Dirk Schumann
Herrschaft
und Architektur (= Studien zur Backsteinarchitektur, Band 2)
Otto IV. und der
Westgiebel von Chorin
Ȇber Chorin, das ehemalige Zisterzienserkloster in der
Mark Brandenburg, eine neue kunst- und architekturhistorische Arbeit vorzulegen,
mit dem Anspruch, über das bisher darüber Geschriebene hinauszugehen, erfordert
Mut.« So Ernst Badstübner, geistiger Mentor der 1997 von Dirk Schumann bei
Horst Bredekamp an der Humboldt-Universität Berlin erstellten und im selben
Jahr publizierten Diplomarbeit zur Westfassade der Choriner Klosterkirche, in
seinem Geleitwort. Diesen Mut bringt der Verfasser – Kunsthistoriker,
Archäologe, Bauforscher und (Mit-)Herausgeber einer inzwischen ansehnlichen
Reihe von Veröffentlichungen zur märkischen Backsteinarchitektur sowie Kunst
und Kultur der Zisterzienser im Lukas Verlag – angesichts der umfassenden
Literatur zu Chorin auf, welche von den frühen Äußerungen Franz Kuglers, David
Gillys und Karl Friedrich Schinkels über die Beobachtungen Georg Dehios und Wilhelm
Finders bis zur umfänglichen Baumonographie J. A. Schmolls gen. Eisenwerth
reicht. Doch macht bereits ihr Titel den neuen, über die bisherige Stil- und
formengeschichtliche Würdigung und Einordnung der Choriner Architektur
hinausgehenden Ansatz der Untersuchung Schumanns deutlich: Angeregt durch die
von Badstübner u.a. in seinem Aufsatz zum Thema »Klosterbaukunst und
Landesherrschaft« postulierten Vorstellung, wonach sich Architektur auch als
Ausdruck bestimmter politischer Aussagen lesen lasse, wirft der Autor die Frage
nach Funktion, Bedeutung und insbesondere Urheberschaft der Choriner
Westfassade auf. Einen weiteren unmittelbaren Anstoß zu den Betrachtungen
Schumanns gaben bauforscherische und archäologische Untersuchungen seitens der
Choriner Klosterverwaltung und unter maßgeblicher Beteiligung des
Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege in den 1990er Jahren. Die im
Zuge der Grabungen erfolgte Klärung von Detailfragen zum Bauverlauf,
insbesondere aber die Entdeckung eines vor dem westlichen Konventsflügel,
zwischen südwestlichem Pfortenhaus und an den Kirchen-Westbau anschließendem
»Fürstensaal« verlaufenden Ganges, ließen die Frage der Erschließung der
Westteile und die damit verbundene Gestalt der Kirchenfassade in neuem Licht
erscheinen. Mittels der Dendrochronologie (Jahresringanalyse) gewonnene Daten
erhärteten darüber hinaus die von Schmoll gen. Eisenwerth 1939 – ohne
Erbringung weiterer Beweise – formulierte Vermutung, die Ausführung der
Choriner Westteile falle nicht erst in das 14. Jahrhundert, sondern bereits mit
der Regierungszeit des Askanier-Markgrafen Ottos IV. »mit dem Pfeile«
(1266–1308) in das ausgehende 13. Jahrhundert. Diese Ansätze aufgreifend,
unternimmt Schumann den Versuch, durch historische, bauforscherische, strukturelle
und kunsthistorische Analysen einen direkten ursächlichen Zusammenhang zwischen
der in die umgebende Landschaft wirksamen Choriner Westfassade und der
landesherrlichen Tätigkeit Ottos IV. nachzuweisen.
Im ersten Schritt der Untersuchung werden die historischen Voraussetzungen und
Umstände der markgräflichen Gründung eines Zisterzienserklosters in Mariensee
(1258) und dessen spätere Verlegung an den Chorinsee (1273) beleuchtet. Das
Phänomen der enge Verflechtung von sakraler Stiftung und askanischer Herrschaftslegitimation
durch Traditionsbildung zum Zweck der markgräflichen Selbstdarstellung macht
der Verfasser am Beispiel der wohl durch Albrecht III. (gest. 1300) gegründeten
Magdalenenkirche in Eberswalde anschaulich. Dem Manko fehlender Quellen, das in
diesem Fall und generell einen stichhaltigen Nachweis solcher Zusammenhänge
verbietet, setzt Schumann für Chorin eine Analyse des höfisch-kulturellen
Hintergrundes der Askanier entgegen. Der Autor gelangt zu dem Schluß, daß die
insgesamt auf Schriftlichkeit verzichtende und somit »bildlich« ausgerichtete
höfische Kultur am askanischen Hof zum einen bzw. der nachweislich hohe
Bildungsstand Ottos IV., welcher in seinen Minne-Dichtungen Niederschlag fand,
die Autorenschaft des Askaniers für die zeichenhafte »Architektursprache« der
Choriner Westfassade denkbar macht. Als in diesem Zusammenhang besonders
schlagkräftiges Argument kann die von Schumann herausgearbeitete Tatsache
bewertet werden, daß zur Zeit des mutmaßlichen Abschlusses der Bauarbeiten in
Chorin, d.h. im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, Otto IV. den
Schwerpunkt seiner Hofhaltung in die Gegend um die Choriner Schorfheide
verlagerte. Die drei Burgen Werbellin, Grimnitz und Angermünde, von Schumann
aufgrund ihres engen räumlichen Bezuges als ein einziger Residenzort
charakterisiert, wurden besonders an hohen kirchlichen Feiertagen vom
markgräflichen Hof aufgesucht, so daß ein zeitgleiches intensives Interesse am
jeweils nahegelegenen Choriner Gotteshaus auf der Hand liegt. Schließlich
bekräftigt der Autor die jüngsten Überlegungen Wolfgang Erdmanns, wonach der
erste Kirchenbau auf der Marienseer Halbinsel zunächst lediglich als Grablege
für deren Fundator Johann I. dienen sollte, während die herausragende Bedeutung
Chorins als Memorial-Grablege für die johanneische Askanier-Linie dem
Zisterzienserkonvent erst nach seiner durch Otto IV. selbst veranlaßten und
beurkundeten Verlegung nach Westen, an die wichtige Handelsstraße zwischen
Eberswalde und Angermünde, zukam.
Nach diesen ersten Hinweisen zu den engen Beziehungen zwischen Chorin und
Markgraf Otto IV. widmet sich der zweite Teil der Arbeit der Beschreibung und
Analyse der Choriner Westfassade. Hinsichtlich der bislang umstrittenen Frage
zur Ursache des asymmetrischen Vortretens des südlichen Seitenflügels der
Westfront führt Schumann zunächst den an dieser Stelle vor der heutigen
Wandflucht ansetzenden, neu entdeckten »Konversengang« ins Feld. Doch zeigt
sich bei genauerer Analyse des Kirchengrundrisses, daß diese »Unstimmigkeit«
durch die Beibehaltung der Jochmaße beim Bauverlauf von Ost nach West durchaus
hätte vermieden werden können. Mit der im Zuge einer Planänderung vorgenommenen
Verkürzung der westlichen Langhausjoche (gegenüber den vorbildlichen Jochmaßen
des Lehniner Gotteshauses) wurde die Fassadenstaffelung bewußt in Kauf genommen
und muß somit als Teil der künstlerischen Gestaltung gelten. Auch für den
Aufriß der Westfassade weist Schumann die Modifizierung eines ursprünglich
anders angelegten Bestandes nach, erst in einem zweiten Anlauf wurden die bis
dahin unterschiedlich hohen Seitenflächen zu einem Abschluß auf gleicher Höhe
gebracht. Innerhalb einer anschließenden Strukturanalyse der Fassade stellt
Schumann in eben jenen, nach der Planänderung ausgeführten oberen Teilen des Westgiebels
eine auffällige Rhythmisierung der Wandflächen durch Fensteröffnungen und die
modulartige Verwendung von Giebeldreiecken und Wimpergen fest. Die zur
Bekräftigung der These, Otto IV. könnte der geistige Urheber der dabei
erzielten gestalterischen Harmonie gewesen sein, in einem Exkurs gezogenen
Parallelen zwischen den Merkmalen des Fassadenaufbaus und den Reimformen der
überieferten Verse des markgräflichen Minnedichters sind methodisch innovativ
und im assoziativen Sinne durchaus überzeugend, doch muß auch der Autor
einräumen, daß auf eine »persönliche Handschrift« des Askaniers aus diesen
Zusammenhängen nicht mit Sicherheit geschlossen werden kann.
Auf sowohl in der Vorgehensweise als auch im Ergebnis deutlich sichererem Boden
bewegt sich Schumann im dritten Abschnitt seiner Untersuchung, in der die zuvor
beschriebenen Bauformen und der Bauschmuck architekturgeschichtlich eingeordnet
werden. Dabei bestätigt sich der von den älteren Autoren konstatierte
»unzisterziensische« Charakter der Choriner Westfassade, den Schumann auf die
deutlichen Zitate imperialer Sakralarchitektur der ottonisch-salischen und
staufischen Zeit zurückführen kann. So evoziert die Fassadengliederung mit
überhöhter Mitte und seitlich flankierenden Treppentürmen das in die Fläche
projizierte Bild einer romanischen Dreiturmgruppe. Die anspruchsvolle äußere
Erscheinung verweist zugleich auf die Binnengliederung des Westbaus: Die
zweijochige Westempore, von einem polygonalen Gewölbe überfangen und durch die
großen Lanzettfenster belichtet, zeigt Anklänge an einen liturgischen Westchor
und wirkt als bühnenhafter Ort herrscherlicher Repräsentation. Diese
»Anspielungen auf imperiale Zeichen« auf verschiedenen Ebenen entsprechen auf
eindrückliche Weise dem hochgesteckten Selbstverständnis Ottos IV., der neben
der Ausübung königlicher Regalien, welche mit der Kurwürde und dem
Erzkämmereramt verbunden waren, durch sein Mitbestimmungsrecht bei der
Bischofswahl kaisergleich in Erscheinung trat.
Bei der abschließenden Untersuchung der Details der Choriner Fassadengestaltung
hinsichtlich ihrer Herkunft läßt sich zum einen, z.B. für die Maßwerkmotive,
eine Orientierung an den für die deutsche Zisterzienserarchitektur allgemein
prägenden Hauptwerken der französischen Kathedralgotik feststellen, während die
Choriner Blendgiebel und Wimperge eine formale Verwandtschaft zur
zeitgenössischen Profanarchitektur der norddeutschen Hansestädte nahelegen.
Indem der Autor von hieraus wiederum einen Bogen zu Otto IV., dessen höfischer
Bildung und politischen Ansprüchen einschließlich der wirtschaftlich
motivierten Expansionsbestrebungen in den Ostseeraum schlagen kann, gewinnt die
Idee von einer unmittelbaren Beteiligung des askanischen Markgrafen an der
Entstehung des Westgiebels der Choriner Klosterkirche nochmals an Prägnanz und
Überzeugungskraft. Vor allem aufgrund dieser neuen Erkenntnisse, aber auch
wegen ihres methodisch anregenden, interdisziplinären Ansatzes, stellt die
Arbeit Dirk Schumanns einen wesentlichen Beitrag zu einem erweiterten
Verständnis der märkischen Architektur des Mittelalters dar. Petra Marx im
»Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands«, Bd. 46(2000), S.
334–336
Seit einigen Jahren gibt es eine neue Studienreihe, die
sich der Backsteinarchitektur widmet. Angeregt wurde sie von zahlreichen neuen
Erkenntnissen, die Bauforschung und Bauarchäologie in den Backsteingebieten ans
Licht gebracht haben. Insbesondere die soziokulturellen Hintergründe der Bauten
und die Technologien der Herstellung und Verarbeitung des Baustoffs Backstein
sollen hier beleuchtet, und es soll ebenso über archäologische Methoden
diskutiert werden. Der erste in dieser Reihe erschienene Band ist die
Abhandlung Schumanns, die sich einem der bekanntesten und eindrucksvollsten
Bauwerke der Zisterzienserbaukunst im Backsteingebiet widmet: dem Kloster
Chorin in Brandenburg. Seit den Zeiten Schinkels, der sich ausgiebig mit diesem
Bauwerk beschäftigte und es zum Gegenstand seiner denkmalpflegerischen
Ambitionen machte, ist viel über dieses Bauwerk geschrieben worden. Das Neue an
Schumanns Untersuchung ist, daß er den Bau mit der Persönlichkeit des
Markgrafen Otto IV. von Brandenburg eng verbindet. Gestützt durch neueste
bautechnische und archäologische Forschungen erklärt er so die ungewöhnliche
Prachtentfaltung an einem Bauwerk des Zisterzienserordens. Eine der Hauptfragen
bei der Beschäftigung mit Chorin war stets die Gestalt der Westfassade.
Schumann interpretiert sie als Projektion eines dreitürmigen Westwerks in die
Fläche, also als Kompromiss zwischen den baulichen Traditionen des Ordens und
der Bedeutung des Klosters als religiöser Mittelpunkt und neue Grablege der
johanneischen Linie der Askanier. Kunsthistorische Arbeitsblätter, Heft
2/2000
Es ist das Verdienst des Autors, nicht nur neue
bautechnisch und archäologisch bedeutsame Details vorzulegen, sondern vor allem
die Bindung der Baugeschichte und der Baugestalt der Choriner Westfassade an
die Herrscherpersönlichkeit Otto IV. aufgezeigt zu haben. Erbe und Auftrag.
Benediktinische Monatschrift, Heft 5/1998