Robert Suckale (Hg.)
Rudolf Berliner (1886–1967)
»The Freedom of Medieval Art« und andere Studien zum christlichen Bild

 

Das Internet weiß alles und sonst nichts. Von dem Kunsthistoriker Rudolf Berliner (1886–1967) kennt es lediglich den Sammelband von Aufsätzen, die Robert Suckale neu herausgegeben hat, sowie eine Rezension dieses Bandes von Andreas Beyer (FAZ vom 2.6.2003) – keine Biographie, kein Foto, keine Bibliographie. Das ist kennzeichnend für diesen Kunsthistoriker. Wer allerdings in den 1980er Jahren in München Kunstgeschichte studierte und bei Robert Suckale, damals Oberassistent, z.B. die Vorlesung »Kunst um 1400« besuchte, der wurde mit einigen Aufsätzen Berliners vertraut gemacht, vor allem den Studien zu den Arma Christi. Das geschah auf so eindringliche und lebendige Weise, daß zumindest dieses Thema zum Bestandteil ihrer Lehre wurde, als aus den Studierenden von damals Lehrende wurden.
Dieser Band versammelt vierzehn Aufsätze Berliners, ergänzt um die Bibliographie seiner Schriften (107 Nummern) und ein kombiniertes Sach- und Namenregister. Robert Suckale hat dem Band die Biographie Berliners und eine Würdigung seiner Verdienste vorangestellt. Damit ist das Buch auch ein Beitrag zur Fachgeschichte, und zugleich ist es eine Hommage an Berliner. Suckales Bemühungen um die Verbreitung von Berliners Forschungen haben Wirkungen: Wer z.B. die Ausstellung »Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern«1 besuchte, konnte vor den Christkindern, ihren Gewändern und Krippen und auch vor den Holzschnitten, die in Bonn gezeigt werden, nicht umhin, an Berliner zu denken, der diesen Objekten ihren Platz in der Kunstgeschichte verschafft hat. Er erforschte in grundlegender Weise, wie diese Bilder (auch Weihnachtskrippen sind als Bilder zu verstehen) theologische Lehre, alltägliche Frömmigkeitspraktiken und deren Wirkung miteinander verbanden oder auch eben nicht verbanden. Anhand solcher Objekte und Praktiken fragte Berliner danach, was »Realismus«, was »Wirklichkeit« ist – das »Wirklichkeits- und Wirkungsverständnis des christlichen Bildes« (Vorwort, S. 16) waren Kernfragen Berliners.
Warum diese Neuausgabe einiger Aufsätze? Suckale begründet sie im Vorwort damit, daß Berliners Arbeiten zwar immer wieder zitiert werden, sein Werk aber im Ruf stehe, »disparat zu sein und wenig zeitgeistgemäß. Vor allem sein neuer Ansatz zum Verständnis des christlichen Bildes wurde kaum wahrgenommen […] Denn anders als die Erfolgsautoren seiner Generation […] wollte er gerade nicht ›das‹ Mittelalter ›auf den Begriff‹ bringen (S. 7). Suckale geht es darum, die Verdienste eines Kunsthistorikers in das Bewußtsein des Fachs zu heben, der im Schatten von Zeitgenossen stand, die – Suckale zufolge – dank einprägsamer, griffiger Begriffsbildungen in der Kunstgeschichte präsenter blieben. Dazu kommen noch andere Gründe. Berliner gehörte zu den wenigen Kunsthistorikern, die sich nicht genierten, die sog. Volkskunst und »große« Kunst miteinander zu verbinden. Auf diese Weise gelang es ihm, z.B. den Weihnachtskrippen denjenigen Stellenwert zurückzugeben, den sie zur Zeit ihrer Hochkonjunktur hatten. Dasselbe gilt auch für die Darstellungen der Arma Christi und für die ornamentalen Vorlagenblätter, um nur die wichtigsten zu nennen. Mit Ausnahme der Arma Christi sind dies diejenigen Gebiete, zu denen Berliner nicht nur Aufsätze, sondern auch Monographien bzw. Kataloge und Mappenwerke publizierte.2 Bei einer Liste von insgesamt 95 Titeln (ohne die 17 Rezensionen) erscheinen inklusive der Dissertation über die Handschrift Cod. par. gr. 139 nur sieben in dieser Form. Auch das hat wohl mit dazu beigetragen, daß – wie Berliner selbst beklagte3 –, seine »neuartigen Ergebnisse und Fragestellungen« so wenig von der Kunstgeschichte aufgegriffen wurden. Was im betreffenden Aufsatz folgt, ist in gewisser Weise eine Zusammenfassung seiner Anliegen: die präzise Definition von Begriffen, die genaue Analyse des immer als individuell zu verstehenden Werkes, die Kenntnis und Erforschung der Frömmigkeitspraktiken sowie der Theologie. Dies trägt er mit einer gewissen Vehemenz und auch Aggressivität gegenüber Irrtümern von Kollegen vor. Grundsätzliche Bemerkungen zu kunsthistorischen Methoden, ihren Möglichkeiten und Grenzen, durchziehen auch seine anderen Aufsätze; aus diesem Grund möchte man sie Studierenden zur Lektüre empfehlen. Damit ist ein weiterer Grund für Berliners karge Rezeption dingfest gemacht: er war Museumsmann und hatte nicht im selben Ausmaß wie Universitätslehrer die Möglichkeit, durch Schüler zu wirken.
Berliner dürfte nicht der einzige »Fall« dieser Art sein. Ob es wirklich nur die eingängigeren Formeln (nicht Formulierungen) waren, die über den Einzug in die Ruhmeshalle der Kunstgeschichte entschieden, kann man noch nicht absehen. Die Netzwerke und Strategien, sowie ihre Motive, die zu Ausgrenzung oder Integration führten, sind noch zu wenig erforscht. Es fehlt auch noch die Grundlagenarbeit zu vielen Kunsthistorikern. Wer beispielsweise Ulrike Wendlands Handbuch vertriebener Kunsthistoriker durchsieht4, dem wird klar, wieviel historiographische Forschungsarbeit die Kunstgeschichte noch zu leisten hat.
Eine Würdigung der Aufsätze Berliners im einzelnen wäre eine Arbeit für sich, die in eine Darstellung der Forschung seit Berliner nicht nur zum Andachtsbild, sondern zur christlichen Ikonographie überhaupt münden würde und in die zum Verständnis des christlichen Bildes, und damit auch zum Bildbegriff. Darum geht es Suckale nicht, so wünschenswert es wäre. Suckale geht es darum, den Auslöser, die Initialzündung zu zeigen. Das gelingt ihm in seinem Vorwort. Hätte er es als Aufsatz publiziert, wäre es wohl ohne Widerhall geblieben. Die Tatsache, daß Suckale Aufsätze seines Vorbildes als Buch neu herausgegeben hat, verleiht dem schon dank der Form als Buch mehr Gewicht als ein bloßer Aufsatz. Daß dies für die Kunstgeschichte Konsequenzen hat, und vielleicht sogar der Anstoß zur Wiederentdeckung weiterer Vertreter unseres Fachs wird, muß man Suckale, Berliner und der Kunstgeschichte wünschen.

1             Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern. Essen, Ruhrlandmuseum: Die frühen Klöster und Stifte 500–1200. Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland: Die Zeit der Orden 1200–1500, München (Hirmer) 2005.
2             Allerdings hat der Arma Christi-Aufsatz einen Umfang von 117 Seiten. Zuerst in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3. Folge, 6, 1955, S. 35–152, ed. Suckale S. 97–191.
3             Die Rechtfertigung des Menschen, in: Das Münster 20, 1967, S. 227–238, ed. Suckale S. 253–267, das Zitat S. 253; zuvor schon ders.: »Der Logos am Kreuz«, in: Das Münster 11, 1958, S. 177–180, ed. Suckale S. 213–216, S. 213.
4             Wendland, Ulrike: Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, München (Säur) 1999.


Prof. Dr. Renate Prochno in Mediaevistik 19 – 2006

 

Der von Robert Suckale herausgegebene Band versammelt 14 Arbeiten des jüdischen, in die USA geflohenen Kunsthistorikers (1886–1967), die um die Darstellung der Passion Christi kreisen und Bilderzeugnisse des Mittelalters ebenso berücksichtigen wie solche der frühen Neuzeit. Von unschätzbarem Wert und monographischem Umfang ist die Arbeit über die »Waffen Christi« (Arma Christi, 1955). Nach Berliner zeichnet sich christliche Kunst dadurch aus, daß sie »dem Religiösen« vor dem Ästhetischen die Priorität einräumt. Suckale würdigt den Autor zu Recht als einen großen und vorbildhaften Erforscher christlichen Bildmaterials. Ein hilfreiches Register ist beigegeben.
International Review of Biblical Studies, Internationale Zeitschriftenschau für Bibelwissenschaft und Grenzgebiete, Universität Paderborn, vol. 50, 2003/04, no. 2324

 

Die vorliegende Edition ist kein schneller Reader aus photographierten Erstveröffentlichungen, sondern alles völliger Neusatz samt den alten Abbildungen in ansehnlicher Qualität und die Verwandlung aller Endnoten in Fußnoten, was dem Benutzen des jeweils umfangreichen Apparates sehr zugute kommt. Das Werk erscheint auch nicht auf dem gängigen Kunstmarkt der Feuilleton-Ingroups und ist doch oder gerade deshalb eine veritable Wiederentdeckung für die deutsche Kunstgeschichte, wenn auch nicht für bayerische Volkskundler, stammt doch der Autor aus dem Bayerischen Nationalmuseum der Vor-NS-Zeit und war nach dem Kriege dem Hause wieder und weiterhin verbunden durch sein aus dreißig Jahren Forschung entstandenes berühmtes Standardwerk über die »Weihnachtskrippe« als Gesamtkunstwerk (München 1955) und die ikonographischen Studien im »Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst«, im »Münster« und im »Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde«. Zu Berliners 80. Geburtstag 1966 hatte der damalige Generaldirektor Theodor Müller einen Privatdruck mit seiner Bibliographie publiziert, die hier, nun ergänzt, allgemeiner zugänglich wird und zugleich, von I – XIV durchnumeriert, zwischen Nr. 40 und 90 die ursprünglichen Erscheinungsorte der wiederaufgelegten Arbeiten nachweist. Einer der späteren Generaldirektoren, Lenz Kriss-Rettenbeck, ist es gewesen, der den profanen oder genauer: eigentlich evangelisch sozialisierten Genius einer in Vergessenheit geratenen christlichen Bilderwelt des Mittelalters stets hochgehalten hat, und auf den sich darum der nunmehrige Herausgeber Robert Suckale berufen kann. Alle Welt bei uns kennt inzwischen die aus London nach Deutschland zurückgekehrte »Bilderwissenschaft« Aby Warburgs am Beispiel seiner Untersuchungen zur Antikenrezeption, und jeder Gebildete hat schon von »Sinn und Deutung« der Kunstwerke durch den Vater des amerikanischen Ikonographismus, den deutschen Emigranten Erwin Panofsky gehört, wenige aber nur wissen, wer der Berchtesgaden-Heimkehrer Rudolf Berliner gewesen ist, der 1933 aus dem Dienst des BNM entfernt, Deutschland 1939 gerade noch verlassen konnte.
Robert Suckale, der selbst gerade sechzig Jahre alt gewordene kunsthistorische Mediävist aus Münchner Lehrjahren und erfolgreicher Bamberger Aufbauzeit der dortigen Kunstgeschichte an der jungen Universität, heute an der TU-Berlin lehrend, betreibt vielbeachtete Projekte zur Architekturgeschichte und Denkmalpflege. In Bamberg hat er einen kunsthistorischen Stadtführer hinterlassen, der jedem Kulturwissenschaftler Ehre machen könnte, wenn der nur soviel von Kunstgeschichte verstünde wie Suckale von sozialwissenschaftlichen und kulturhistorischen Zusammenhängen und Hintergründen, denn er bietet völlig anderes als die üblichen Werkbeschreibungen und Meisterbenennungen der zuvor zünftig gewesenen kunstwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Wenn heute Literaturwissenschaftler Dichtung als Denkform begreifen, so Suckale die bildende Kunst nicht anders denn als Erkenntnismöglichkeit von Welt durch die Sprache der konkret gewordenen Imaginationen.
Suckale eröffnet den Band nach einem Vorwort über den Nachlaß des Autors und fährt dann fort mit einer gründlichen Untersuchung über »Rudolf Berliner und sein Beitrag zum Verständnis des christlichen Bildes«, das mit einer Rekonstruktion des Lebenslaufes und Bildungsgangs beginnt, wie er so ausführlich bislang noch nicht vorlag. Aus einer schlesischen Fabrikantenfamilie stammend, hat Berliner 1899 in Berlin das Abitur abgelegt und ist 1910 in Wien bei den Kunsthistorikern Josef Strygowski und Max Dvorak nur mit Ach und Krach promoviert worden, weil er sich seinem Doktorvater, dessen sektiererisches »Heidnischwerk« der Indogermanen später der NS-Ideologie zugute kam, nicht fügte. In München brachte er es ab 1912 am Bayerischen Nationalmuseum bis zum Hauptkonservator, welche Position damals automatisch mit dem Professorentitel verbunden war und die Redaktion des »Münchner Jahrbuchs der bildenden Kunst« einschloß. Seine rege Ankaufstätigkeit für die Volkskunde korrespondierte mit den besonderen Interessen des damaligen Direktors Philipp Maria Halm und geht zurück auf die enge Bekanntschaft mit Marie Andree-Eysn und dem jugendlichen Rudolf Kriss, beide in Berchtesgaden, wo Berliner ein bäuerliches Lehen aus der Erbschaft seiner Stettiner Ehefrau als Sommersitz besaß, das er nach 1945 restituiert bekam und durch dessen Verkauf er seinen Lebensabend in Deutschland und den USA mitfinanzierte.
Robert Suckale deckt bei Rudolf Berliner genuine Erkenntniswurzeln unseres heutigen Verständnisses vom Wechselverhältnis zwischen Bild und Kult auf. Diese Überzeugung steht gegen die Prioritätsansprüche der Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte oder dem ethnological, sprich cultural turn, und den dadurch ins allgemeine Bildungswissen meist noch nicht vorgedrungenen realistischeren Vorstellungen von Kunstproduktion im Mittelalter einerseits und andererseits dem dominierenden Feuilletonwissen der nur modischen Fortschrittler. Berliner lehnte z.B. Panofskys engen Andachtsbildbegriff ab und setzte sich mit Gombrichs nicht minder eingeschränktem Symbolbegriff auseinander. Er postulierte vielmehr für das Mittelalter die Existenz einer damals pluralistischen Exegesemöglichkeit. Das nannte er die »Freiheit« jener Bilderfindungen. Er faßte in einem viel radikaleren Sinne ganz generell Kunst als Sprache auf und Ikonographie als Bildpraxis. Man möchte hier Cassirers generalisierende Philosophie der symbolischen Formen zitieren wollen, die sich nach dem Kriege unter deutschen Kulturwissenschaftlern durchgesetzt hat. Bei Berliner ist dies indirekt schon dagewesen, konkret bezogen und minutiös exemplifiziert am Fallbeispiel z.B. der Arma Christi, dem Urteil des Pilatus, dem Schmerzensmann, dem Logos am Kreuz, der Ährenkleidmadonna.
Bis auf den heutigen Tag nicht überholt ist seine Studie zu den Erlösungsbildern der Arma Christi im Münchner Jahrbuch 1955, hier nun S. 97–191 nachgedruckt, gefolgt von den im weitesten Sinne inneren Ergänzungen dazu im BJV 1956 über ungewohnte Darstellungen des Gekreuzigten, hier S. 93–96, und die Studie für Theodor Müller im Münster 1956 zum Erlöser als Schmerzensmann, hier S. 192–212, aber auch noch am gleichen Ort 1967 über die Rechtfertigung des Menschen in Christusbildern des Föns Vitae, hier S. 253–267, womit Suckales Neuedition schließt. Berliner schreibt in diesem seinem tatsächlich auch letzten Text einleitend von der Genugtuung über positive Zuschriften systematischer Theologen zu seinen kunsthistorischen Überlegungen und verweist zurück auf seine Rezension des damals berühmt werden sollenden Büchleins des in Frankfurt lehrenden Dogmenhistorikers Aloys Grillmeier S.J.: Der Logos am Kreuz, München 1956, auch dies hier nochmals abgedruckt auf den S. 213–216, wo Berliner schreibt: »Was mir nicht gelang: die trägen Wasser der christlichen Ikonographie aufzurühren, wird hoffentlich dem Buche von Prof. Aloys Grillmeier […] gelingen«, und er verdeutlichte mit seiner ausführlichen und weiterführenden Besprechung abschließend die »paradoxe Lage, daß ich die Anzeige des Grillmeierschen Buches mit einer Art Selbstanzeige verbinden mußte. Erst in der Zusammenschau mit meinen Aufsätzen kann aber seine volle Bedeutung erkennbar werden Er hätte nicht wenig gestaunt, was wir vor einem Jahrzehnt erlebt haben, daß der inzwischen betagte und an den Rollstuhl gefesselte Grillmeier, auch 1995 noch nicht im neuen Lexikon für Theologie und Kirche vermerkt, 1994 im Alter von 84 Jahren zum Kardinal kreiert worden ist, worüber wiederum nur das politisierte Feuilleton Erstaunen zeigen konnte. Vier Jahre später ist er verstorben und steht heute im Nachtrag des LThK.
Noch etwas anderes lehrt die bisherige Unzeitgemäßheit Berliners. Sein wichtigstes Publikationsorgan, die Zeitschrift für christliche Kunst »Das Münster« aus dem Verlag Schnell und Steiner, das u.a. Themen wie modernes Bauen und historisches Verstehen von mittelalterlicher Kunst miteinander zu verbinden suchte und darum in Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet war, kämpft schon seit Jahren ums Überleben aus Mangel an Abonnenten vor allem aus Kirchenkreisen, zu denen der Agnostiker Berliner bekanntlich nie gehört hat. Nicht anders geht es dem Jahrbuch für Volkskunde der Görres-Gesellschaft, das 27 Jahre lang im Sinne Kriss-Rettenbecks religiöse Volkskunde als Bildwissenschaft von der Art Berliners fördern durfte dank bisheriger Subventionierung. Das hohe Niveau des wissenschaftlichen Diskurses und die Breite der dazugehörigen Sachthemen schützen in Zeiten des öffentlich favorisierten generellen Rückzugs der Geistes- und Kulturwissenschaften aus historischen Studien dieser speziellen Grundlagenforschung nicht vor der gesellschaftlichen Marginalisierung.
Ein Letztes, das ich aus Leben und Werk Rudolf Berliners für unser Fach erkenne. Volkskunde war einst zwischen Philologie und Ethnologie angesiedelt und changiert heute zwischen spekulativer Soziologie ohne eigenes Profil und räsonierender Sozialhilfe ohne Praxis. Der »Museumsmann« Berliner ist ein theoretisierender Kopf von eigenständigem Denken gewesen, und er hat dieses aus dem ständigen Umgang mit den konkreten Dingen der überlieferten Realien bezogen, das heißt aus der analysierenden Wahrnehmung von lesbar gemachten Bildern, an denen sich die »bloßen« Ideen der Essayisten erst wirklich zu bewähren haben. Nirgendwo sonst als im Museum heißt es, täglich Farbe zu bekennen, nämlich Zuschreibungen vielfältiger Art zu wagen, die jeweils rückgekoppelt bleiben an einen Gegenstand, der kein Davonlaufen zu bequemeren Fragen und unverbindlicheren Antworten erlaubt.
Wolfgang Brückner im »Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde« 2004

 

Die Bücher und Aufsätze des Kunsthistorikers Rudolf Berliner (1886–1967) dürfen mit zum wichtigsten gehören, was zur christlichen Kunst des Mittelalters überhaupt publiziert worden ist. Zugleich sind sie nahezu unbekannt, allenfalls Experten darf man zu den Bewunderern Berliners zählen. Das mag zunächst daran liegen, daß es Berliner seinen Lesern nicht leicht macht: Die Texte entziehen sich der oberflächlichen Lektüre, sie sind gespickt mit Verweisen und Bildungsgut, zudem verweigern sie sich jeder Verallgemeinerung außer derjenigen, daß ein Bild weit mehr ist als der ihm möglicherweise zugrundeliegende Text – und daß dieser keineswegs immer nur die Bibel ist. Darüber hinaus war Rudolf Berliner als Jude die Möglichkeit verweigert, in Deutschland Karriere zu machen und nach der Katastrophe des »Dritten Reiches« immerhin Anerkennung oder gar Wiedergutmachung zu erfahren, 1933 wurde er für einige Zeit im KZ Dachau interniert und 1935 aus dem Museumsdienst am Bayerischen Nationalmuseum München entlassen. Seit Jahren verweist Robert Suckale auf die Bedeutung der Schriften Rudolf Berliners, und wie kostbar diese sind, davon kann sich nun jeder durch die Lektüre des Wiederabdrucks einiger seiner Texte zum christlichen Bild überzeugen. Hier geht es um Dürers Holzschnittfolge der »Kleinen Passion«, um Darstellungen der »Ährenmadonna«, um die Freiheit in der mittelalterlichen Kunst, um Fragen der Christusikonographie und schließlich um Raphaels Sixtinische Madonna als religiöses Kunstwerk. Herausgegeben und eingeleitet wird das Buch durch einen Text von Robert Suckale, der fundiert über Leben und Karriere Rudolf Berliners berichtet und substantiell dessen Vorstellungen vom christlichen Bild analysiert.
Alexander Markschies unter http://www.kunstbuchanzeiger.de/de/themen/epochen/rezensionen/526/

 

Die Frömmigkeit des Künstlers
»Was der deutschen Kunstgeschichte nottut, ist ein wirklich strenger Kritiker und geistige Disziplin Der dies schrieb, versuchte ein Leben lang, seinem Fach die Augen zu öffnen für die Eigenheiten des christlichen Bildes und hat damit doch kaum Nachhall gefunden. Schuld waren die Nationalsozialisten, die Rudolf Berliner (1886–1967) ins amerikanische Exil trieben. Nach dem Krieg gehörte Berliner zu den ersten Heimkehrern und lebte fortan eine transatlantische Existenz als Privatgelehrter. Welche Schätze in seinen oft entlegen publizierten Schriften über den Sinngehalt christlicher Darstellungen zu entdecken sind, wird erst jetzt in einer ersten Textauswahl deutlich. Im Gegensatz zu den einflußreichen Emigranten Ernst Gombrich und Erwin Panofsky stellt Berliner Frömmigkeit und Glauben über die gelehrte Theologie, wenn es darum geht, künstlerische Phänomene zu deuten. Er zeigte Freiheiten der mittelalterlichen Künstler von kirchlichen Dogmen auf, öffnete den Blick auf die Volkskunst, auf alltägliche Formen des erlebten Glaubens. Noch die absonderlichsten Formen des christlichen Bildes untersuchte er mit gleichem Ernst in ihrem religiösen Gehalt wie die Sixtinische Madonna. Und noch etwas lernt man bei ihm: Selbst die strengste Akkuratesse, die er selber vorlebte, vermag Kunstwerke nicht in all ihren Aspekten in Worte zu fassen.
Sebastian Preuß in der »Berliner Zeitung« vom 8. März 2004.

Wenn einem Kunsthistoriker attestiert wird, seine selbstbewußt-kritische Haltung zu den tradierten Stilbegriffen und gültigen Entwicklungsgeschichten äußere sich am radikalsten in seiner Studie »Zur kunstgeschichtlichen Bedeutung einiger Kleisterfarbenpapiere«, dann verwundert es nicht, daß er als folgenreicher Neuerer seines Faches einem größeren Kreis nicht in Erinnerung geblieben ist. Das gilt auch, wenn seine weiteren Hauptwerke der »Weihnachtskrippe« oder »Bildwerken in Elfenbein, Hirsch- und Steinbockhorn« gewidmet sind. Tatsächlich aber ist Rudolf Berliner, der von 1886 bis 1967 lebte, heute zu Unrecht weithin vergessen – hat es doch durchaus nicht erst der »cultural studies« bedurft, um solche Themen auf die Agenda der kunsthistorischen Forschung zu setzen. Allein schon die exquisiten Titel seiner Studien sollten ihn einer Leserschaft empfehlen, die heute wieder verstärkt gegen den Kanon aufbegehrt.
Der expansive und transgressive Charakter von Rudolf Berliners Denken verdankt sich namentlich seiner Studienzeit in Wien, wo er am Jahrhundertbeginn seine stärkste Prägung in der sogenannten »Wiener Schule« um Max Dvorák, Julius von Schlosser, Alois Riegl und Josef Strzygowski erfuhr. Wenn er auch in der Folge auf erhebliche Distanz zu seinen Lehrern ging – allein Riegls Buch über die »Spätrömische Kunstindustrie« nahm er davon aus –, sind seine historische Universalität, sein bald unzeitgemäßer Internationalismus und das akademisch unbekümmerte Übertreten sämtlicher Gattungshierarchien nicht denkbar ohne die dort erhaltenen Anregungen.
Und nicht zuletzt ist es die von den Wienern als unverzichtbar begriffene Objektnähe, die Berliner folgenreich bestimmt hat. Sein eigentliches Wirkungsfeld nämlich war das Museum – seit 1912 und bis zu seiner Entlassung aus rassistischen Gründen im Jahr 1935 war er am Bayerischen Nationalmuseum in München tätig. Legendär geworden sind seine Ankäufe (oft aus dem Bereich der sogenannten Volkskunst) und Bestandskataloge; nicht zuletzt auf seine Initiative geht aber auch die Gründung der »Neuen Sammlung« zurück. Kurzfristig im Konzentrationslager Dachau interniert – seine Befreiung verdankte er dem beherzten Eingreifen von Kollegen –, emigrierte Berliner 1939 in die Vereinigten Staaten, wo er an verschiedenen Museen der angewandten Künste zwischen New York und Washington wirkte. Diese praktische Arbeit als Kustos begleitete unausgesetzt eine ebenso umfangreiche wie vielfältige Publikationstätigkeit, in deren Zentrum vor allem Fragen der christlichen Ikonographie standen.
Berliners Hauptthema waren dabei die Passion und die Person des Erlösers, wobei sein sicher bedeutendster Beitrag der Erforschung der »Arma Christi« galt, der im Bild wappenartig eingesetzten Leidenswerkzeuge des lebend-toten Schmerzensmannes. Dieser kapitale Aufsatz aus dem Jahr 1955 ist jetzt – gemeinsam mit dreizehn weiteren Studien zum christlichen Bild, vor allem des Mittelalters – wieder zugänglich gemacht worden und erweist Berliner als überaus zeitgemäßen Autor. Er war kein Systemdenker, aber ein äußerst bewußter Methodiker, der stets auf der besonderen Konsistenz seiner Disziplin beharrte. Die Kunst umschrieb er als eine »Sprache«, die das Bewußtsein voraussetze, damit sie verstanden werde, wobei dieses Verständnis den bloßen Augenschein zu überschreiten habe. Das folgt dem Wölfflins Diktum, wonach, was für die Anschauung bestimmt ist, auch vom Sichtbaren her beurteilt werden will.
Scharf setzte sich Berliner mit Ernst H. Gombrichs problematischem Symbolbegriff auseinander, der unbewußt gewählte »Symbole« der Psyche in der Kunst zu entdecken suchte. Kunst rekurrierte für ihn auf ganz bewußt gewählte Formen und Zeichen, um an den Sinn oder das Gefühl zu appellieren – weshalb es ein veritables System der Symbolik nicht geben könne. Vielmehr erkannte Berliner in ihr den Niederschlag der Kunst der Exegese; Glaube und Frömmigkeit galten ihm dabei mehr als die wissenschaftliche Theologie. Noch Raffaels »Sixtinische Madonna« betrachtet er als ursprünglich »leicht zu handhabendes Bild« für Kultushandlungen einer Gebetsgemeinschaft zur Pflege des Gedankens an den Tod.
In den hier versammelten Aufsätzen entfaltet sich Berliners ganz eigene Hermeneutik, die Ikonographie und Bildpraxis auf besonders erhellende Weise miteinander verbindet und so das Verständnis des religiösen Bildes auf gänzlich neue Grundlagen gestellt hat. Die Erneuerung und Konjunktur der Mittelalterforschung der letzten Jahre sind ohne diese Vorgabe kaum zu denken; seine Bekräftigung, daß die mittelalterliche Kunst weit größere Freiheiten in Anspruch genommen habe, als es das zumal in Deutschland lange ideologisierte Mittelalterbild zu erkennen zuließ, hat endlich auch das wissenschaftliche Denken befreit.
Man muß Berliners Aufsätze nicht als Antidot zu vermeintlich verwerflichen Tendenzen der aktuellen Kunstwissenschaft empfehlen – wie das die merkwürdig mißmutigen und diesbezüglich von heftigen Ressentiments durchdrungenen Bemerkungen des Herausgebers tun. Vielmehr dürfte Berliner sich problemlos auf eine Bildwissenschaft verständigt haben, die heute, mit gehöriger Verspätung, seinem souveränen Zugriff folgt.
Andreas Beyer in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 2. Juni 2003