Holger Brohm
Die Koordinaten im Kopf
Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR in den 1960er Jahren. Fallbeispiel Lyrik

Diktaturen zeichnen sich dadurch aus, daß sie Kunst und besonders Literatur mit einer Schärfe kontrollieren und überwachen, die in einer Demokratie unvorstellbar ist. Totalitäre Kontrolle unterdrückt den Künstler, gibt ihm aber auch eine Bedeutung, die in offenen Gesellschaften vergleichbar nicht vorhanden ist. Dabei ist Zensur nur eine Form der Unterdrückung, typisch für beide deutsche Diktaturen war vielmehr, daß sie mit Selbstzensur und ideologischem Fanatismus gepaart war. Dagegen verwundert eher, daß in der DDR besonders während der Lyrik-Welle der 1960er Jahre junge Dichter das Mißtrauen der Politbürokraten erregten. Im Zentrum der Untersuchung von Holger Brohm stehen die Gutachten, die zu jedem literarischen Text von Literaturwissenschaftlern und -kritikern, von Kulturpolitikern und auch von Autoren verfaßt wurden. Mit ihrer Einschätzung schufen diese eine pseudo-wissenschaftliche Grundlage für die Annahme oder Ablehnung eines Werkes durch die staatliche Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, die eigentliche Zensurbehörde. Hier lag die wirkliche Macht bei der Schaffung literarischer Öffentlichkeit und damit schriftstellerischer Anerkennung und nicht bei der Literaturkritik oder beim Urteil der Leser. Neu an der Darstellung Brohms ist vor allem die Schilderung auch von Lyrik als politischem Kampfplatz, und daß er hier ein größeres Tableau handelnder Personen ins Blickfeld rückt. Allerdings wirkt die für die Beschreibung seines Forschungsfeldes angewandte und auf Pierre Bourdieu zurückgehende Theorie des literarischen Feldes unnötig und aufgesetzt. Aber dies ist immer wieder beim Versuch einer Übertheoretisierung zu beobachten.
Rainer Ecken in »Das Historisch-Politische Buch«, 50. Jahrgang 2002, Heft 6, S. 614

Die Beziehungen zwischen der künstlerischen Avantgarde und der politischen Führung der DDR waren von Konflikt und Kooperation geprägt. Auf dem Feld der Auslegung der sozialistischen Sakraltradition wurde um das Wahrheitsmonopol gestritten. Kooperiert wurde auf dem Feld des Aufbaus des Sozialismus, was auch in vielen Fällen die Mitarbeit im Staatssicherheitsdienst nach sich zog. Die Zensur diente als Machtmittel der politischen Führung, die Grenzen der Auslegung der sozialistischen Sakraltradition nicht zu überschreiten. Um die permanenten Grenzkonflikte zwischen künstlerischer Autonomie und politischer Heteronomie detailliert zu erfassen, bedient sich Holger Brohm der von Bourdieu entworfenen Konzeption des literarischen Feldes. Damit sollen die schlichten Dichotomien von Autonomie und Heteronomie aufgebrochen und statt dessen die komplexe Relation der Akteure und Positionen auf dem literarischen Feld analytisch erfaßt werden. In Fallstudien über den Aufbruch einer neuen Lyrik-Generation (Lyrik-Abend der Akademie der Künste Dezember 1962), die Verweigerung der Druckgenehmigung für den Lyrikband Erinnerung an einen Planeten von Günter Kunert, die FORUM-Lyrik-Debatte über die Anthologie In diesem besseren Land (Adolf Endler und Karl Mickel) und Volker Brauns frühe Lyrik gelingt es Brohm, die verschlungenen Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Zensurbehörden, der Ideologischen Kommission des Politbüros, den Fachgutachtern der Verlage und den wechselnden Strukturbedingungen des politischen Feldes nachzuzeichnen. In vielen Fällen dient die Lyrik als Relaisstation, auf der sich die verschiedenen Akteure, Positionen und Felder treffen, um ihre Dominanzansprüche geltend zu machen. So diente Kunerts zensierte Lyrik der Parteiführung der SED 1963 dazu, die Parteisoldaten auf dem politischen wie literarischen Feld zur Wachsamkeit zu ermahnen, vor ideologischem Verrat und Fraktionsbildung zu warnen und die Richtlinien für eine modifizierte Kulturpolitik neu zu bestimmen. Eine strukturelle wie kulturelle funktionale Differenzierung des politischen und des literarischen Feldes wurde damit verhindert und gleichzeitig eine ideologische Fixierung auf einen sozialistischen Kanon erreicht, der aber eine zunehmende künstlerische Verarmung bedeutete.
Klaus Georg Riegel in
»Jahrbuch Extremismus und Demokratie«, 14. Jahrgang 2002, S. 354

[…] Aber es geht nicht nur um Quantitäten. Das zeigt ein Vergleich mit der späteren DDR, deren Zensur in den Verlagen, Institutionen und Ministerien für Kultur und Staatssicherheit ebenfalls mit dem Mittel von Gutachten arbeitete. Als Gutachter traten dort nicht nur ideologische Parteibeamte vom Schlage Hans Kochs oder Klaus Höpckes auf, sondern vor allem Autoren selbst, die […] teils offen, teils anonym für die Zensur tätig waren. Das machte sie qualifizierter, aber auch anfälliger für die Tendenz zu einer aufgeklärten Selbstzensur, wenn etwa Gerhard Wolf als einer der meistbeschäftigten Gutachter tätig war. (Nicht für die Staatssicherheit, das blieb Uwe Berger und Paul Wiens vorbehalten.)
Auch ihre Gutachten können heute nachgelesen werden. Wie die »Koordinaten im Kopf« funktionierten, zeichnet Holger Brohm in seiner jüngsten Studie über Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR-Lyrik der sechziger Jahre nach. Daß auch diese Zensur unterlaufen wurde und letztlich fiel, macht Mut.
Hannes Schwenger in »Die Welt / Die literarische Welt« vom 28.12.2002