Robert Suckale (Hg.)
Rudolf Berliner (1886–1967)
»The Freedom of Medieval Art« und andere Studien zum
christlichen Bild
Das Internet weiß alles und sonst
nichts. Von dem Kunsthistoriker Rudolf Berliner (1886–1967) kennt es lediglich
den Sammelband von Aufsätzen, die Robert Suckale neu herausgegeben hat, sowie
eine Rezension dieses Bandes von Andreas Beyer (FAZ vom 2.6.2003) – keine
Biographie, kein Foto, keine Bibliographie. Das ist kennzeichnend für diesen
Kunsthistoriker. Wer allerdings in den 1980er Jahren in München Kunstgeschichte
studierte und bei Robert Suckale, damals Oberassistent, z.B. die Vorlesung »Kunst
um 1400« besuchte, der wurde mit einigen Aufsätzen Berliners vertraut gemacht,
vor allem den Studien zu den Arma Christi. Das geschah auf so eindringliche und
lebendige Weise, daß zumindest dieses Thema zum Bestandteil ihrer Lehre wurde,
als aus den Studierenden von damals Lehrende wurden.
Dieser Band versammelt vierzehn Aufsätze Berliners, ergänzt um die Bibliographie
seiner Schriften (107 Nummern) und ein kombiniertes Sach- und Namenregister.
Robert Suckale hat dem Band die Biographie Berliners und eine Würdigung seiner
Verdienste vorangestellt. Damit ist das Buch auch ein Beitrag zur
Fachgeschichte, und zugleich ist es eine Hommage an Berliner. Suckales
Bemühungen um die Verbreitung von Berliners Forschungen haben Wirkungen: Wer
z.B. die Ausstellung »Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen
Frauenklöstern«1 besuchte, konnte vor den Christkindern, ihren
Gewändern und Krippen und auch vor den Holzschnitten, die in Bonn gezeigt
werden, nicht umhin, an Berliner zu denken, der diesen Objekten ihren Platz in
der Kunstgeschichte verschafft hat. Er erforschte in grundlegender Weise, wie
diese Bilder (auch Weihnachtskrippen sind als Bilder zu verstehen) theologische
Lehre, alltägliche Frömmigkeitspraktiken und deren Wirkung miteinander
verbanden oder auch eben nicht verbanden. Anhand solcher Objekte und Praktiken
fragte Berliner danach, was »Realismus«, was »Wirklichkeit« ist – das »Wirklichkeits-
und Wirkungsverständnis des christlichen Bildes« (Vorwort, S. 16) waren
Kernfragen Berliners.
Warum diese Neuausgabe einiger Aufsätze? Suckale begründet sie im Vorwort
damit, daß Berliners Arbeiten zwar immer wieder zitiert werden, sein Werk aber
im Ruf stehe, »disparat zu sein und wenig zeitgeistgemäß. Vor allem sein neuer
Ansatz zum Verständnis des christlichen Bildes wurde kaum wahrgenommen […] Denn
anders als die Erfolgsautoren seiner Generation […] wollte er gerade nicht ›das‹
Mittelalter ›auf den Begriff‹ bringen.« (S. 7).
Suckale geht es darum, die Verdienste eines Kunsthistorikers in das Bewußtsein
des Fachs zu heben, der im Schatten von Zeitgenossen stand, die – Suckale zufolge
– dank einprägsamer, griffiger Begriffsbildungen in der Kunstgeschichte
präsenter blieben. Dazu kommen noch andere Gründe. Berliner gehörte zu den
wenigen Kunsthistorikern, die sich nicht genierten, die sog. Volkskunst und »große«
Kunst miteinander zu verbinden. Auf diese Weise gelang es ihm, z.B. den Weihnachtskrippen
denjenigen Stellenwert zurückzugeben, den sie zur Zeit ihrer Hochkonjunktur
hatten. Dasselbe gilt auch für die Darstellungen der Arma Christi und für die
ornamentalen Vorlagenblätter, um nur die wichtigsten zu nennen. Mit Ausnahme
der Arma Christi sind dies diejenigen Gebiete, zu denen Berliner nicht nur Aufsätze,
sondern auch Monographien bzw. Kataloge und Mappenwerke publizierte.2 Bei
einer Liste von insgesamt 95 Titeln (ohne die 17 Rezensionen) erscheinen
inklusive der Dissertation über die Handschrift Cod. par. gr. 139 nur sieben in
dieser Form. Auch das hat wohl mit dazu beigetragen, daß – wie Berliner selbst
beklagte3 –, seine »neuartigen Ergebnisse und Fragestellungen« so
wenig von der Kunstgeschichte aufgegriffen wurden. Was im betreffenden Aufsatz
folgt, ist in gewisser Weise eine Zusammenfassung seiner Anliegen: die präzise
Definition von Begriffen, die genaue Analyse des immer als individuell zu
verstehenden Werkes, die Kenntnis und Erforschung der Frömmigkeitspraktiken sowie
der Theologie. Dies trägt er mit einer gewissen Vehemenz und auch Aggressivität
gegenüber Irrtümern von Kollegen vor. Grundsätzliche Bemerkungen zu
kunsthistorischen Methoden, ihren Möglichkeiten und Grenzen, durchziehen auch
seine anderen Aufsätze; aus diesem Grund möchte man sie Studierenden zur
Lektüre empfehlen. Damit ist ein weiterer Grund für Berliners karge Rezeption
dingfest gemacht: er war Museumsmann und hatte nicht im selben Ausmaß wie
Universitätslehrer die Möglichkeit, durch Schüler zu wirken.
Berliner dürfte nicht der einzige »Fall« dieser Art sein. Ob es wirklich nur
die eingängigeren Formeln (nicht Formulierungen) waren, die über den Einzug in
die Ruhmeshalle der Kunstgeschichte entschieden, kann man noch nicht absehen.
Die Netzwerke und Strategien, sowie ihre Motive, die zu Ausgrenzung oder
Integration führten, sind noch zu wenig erforscht. Es fehlt auch noch die
Grundlagenarbeit zu vielen Kunsthistorikern. Wer beispielsweise Ulrike
Wendlands Handbuch vertriebener Kunsthistoriker durchsieht4, dem
wird klar, wieviel historiographische Forschungsarbeit die Kunstgeschichte noch
zu leisten hat.
Eine Würdigung der Aufsätze Berliners im einzelnen wäre eine Arbeit für sich,
die in eine Darstellung der Forschung seit Berliner nicht nur zum Andachtsbild,
sondern zur christlichen Ikonographie überhaupt münden würde und in die zum
Verständnis des christlichen Bildes, und damit auch zum Bildbegriff. Darum geht
es Suckale nicht, so wünschenswert es wäre. Suckale geht es darum, den
Auslöser, die Initialzündung zu zeigen. Das gelingt ihm in seinem Vorwort.
Hätte er es als Aufsatz publiziert, wäre es wohl ohne Widerhall geblieben. Die
Tatsache, daß Suckale Aufsätze seines Vorbildes als Buch neu herausgegeben hat,
verleiht dem schon dank der Form als Buch mehr Gewicht als ein bloßer Aufsatz.
Daß dies für die Kunstgeschichte Konsequenzen hat, und vielleicht sogar der
Anstoß zur Wiederentdeckung weiterer Vertreter unseres Fachs wird, muß man
Suckale, Berliner und der Kunstgeschichte wünschen.
1 Krone und
Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern. Essen, Ruhrlandmuseum: Die
frühen Klöster und Stifte 500–1200. Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik
Deutschland: Die Zeit der Orden 1200–1500, München (Hirmer) 2005.
2 Allerdings hat der Arma
Christi-Aufsatz einen Umfang von 117 Seiten. Zuerst in: Münchner Jahrbuch der
bildenden Kunst 3. Folge, 6, 1955, S. 35–152, ed. Suckale S. 97–191.
3 Die Rechtfertigung des Menschen,
in: Das Münster 20, 1967, S. 227–238, ed. Suckale S. 253–267, das Zitat S. 253;
zuvor schon ders.: »Der Logos am Kreuz«, in: Das Münster 11, 1958, S. 177–180,
ed. Suckale S. 213–216, S. 213.
4 Wendland, Ulrike: Biographisches
Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter
dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, München
(Säur) 1999.
Prof.
Dr. Renate Prochno in Mediaevistik 19 – 2006
Der von Robert Suckale herausgegebene Band versammelt 14
Arbeiten des jüdischen, in die USA geflohenen Kunsthistorikers (1886–1967), die
um die Darstellung der Passion Christi kreisen und Bilderzeugnisse des
Mittelalters ebenso berücksichtigen wie solche der frühen Neuzeit. Von
unschätzbarem Wert und monographischem Umfang ist die Arbeit über die »Waffen
Christi« (Arma Christi, 1955). Nach Berliner zeichnet sich christliche Kunst
dadurch aus, daß sie »dem Religiösen« vor dem Ästhetischen die Priorität
einräumt. Suckale würdigt den Autor zu Recht als einen großen und vorbildhaften
Erforscher christlichen Bildmaterials. Ein hilfreiches Register ist beigegeben.
International Review of Biblical Studies,
Internationale Zeitschriftenschau für Bibelwissenschaft und Grenzgebiete,
Universität Paderborn, vol. 50, 2003/04, no. 2324
Die
vorliegende Edition ist kein schneller Reader aus photographierten
Erstveröffentlichungen, sondern alles völliger Neusatz samt den alten
Abbildungen in ansehnlicher Qualität und die Verwandlung aller Endnoten in
Fußnoten, was dem Benutzen des jeweils umfangreichen Apparates sehr zugute
kommt. Das Werk erscheint auch nicht auf dem gängigen Kunstmarkt der
Feuilleton-Ingroups und ist doch oder gerade deshalb eine veritable
Wiederentdeckung für die deutsche Kunstgeschichte, wenn auch nicht für
bayerische Volkskundler, stammt doch der Autor aus dem Bayerischen Nationalmuseum
der Vor-NS-Zeit und war nach dem Kriege dem Hause wieder und weiterhin
verbunden durch sein aus dreißig Jahren Forschung entstandenes berühmtes
Standardwerk über die »Weihnachtskrippe« als Gesamtkunstwerk (München 1955) und
die ikonographischen Studien im »Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst«, im
»Münster« und im »Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde«. Zu Berliners 80.
Geburtstag 1966 hatte der damalige Generaldirektor Theodor Müller einen
Privatdruck mit seiner Bibliographie publiziert, die hier, nun ergänzt,
allgemeiner zugänglich wird und zugleich, von I – XIV durchnumeriert, zwischen
Nr. 40 und 90 die ursprünglichen Erscheinungsorte der wiederaufgelegten
Arbeiten nachweist. Einer der späteren Generaldirektoren, Lenz
Kriss-Rettenbeck, ist es gewesen, der den profanen oder genauer: eigentlich
evangelisch sozialisierten Genius einer in Vergessenheit geratenen christlichen
Bilderwelt des Mittelalters stets hochgehalten hat, und auf den sich darum der
nunmehrige Herausgeber Robert Suckale
berufen kann. Alle Welt bei uns kennt inzwischen die aus London nach Deutschland
zurückgekehrte »Bilderwissenschaft« Aby Warburgs am Beispiel seiner
Untersuchungen zur Antikenrezeption, und jeder Gebildete hat schon von »Sinn
und Deutung« der Kunstwerke durch den Vater des amerikanischen Ikonographismus,
den deutschen Emigranten Erwin Panofsky gehört, wenige aber nur wissen, wer der
Berchtesgaden-Heimkehrer Rudolf Berliner gewesen ist, der 1933 aus dem Dienst
des BNM entfernt, Deutschland 1939 gerade noch verlassen konnte.
Robert Suckale, der selbst gerade sechzig Jahre alt gewordene kunsthistorische
Mediävist aus Münchner Lehrjahren und erfolgreicher Bamberger Aufbauzeit der
dortigen Kunstgeschichte an der jungen Universität, heute an der TU-Berlin
lehrend, betreibt vielbeachtete Projekte zur Architekturgeschichte und
Denkmalpflege. In Bamberg hat er einen kunsthistorischen Stadtführer hinterlassen,
der jedem Kulturwissenschaftler Ehre machen könnte, wenn der nur soviel von
Kunstgeschichte verstünde wie Suckale von sozialwissenschaftlichen und
kulturhistorischen Zusammenhängen und Hintergründen, denn er bietet völlig
anderes als die üblichen Werkbeschreibungen und Meisterbenennungen der zuvor
zünftig gewesenen kunstwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Wenn heute Literaturwissenschaftler
Dichtung als Denkform begreifen, so Suckale die bildende Kunst nicht anders
denn als Erkenntnismöglichkeit von Welt durch die Sprache der konkret
gewordenen Imaginationen.
Suckale eröffnet den Band nach einem Vorwort über den Nachlaß des Autors und
fährt dann fort mit einer gründlichen Untersuchung über »Rudolf Berliner und
sein Beitrag zum Verständnis des christlichen Bildes«, das mit einer
Rekonstruktion des Lebenslaufes und Bildungsgangs beginnt, wie er so ausführlich
bislang noch nicht vorlag. Aus einer schlesischen Fabrikantenfamilie stammend,
hat Berliner 1899 in Berlin das Abitur abgelegt und ist 1910 in Wien bei den
Kunsthistorikern Josef Strygowski und Max Dvorak nur mit Ach und Krach
promoviert worden, weil er sich seinem Doktorvater, dessen sektiererisches
»Heidnischwerk« der Indogermanen später der NS-Ideologie zugute kam, nicht
fügte. In München brachte er es ab 1912 am Bayerischen Nationalmuseum bis zum
Hauptkonservator, welche Position damals automatisch mit dem Professorentitel
verbunden war und die Redaktion des »Münchner Jahrbuchs der bildenden Kunst«
einschloß. Seine rege Ankaufstätigkeit für die Volkskunde korrespondierte mit
den besonderen Interessen des damaligen Direktors Philipp Maria Halm und geht
zurück auf die enge Bekanntschaft mit Marie Andree-Eysn und dem jugendlichen
Rudolf Kriss, beide in Berchtesgaden, wo Berliner ein bäuerliches Lehen aus der
Erbschaft seiner Stettiner Ehefrau als Sommersitz besaß, das er nach 1945
restituiert bekam und durch dessen Verkauf er seinen Lebensabend in Deutschland
und den USA mitfinanzierte.
Robert Suckale deckt bei Rudolf Berliner genuine Erkenntniswurzeln unseres
heutigen Verständnisses vom Wechselverhältnis zwischen Bild und Kult auf. Diese
Überzeugung steht gegen die Prioritätsansprüche der Mentalitäts- und
Gesellschaftsgeschichte oder dem ethnological, sprich cultural turn, und den
dadurch ins allgemeine Bildungswissen meist noch nicht vorgedrungenen
realistischeren Vorstellungen von Kunstproduktion im Mittelalter einerseits und
andererseits dem dominierenden Feuilletonwissen der nur modischen
Fortschrittler. Berliner lehnte z.B. Panofskys engen Andachtsbildbegriff ab und
setzte sich mit Gombrichs nicht minder eingeschränktem Symbolbegriff auseinander.
Er postulierte vielmehr für das Mittelalter die Existenz einer damals
pluralistischen Exegesemöglichkeit. Das nannte er die »Freiheit« jener
Bilderfindungen. Er faßte in einem viel radikaleren Sinne ganz generell Kunst
als Sprache auf und Ikonographie als Bildpraxis. Man möchte hier Cassirers generalisierende
Philosophie der symbolischen Formen zitieren wollen, die sich nach dem Kriege
unter deutschen Kulturwissenschaftlern durchgesetzt hat. Bei Berliner ist dies
indirekt schon dagewesen, konkret bezogen und minutiös exemplifiziert am
Fallbeispiel z.B. der Arma Christi, dem Urteil des Pilatus, dem Schmerzensmann,
dem Logos am Kreuz, der Ährenkleidmadonna.
Bis auf den heutigen Tag nicht überholt ist seine Studie zu den Erlösungsbildern
der Arma Christi im Münchner Jahrbuch 1955, hier nun S. 97–191 nachgedruckt,
gefolgt von den im weitesten Sinne inneren Ergänzungen dazu im BJV 1956 über
ungewohnte Darstellungen des Gekreuzigten, hier S. 93–96, und die Studie für
Theodor Müller im Münster 1956 zum Erlöser als Schmerzensmann, hier S. 192–212,
aber auch noch am gleichen Ort 1967 über die Rechtfertigung des Menschen in
Christusbildern des Föns Vitae, hier S. 253–267, womit Suckales Neuedition
schließt. Berliner schreibt in diesem seinem tatsächlich auch letzten Text
einleitend von der Genugtuung über positive Zuschriften systematischer
Theologen zu seinen kunsthistorischen Überlegungen und verweist zurück auf
seine Rezension des damals berühmt werden sollenden Büchleins des in Frankfurt
lehrenden Dogmenhistorikers Aloys Grillmeier S.J.: Der Logos am Kreuz, München
1956, auch dies hier nochmals abgedruckt auf den S. 213–216, wo Berliner
schreibt: »Was mir nicht gelang: die trägen Wasser der christlichen
Ikonographie aufzurühren, wird hoffentlich dem Buche von Prof. Aloys Grillmeier
[…] gelingen«, und er verdeutlichte mit seiner ausführlichen und
weiterführenden Besprechung abschließend die »paradoxe Lage, daß ich die
Anzeige des Grillmeierschen Buches mit einer Art Selbstanzeige verbinden mußte.
Erst in der Zusammenschau mit meinen Aufsätzen kann aber seine volle Bedeutung
erkennbar werden.« Er hätte nicht wenig gestaunt, was
wir vor einem Jahrzehnt erlebt haben, daß der inzwischen betagte und an den
Rollstuhl gefesselte Grillmeier, auch 1995 noch nicht im neuen Lexikon für
Theologie und Kirche vermerkt, 1994 im Alter von 84 Jahren zum Kardinal kreiert
worden ist, worüber wiederum nur das politisierte Feuilleton Erstaunen zeigen
konnte. Vier Jahre später ist er verstorben und steht heute im Nachtrag des
LThK.
Noch etwas anderes lehrt die bisherige Unzeitgemäßheit Berliners. Sein
wichtigstes Publikationsorgan, die Zeitschrift für christliche Kunst »Das
Münster« aus dem Verlag Schnell und Steiner, das u.a. Themen wie modernes Bauen
und historisches Verstehen von mittelalterlicher Kunst miteinander zu verbinden
suchte und darum in Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg weit
verbreitet war, kämpft schon seit Jahren ums Überleben aus Mangel an Abonnenten
vor allem aus Kirchenkreisen, zu denen der Agnostiker Berliner bekanntlich nie
gehört hat. Nicht anders geht es dem Jahrbuch für Volkskunde der
Görres-Gesellschaft, das 27 Jahre lang im Sinne Kriss-Rettenbecks religiöse
Volkskunde als Bildwissenschaft von der Art Berliners fördern durfte dank bisheriger
Subventionierung. Das hohe Niveau des wissenschaftlichen Diskurses und die
Breite der dazugehörigen Sachthemen schützen in Zeiten des öffentlich
favorisierten generellen Rückzugs der Geistes- und Kulturwissenschaften aus
historischen Studien dieser speziellen Grundlagenforschung nicht vor der
gesellschaftlichen Marginalisierung.
Ein Letztes, das ich aus Leben und Werk Rudolf Berliners für unser Fach
erkenne. Volkskunde war einst zwischen Philologie und Ethnologie angesiedelt
und changiert heute zwischen spekulativer Soziologie ohne eigenes Profil und
räsonierender Sozialhilfe ohne Praxis. Der »Museumsmann« Berliner ist ein
theoretisierender Kopf von eigenständigem Denken gewesen, und er hat dieses aus
dem ständigen Umgang mit den konkreten Dingen der überlieferten Realien
bezogen, das heißt aus der analysierenden Wahrnehmung von lesbar gemachten
Bildern, an denen sich die »bloßen« Ideen der Essayisten erst wirklich zu
bewähren haben. Nirgendwo sonst als im Museum heißt es, täglich Farbe zu bekennen,
nämlich Zuschreibungen vielfältiger Art zu wagen, die jeweils rückgekoppelt
bleiben an einen Gegenstand, der kein Davonlaufen zu bequemeren Fragen und
unverbindlicheren Antworten erlaubt.
Wolfgang Brückner im
»Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde« 2004
Die Bücher und Aufsätze des
Kunsthistorikers Rudolf Berliner (1886–1967) dürfen mit zum wichtigsten
gehören, was zur christlichen Kunst des Mittelalters überhaupt publiziert
worden ist. Zugleich sind sie nahezu unbekannt, allenfalls Experten darf man zu
den Bewunderern Berliners zählen. Das mag zunächst daran liegen, daß es
Berliner seinen Lesern nicht leicht macht: Die Texte entziehen sich der
oberflächlichen Lektüre, sie sind gespickt mit Verweisen und Bildungsgut, zudem
verweigern sie sich jeder Verallgemeinerung außer derjenigen, daß ein Bild weit
mehr ist als der ihm möglicherweise zugrundeliegende Text – und daß dieser
keineswegs immer nur die Bibel ist. Darüber hinaus war Rudolf Berliner als Jude
die Möglichkeit verweigert, in Deutschland Karriere zu machen und nach der
Katastrophe des »Dritten Reiches« immerhin Anerkennung oder gar
Wiedergutmachung zu erfahren, 1933 wurde er für einige Zeit im KZ Dachau
interniert und 1935 aus dem Museumsdienst am Bayerischen Nationalmuseum München
entlassen. Seit Jahren verweist Robert Suckale auf die Bedeutung der Schriften
Rudolf Berliners, und wie kostbar diese sind, davon kann sich nun jeder durch
die Lektüre des Wiederabdrucks einiger seiner Texte zum christlichen Bild
überzeugen. Hier geht es um Dürers Holzschnittfolge der »Kleinen Passion«, um
Darstellungen der »Ährenmadonna«, um die Freiheit in der mittelalterlichen
Kunst, um Fragen der Christusikonographie und schließlich um Raphaels
Sixtinische Madonna als religiöses Kunstwerk. Herausgegeben und eingeleitet
wird das Buch durch einen Text von Robert Suckale, der fundiert über Leben und
Karriere Rudolf Berliners berichtet und substantiell dessen Vorstellungen vom
christlichen Bild analysiert.
Alexander
Markschies unter http://www.kunstbuchanzeiger.de/de/themen/epochen/rezensionen/526/
Die Frömmigkeit des Künstlers
»Was der deutschen Kunstgeschichte nottut, ist ein wirklich strenger Kritiker
und geistige Disziplin.« Der dies schrieb, versuchte
ein Leben lang, seinem Fach die Augen zu öffnen für die Eigenheiten des
christlichen Bildes und hat damit doch kaum Nachhall gefunden. Schuld waren die
Nationalsozialisten, die Rudolf Berliner (1886–1967) ins amerikanische Exil trieben.
Nach dem Krieg gehörte Berliner zu den ersten Heimkehrern und lebte fortan eine
transatlantische Existenz als Privatgelehrter. Welche Schätze in seinen oft
entlegen publizierten Schriften über den Sinngehalt christlicher Darstellungen
zu entdecken sind, wird erst jetzt in einer ersten Textauswahl deutlich. Im
Gegensatz zu den einflußreichen Emigranten Ernst Gombrich und Erwin Panofsky
stellt Berliner Frömmigkeit und Glauben über die gelehrte Theologie, wenn es
darum geht, künstlerische Phänomene zu deuten. Er zeigte Freiheiten der
mittelalterlichen Künstler von kirchlichen Dogmen auf, öffnete den Blick auf
die Volkskunst, auf alltägliche Formen des erlebten Glaubens. Noch die
absonderlichsten Formen des christlichen Bildes untersuchte er mit gleichem
Ernst in ihrem religiösen Gehalt wie die Sixtinische Madonna. Und noch etwas
lernt man bei ihm: Selbst die strengste Akkuratesse, die er selber vorlebte,
vermag Kunstwerke nicht in all ihren Aspekten in Worte zu fassen.
Sebastian Preuß in der »Berliner Zeitung«
vom 8. März 2004.
Wenn einem Kunsthistoriker attestiert
wird, seine selbstbewußt-kritische Haltung zu den tradierten Stilbegriffen und
gültigen Entwicklungsgeschichten äußere sich am radikalsten in seiner Studie
»Zur kunstgeschichtlichen Bedeutung einiger Kleisterfarbenpapiere«, dann
verwundert es nicht, daß er als folgenreicher Neuerer seines Faches einem
größeren Kreis nicht in Erinnerung geblieben ist. Das gilt auch, wenn seine
weiteren Hauptwerke der »Weihnachtskrippe« oder »Bildwerken in Elfenbein,
Hirsch- und Steinbockhorn« gewidmet sind. Tatsächlich aber ist Rudolf Berliner,
der von 1886 bis 1967 lebte, heute zu Unrecht weithin vergessen – hat es doch
durchaus nicht erst der »cultural studies« bedurft, um solche Themen auf die
Agenda der kunsthistorischen Forschung zu setzen. Allein schon die exquisiten
Titel seiner Studien sollten ihn einer Leserschaft empfehlen, die heute wieder
verstärkt gegen den Kanon aufbegehrt.
Der expansive und transgressive Charakter von Rudolf Berliners Denken verdankt
sich namentlich seiner Studienzeit in Wien, wo er am Jahrhundertbeginn seine
stärkste Prägung in der sogenannten »Wiener Schule« um Max Dvorák, Julius von
Schlosser, Alois Riegl und Josef Strzygowski erfuhr. Wenn er auch in der Folge
auf erhebliche Distanz zu seinen Lehrern ging – allein Riegls Buch über die
»Spätrömische Kunstindustrie« nahm er davon aus –, sind seine historische
Universalität, sein bald unzeitgemäßer Internationalismus und das akademisch
unbekümmerte Übertreten sämtlicher Gattungshierarchien nicht denkbar ohne die
dort erhaltenen Anregungen.
Und nicht zuletzt ist es die von den Wienern als unverzichtbar begriffene
Objektnähe, die Berliner folgenreich bestimmt hat. Sein eigentliches
Wirkungsfeld nämlich war das Museum – seit 1912 und bis zu seiner Entlassung
aus rassistischen Gründen im Jahr 1935 war er am Bayerischen Nationalmuseum in
München tätig. Legendär geworden sind seine Ankäufe (oft aus dem Bereich der
sogenannten Volkskunst) und Bestandskataloge; nicht zuletzt auf seine Initiative
geht aber auch die Gründung der »Neuen Sammlung« zurück. Kurzfristig im
Konzentrationslager Dachau interniert – seine Befreiung verdankte er dem
beherzten Eingreifen von Kollegen –, emigrierte Berliner 1939 in die
Vereinigten Staaten, wo er an verschiedenen Museen der angewandten Künste
zwischen New York und Washington wirkte. Diese praktische Arbeit als Kustos
begleitete unausgesetzt eine ebenso umfangreiche wie vielfältige
Publikationstätigkeit, in deren Zentrum vor allem Fragen der christlichen Ikonographie
standen.
Berliners Hauptthema waren dabei die Passion und die Person des Erlösers, wobei
sein sicher bedeutendster Beitrag der Erforschung der »Arma Christi« galt, der
im Bild wappenartig eingesetzten Leidenswerkzeuge des lebend-toten
Schmerzensmannes. Dieser kapitale Aufsatz aus dem Jahr 1955 ist jetzt –
gemeinsam mit dreizehn weiteren Studien zum christlichen Bild, vor allem des
Mittelalters – wieder zugänglich gemacht worden und erweist Berliner als
überaus zeitgemäßen Autor. Er war kein Systemdenker, aber ein äußerst bewußter
Methodiker, der stets auf der besonderen Konsistenz seiner Disziplin beharrte.
Die Kunst umschrieb er als eine »Sprache«, die das Bewußtsein voraussetze,
damit sie verstanden werde, wobei dieses Verständnis den bloßen Augenschein zu
überschreiten habe. Das folgt dem Wölfflins Diktum, wonach, was für die
Anschauung bestimmt ist, auch vom Sichtbaren her beurteilt werden will.
Scharf setzte sich Berliner mit Ernst H. Gombrichs problematischem
Symbolbegriff auseinander, der unbewußt gewählte »Symbole« der Psyche in der
Kunst zu entdecken suchte. Kunst rekurrierte für ihn auf ganz bewußt gewählte
Formen und Zeichen, um an den Sinn oder das Gefühl zu appellieren – weshalb es
ein veritables System der Symbolik nicht geben könne. Vielmehr erkannte
Berliner in ihr den Niederschlag der Kunst der Exegese; Glaube und Frömmigkeit
galten ihm dabei mehr als die wissenschaftliche Theologie. Noch Raffaels
»Sixtinische Madonna« betrachtet er als ursprünglich »leicht zu handhabendes
Bild« für Kultushandlungen einer Gebetsgemeinschaft zur Pflege des Gedankens an
den Tod.
In den hier versammelten Aufsätzen entfaltet sich Berliners ganz eigene
Hermeneutik, die Ikonographie und Bildpraxis auf besonders erhellende Weise
miteinander verbindet und so das Verständnis des religiösen Bildes auf gänzlich
neue Grundlagen gestellt hat. Die Erneuerung und Konjunktur der
Mittelalterforschung der letzten Jahre sind ohne diese Vorgabe kaum zu denken;
seine Bekräftigung, daß die mittelalterliche Kunst weit größere Freiheiten in
Anspruch genommen habe, als es das zumal in Deutschland lange ideologisierte
Mittelalterbild zu erkennen zuließ, hat endlich auch das wissenschaftliche
Denken befreit.
Man muß Berliners Aufsätze nicht als Antidot zu vermeintlich verwerflichen Tendenzen
der aktuellen Kunstwissenschaft empfehlen – wie das die merkwürdig mißmutigen
und diesbezüglich von heftigen Ressentiments durchdrungenen Bemerkungen des
Herausgebers tun. Vielmehr dürfte Berliner sich problemlos auf eine
Bildwissenschaft verständigt haben, die heute, mit gehöriger Verspätung, seinem
souveränen Zugriff folgt.
Andreas Beyer in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 2. Juni 2003