich selbst.
Jacob Grimm, der über den Vorwurf unlauterer Motive erhaben sein dürfte, hat sich im Vorwort zu seinem »Deutschen Wörterbuch« auch mit der Frage beschäftigt: »Soll das wörterbuch die unzüchtigen wörter in sich aufnehmen oder sie weglassen?« Seine Antwort: »Das wörterbuch, will es seines namens werth sein, ist nicht da um wörter zu verschweigen, sondern um sie vorzubringen. es unterdrückt kein ungefälliges wörtchen, keine einzige wirklich in der sprache lebende form, geschweige reihen von benennungen, die seit uralter zeit bestanden haben, fortbestehn und dem was in der natur vorhanden ist nothwendig beigelegt werden. so wenig man andere natürliche dinge, die uns oft beschwerlich fallen, auszutilgen vermöchte, darf man solche ausdrücke wegschaffen. [...] es gibt kein wort in der sprache, das nicht irgendwo das beste wäre und an seiner rechten stelle. an sich sind alle wörter rein und unschuldig, sie gewannen erst dadurch zweideutigkeit, dasz sie der sprachgebrauch halb von der seite ansieht und verdreht. [...] Das wörterbuch ist kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches, allen zwecken gerechtes unternehmen. selbst in der bibel gebricht es nicht an wörtern, die bei der feinen gesellschaft verpönt sind. Wer an nackten bildseulen ein ärgernis nimmt oder an den nichts auslassenden wachspraeparaten der anatomie, gehe auch in diesem sal den misfälligen wörtern vorüber und betrachte die weit überwiegende mehrzahl der andern.« (Jacob Grimm, Vorwort zum Deutschen Wörterbuch, Berlin 2. merz 1854, Bd. 1, Sp. XXXIII–XXXIV).
Klaus-Peter Möller

Klaus-Peter Möller hat ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache zusammengestellt und Worterklärungen gegeben, in denen eine derart genaue Alltagsbeschreibung steckt, daß auch dem »ungedienten« Leser ein authentischer Eindruck entsteht. Die meist weinerliche NVA-Dissidentenprosa hat bisher kein wahrheitsgetreues Bild von der Nationalen Volksarmee liefern können – fast möchte man behaupten, dieses Wörterbuch ist eine kleine Soziologie des Alltags der Wehrpflichtigen. Deren Streben galt dem ersehnten Ende des Dienstes, und so heißt das Buch »Der wahre E«, womit der »Entlassungskandidat« im dritten und letzten Diensthalbjahr gemeint ist. Der Wehrpflichtige wurde am Tag der Entlassung seiner Vorgänger zum »E« geschlagen und durfte dann seinerseits die Genossen des ersten und zweiten Halbjahres unterdrücken und schikanieren. Es ist in der E-Bewegung, die offiziell geleugnet wurde, zu katastrophalen Unfällen gekommen, mancher Soldat ließ dabei sein Leben.
Andererseits rüstete sich der Soldat mit Ritualen und Redewendungen gegen den Stumpfsinn des Soldatenlebens. In die Militärzeit fielen für viele junge Männer sowohl größte Demütigungen als auch die lustigsten Tage ihres Lebens. [...] Wenn man lauter Jugendliche zusammensperrt und ihnen sinnlose Dienste aufbürdet, bleibt ihnen letztlich nur eine fatalistische Einstellung, um die Zeit geistig gesund zu überleben. Man wartet direkt auf neue sinnlose Befehle und provoziert sie notfalls mit eigener Blödheit.
Was mit einem Wörterbuch gewöhnlich kein Vergnügen bringt, nämlich es von vorn bis hinten durchzublättern, das geht mit Möllers Sammlung. [...] Möller sammelt nicht nur Begriffe auf, sondern auch Redewendungen. [...] Die vielen kurzen Scherzworte sind sehr komisch, man blättert gerne in dem Buch herum, liest sich fest und wartet auf den nächsten Brüller. Im Anhang finden sich eine Sammlung von Toponymen, also Ortsnamen wie »Bullenkloster« für das Ledigenwohnheim der Offiziere. Ein Register erschließt Querverbindungen wie in einem Synonymlexikon. Im Dokumententeil gibt es ein Stubenfoto, einen Revierreinigungsplan und andere Alltagszeugnisse, es finden sich ein Lieder-, Gedichte- und Sprücheverzeichnis, eine kleine Witzsammlung und eine ausführliche Bibliographie. Dieses Almanach der Schlagfertigkeit birgt ein lustiges Potential, das in die zivile Alltagssprache aufgenommen zu werden lohnt. Martin Z. Schröder in der »Berliner Zeitung«, 28./29.10.2000

Auf den Internet-Seiten von Wolfgang Steinacker Asche, Schwedt und Zapfenstreich fanden wir folgende Besprechung:
»Auf vulgäre Ausdrücke verzichtet die sozialistische Persönlichkeit grundsätzlich.« Sprachkommunikation, Berlin 1981, S. 83
Ein Volk verrät sich durch seine Sprache. Und ebenso eine Volksarmee. Eine Armee besteht aus Soldaten, aus Menschen, die sich soldatengemäß äußern und verhalten, die soldatengemäßes Brauchtum hervorbringen und pflegen. Wenn eine Armee verschwindet, bleibt sie erhalten in den Spuren, die sie hinterläßt. In den Gebäuden und im Gerät, im Symbol und im Gewand. Und vor allem im einprägsamsten und zugleich flüchtigsten Medium: der Sprache.
Die Armeeführung im DDR-Staat wußte genau, warum sie private Aufzeichnungen wie das Führen von Tagebüchern zu verbieten suchte: Die Sprache ist ein klarer Spiegel, und kein Monstrum läßt sich gern einen solchen vorhalten. So gibt es nur wenige authentische schriftliche Zeugnisse aus jener Lebensphase, vor die sich jeder junge Mann damals gestellt sah.
Als damaliger Student begann der Autor Klaus Peter Möller bereits während seiner Zeit bei der NVA mit dem Sammeln und Aufzeichnen von Wörtern und Wendungen aus dieser anderen Welt. Diese Arbeit setzte er – zunächst gemeinsam mit anderen – nach der Wende fort. Nun liegt nach über 10 Jahren intensiver Recherche- und Auswertungsarbeit das fertige »Wörterbuch der DDR-Soldatensprache« vor.
Die Reise in eine fremde Welt ist ein Abenteuer. Und die Reise in die Welt der eigenen Vergangenheit möglicherweise noch abenteuerlicher. Dies legt auch der mehrdeutige Buchtitel »Der wahre E« nahe. Um die Wahrheit soll es gehen, die vielschichtiger und tiefer ist als das zunächst oberflächlich Wahrnehmbare. Und um Sprüche, ihren Sinn und Doppelsinn geht es, also um die Sprache, die sich wie jede andere Soldatensprache der Welt gewaltsam, derb und anstößig äußert, aber auch farbig, auf eigentümliche Weise differenzierend, ja zuweilen Dunkel-Schmutziges grell beleuchtend.
Die Vielfalt der NVA-Soldatensprache scheint erheblich größer und ausgeprägter als die der Bundeswehr. Allein der Umfang des Buches macht dies deutlich, zieht man vergleichbare Bundeswehr-Sammlungen heran. Das verwundert nicht, da die Intensität des Kontaktes der DDR-Soldaten mit der Armee sowohl hinsichtlich Dauer, Isoliertheit als auch Unbedingtheit eine ungleich höhere war als im Westen.
Den Hauptteil des Buches bildet ein alphabetisch gegliedertes Stichwort-Glossar. Vor allem die genuinen Wortschöpfungen und Prägungen aus dem soldatischen Milieu finden hier ihren Niederschlag. Aber auch für ein ausreichendes Verständnis unerläßliche Informationen etwa von Gesetzespassagen finden ihren Platz (z.B.: Bausoldat). Das Wörterbuch dokumentiert vom Anfang bis zum Ende die unterschiedlichen Einflußsphären und die entsprechenden sprachlichen Reaktionen. Umgedeutete Namen von Westmedien finden sich (ARD bis ZDF) oder Gestalten aus DDR-Medien (Atomino, Pittiplatsch) wie auch Ostfahrzeuge (AWO bis Karpatenschreck). Natürlich wird das in der NVA gewachsene, hochdifferenzierte Brauchtum anhand der sich um Stichworte wie Anschnitt, Bandmaß (für derartige symbolträchtige Gegenstände gebraucht der Autor die Kategorie »Idol«), Diensthalbjahr, E/EK oder Tage rankenden Begriffe eingehend dargestellt.
Einen zweiten, nicht weniger interessanten Teil bildet ein ausführliches Verweisregister. Hier läßt sich anhand der aufgeführten Synonyme sogleich ein – gewiß nicht nur – NVA-Dauerproblem ablesen. Allein für ›Alkohol‹ finden sich weit über 100 Umschreibungen (›ASK‹, eigtl. Armeesportklub, für ›alle saufen komplett‹ bis ›zuschütten‹), ebenso unter ›faulenzen‹ (›abdrücken‹ bis ›zuppen‹). Mehrere Hundert Begriffe finden sich für die Stichworte, die mit dem Diensthalbjahresrang in Zusammenhang stehen (›Aal‹ – ›Zuppergemeinschaft‹).
Überhaupt zeigt sich, daß die Wortschöpfungen sich in hohem Maße an der Armeehierarchie und dem Verhältnis zur ([nicht] verstreichenden) Zeit orientieren, wobei beide Aspekte eine spannungsreiche Wechselbeziehung eingehen, welche sich wiederum in eigenen Prägungen widerspiegelt. (Aalglöckchen [wobei das verwiesene ›Aufklingen‹ oder ›Prediger‹.
Ein geheimnisumwobener Name hätte eine weitergehende Behandlung verdient. Der ›Deutsche Soldatensender‹ wird als besonders ›auf die Wehrdienstleistenden zugeschnitten‹ vorgestellt. ›Zum Programm gehörten beliebte Musiktitel, Grüße an Kameraden, kritische Berichte über die Bundeswehr‹. Nicht erwähnt wird, daß diese mysteriöse Sendeanstalt dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit unterstand. Er sendete aus Burg bei Magdeburg. Seine Aufgabe im »Kalten Krieg« bestand darin, die Wehrbereitschaft der Westdeutschen Bundeswehr zu »untergraben«. Der DSS bezeichnete sich als »einziger Sender der Bundesrepublik, der nicht vom Staat kontrolliert sei«. Daß er freilich seine höchste Zuhörerschaft in der DDR und dort weit über die NVA hinaus hatte, gehört zur Ironie der Geschichte dieses Propagandaunternehmens.
Bemerkenswert scheint weiterhin die Liste von Toponymen (›Arschbacke‹ – ›zur Post‹), wo die ›Villen‹ eigentlich noch ihren Platz verdienten. Ob sie hier nochmals in Gänze der lexikalischen Erläuterung bedürfen, bleibe dahingestellt.
Der Autor hat mit seinem Buch in souveräner Weise ein neues Feld erschlossen und nicht nur einen Meilenstein, sondern ein Sprachdenkmal errichtet. Den beredten Grabstein der Sprache einer nunmehr toten Armee. Einer Sprache, die noch manchem in den Ohren gellt und deren Begriffe mitunter das merkwürdige Schicksal jeglicher Soldatensprache teilen: sie sickern ein und werden zu Elementen der Alltagssprache.

Von »EKs« war damals die Rede, die »luftbereift« aus der Übung kamen und sich dann mit ihrem »Bandmaß« trösten mußten: Solche Redensarten und Rituale der untergegangenen DDR-Volksarmee geben Außenstehenden bis heute nur ein Rätsel auf. »Luftbereift« war zum Beispiel jemand, der sich beim Marsch Blasen gelaufen hatte. Das zentimeterweise gekürzte Bandmaß half beim Countdown für die letzten 150 Tage Wehrdienst (und hilft den Kameraden der Bundeswehr noch heute). Und »EK« hieß der Entlassungskandidat, der auf die anderen herabsehen durfte. Tausende solcher Ausdrücke hat der Potsdamer Germanist und ehemalige NVA-Unteroffizier Klaus-Peter Möller gesammelt. Herausgekommen ist das Porträt einer ganzen Kultur: Möllers Lexikon rettet eine Fülle urkomischer, aber oft auch entlarvender Schnacks für die Nachwelt. So hießen die Stahlhelme »Bügelfreie« und »Hurra-Tüten«, die Teewurst schmeckte wie »Panzerkitt«, und die Vitaminration für Grenztruppen war der »Fluchtverhinderungsbeutel«. DER SPIEGEL Nr. 41/10.02.2000, S. 228