Bernfried Lichtnau (Hg.):

Architektur und Städtebau im südlichen Ostseeraum zwischen 1936 und 1980

Publikation der Beiträge zur kunsthistorischen Tagung Greifswald 2001

Das vorgelegte Kompendium bündelt disziplinübergreifend 26 Vorträge mehrfach ausgewiesener Kenner aus den Bereichen Architektur und Städtebau, die anläßlich des III. Greifswalder Symposiums im Jahre 2001 gehalten wurden. Konzeptionell stand die Greifswalder Tagung in enger Verbindung zu den beiden 1995 und 1997 vorangegangenen Architekturtagungen. Mit dem zeitlichen Rahmen von 1936 bis 1980 sollte eine weiterführende Auseinandersetzung mit städtebaulichen und architekturhistorischen Gesichtspunkten unter verschiedenen Herrschaftssystemen angestoßen werden. Das Forschungsinteresse galt vorrangig dem Bauen in der Zeit des Dritten Reiches, der Wiederaufbauphase im Nachkriegsdeutschland sowie der Periode extensiver Neubautätigkeit ab 1955 bis zum Ende der 1970er Jahre. Insofern bilden die beiden vorangestellten Beiträge von Kyra T. Inachin Pommern im Dritten Reich und Ilona Buchsteiner Wirtschaftsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern 1945–1990 den sozial- und wirtschaftshistorischen Rahmen, der regionale Besonderheiten leichter erklärbar macht. Mit der Gartenkultur und Freiraumentwicklung befaßt sich nur die Arbeit von Gert Gröning Teutonische Mythen – Trümmer, Schutt und Wiederaufbau. Eine Skizze zur Entwicklung der Landschaftsarchitektur in Deutschland 1940–1960. Entsprechend dem Untertitel dominieren kunst- bzw. architekturhistorische Beiträge im Tagungsband. Die Präsentation der Forschungsergebnisse von Doktoranden, Studenten der oberen Semester in der Publikation verspricht innovativen Anreiz, zeigt aktuelle Forschungsschwerpunkte und illustriert Themenvielfalt.

Auch wenn sich die Fachwelt schwertut, konzeptionelle Ähnlichkeiten hinsichtlich Architektur und Städtebau in den beiden Diktaturen in Deutschland zu testieren, diente die Baupolitik sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR zunächst der Stabilisierung des Systems, um der »neuen Zeit« auch optisch Ausdruck zu verleihen. Die großen Aufmarsch- und Versammlungsplätze oder die funktionsdurchmischten repräsentativen »Prachtstraßen« standen jedoch in schroffem Gegensatz zu den ästhetisch anspruchslosen »Wohnpalästen der Werktätigen«. Daß denkmalpflegerische Positionen unter dem Leitgedanken der Stadtbildpflege (vgl. Beiträge von Michael Lissok oder Sabine Bock u.a.m.) bei solchen politischen Vorgaben häufig übergangen wurden, beschränkt sich keineswegs auf Mecklenburg oder Pommern. Der oft einseitige Kampf zwischen dem denkmalpflegerischen Ethos, das Bewahrenswerte zu erhalten, und den politischen Vorgaben, die durch mediale Meinung und wirtschaftliche Interessen vorbestimmt werden, macht andererseits schöpferische Potentiale und Engagement sichtbar. Klaus Haese und Arnold Bartezky verdeutlichen am Beispiel von Anklam bzw. Stettin und Kolberg die daraus sich entwickelnde Konfliktsituation anschaulich.

Daß Vertreibung immer noch als Bevölkerungsaustausch (S. 173) verharmlost, Heimatver­triebene weiterhin entsprechend der DDR-Terminologie als Aussiedler oder Umsiedler (S. 15) bezeichnet werden, verwundert den aufmerksamen Leser schon. Wenig Hintergrundwissen verrät auch die Formulierung auf S. 158. Richtig muß es heißen: In Jalta teilten Stalin, Roosevelt und Churchill das Deutsche Reich in vier Besatzungszonen auf. Berlin wird Viersektorenstadt. Nord-Ostpreußen fällt an die SU. Die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße, d.h. Schlesien, Ost-Brandenburg, Hinterpommern, Danzig und der südliche Teil von Ostpreußen werden bis zu einem Friedensvertrag unter polnische Verwaltung gestellt. Ähnlich oberflächlich werden die Ziele der Bodenreform (S. 35) angesprochen. Unter dem gestellten Tagungsthema wirkt der Beitrag über den Sakralbau in Krakau deplaziert. Die Wohnstadt Limes in den Taurus zu verlegen (S. 137) ist »mutig«, anstatt Identifikationsbedürfnis (S. 436) ist wohl Identifikationsbedürfnis gemeint. Nicht bei allen Beiträgen werden am Schluß weiterführende Literaturhinweise angeboten. Die Formulierung »Stadtverhübschung« (S. 434) regt zum Widerspruch an.

Auch wenn der Prozeß der Aufarbeitung zurückliegender Entwicklungen und Phänomene der Baukunst am Südsaum der Ostsee keinesfalls abgeschlossen erscheint, sind dank der hier gesammelten Beiträge erste punktuelle Pflöcke gesetzt. Der auch für den interessierten Laien leicht verständliche Sammelband regt an, sich zu engagieren, damit dem Verlust an Originalität Einhalt geboten wird. Mehr denn je gilt es, den aus Desinteresse vom Abriß verschont gebliebenen Solitären wie Kirchen, Stadttoren, Rathäusern und vereinzelten Bürgerhäusern inmitten von planierten Brachen unsere besondere städtebauliche Aufmerksamkeit zu schenken.
Gottfried Loeck in »Baltische Studien. Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte«, Bd. 89 (2003)

Nachdem sich die vorangegangenen Tagungen 1995 und 1997 der Architektur-Entwicklung zwischen 1800 und 1950 bzw. der städtischen und ländlichen Siedlungsarchitektur in Mecklenburg-Vorpommern gewidmet hatten, standen im Mittelpunkt der III. Greifswalder Tagung Architektur und Städtebau der politisch und künstlerisch sehr un-terschiedlichen Jahrzehnte zwischen 1936 und 1980.
In einem kurzen Überblicksbeitrag versucht Bernfried Lichtnau, die als Schwerpunkte gewählten Zeitabschnitte und Themenschwerpunkte Architektur und Städtebau im Nationalsozialismus, Wiederaufbau in der Nachkriegszeit sowie Alternativen und Tendenzen zwischen 1950 und 1970 miteinander zu verbinden. Daran schließen sich zwei sehr lesenwerte Aufsätze von Kyra T. Inachin über Pommern im Dritten Reich und Ilona Buchsteiner über die Wirtschaftsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern von 1945–1990 an; beide Beiträge stellen die Bezüge zwischen gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Realität und dem Bauen heraus und liefern so die Erklärung für manche Entwicklung, die von einzelnen Referenten in den folgenden insgesamt 25 Aufsätzen ausführlicher geschildert wird. Unter ihnen sind mehrere, die sich mit der denkmalpflegerischen Problematik beschäftigen oder diese zumindest tangieren. So stellt Ulrich Hartung in seinem Beitrag »Funktion und Formprinzip in nationalsozialistischer Architektur« unter den erwähnten Beispielen auch solche aus Pommern vor, darunter Bauten der ehem. Heeresversuchsanstalt in Peenemünde und des KdF-Bades Prora. Ihre Einordnung ist für den Denkmalpfleger insofern interessant, muß dieser doch die Begründungen für die Aufnahmen in die Denkmallisten liefern und verteidigen.
Ein Exot wird von Neithard Krauß mit Schloß Speck (Ldkr. Müritz) vorgestellt, das sich 1937 ein Duzfreund des Reichsjägermeisters Hermann Göring, der Leipziger Fabrikant, Architekt und preußische Staatsrat Kurt Herrmann, bauen ließ. Der aus untereinander verbundenen eingeschossigen Bauten bestehende Komplex ist ganz auf seine Funktion zugeschnitten und verfolgt gestalterisch Formen des sog. Heimatstils. Leider ließ sich bis heute der Architekt nicht nachweisen.
Den Vorschlag einer Unterschutzstellung als Denkmalbereich machte während der Tagung Robert Conrad für das ehemals als Unterkunftslager der Rüstungsindustrie entstandene »Steinlager« bei Eggesin, Ldkr. Uecker-Randow. Die später für militärische Zwecke und jetzt als Wohnsiedlung umgenutzten Bauten haben sich als sehr aussagekräftiges Beispiel eines NS-Gefolgschaftslagers erhalten. Der Zwiespalt zwischen einer Architektur, die vom Heimatstil und gewissen romantischen Vorstellungen geprägt, andererseits aber zur Unterbringung Zwangsverpflichteter diente, wird hier beklemmend deutlich.
Einen ebenfalls ideologisch stark befrachteten Komplex stellt Dieter Pocher mit dem ehemaligen Beispieldorf Mestlin (Ldkr. Parchim) vor. Das 1952 begonnene, 1957 im wesentlichen abgeschlossene Bauvorhaben, das ein sozialistisches Musterdorf zum Ziel hatte und den von der SED propagierten Gleichstand der Arbeits- und Lebensbedingun-gen in der Stadt und auf dem Land demonstrieren sollte, verdient heute wegen seiner interessanten spätstalinistischen Architektur und der immer noch gut ablesbaren Konzeption eine besondere Beachtung.
Jens Amelung, Mitarbeiter des Landesamtes in Stralsund, berichtete über die Siedlung Riemserort unweit von Greifswald, deren Hausbestand aus Gebäuden der 1920er, 1930er, 1950er und 1960er Jahre besteht. Die Siedlung, deren Gebäude alle von Angestellten der Forschungseinrichtung genutzt und bewohnt wurden, steht gestalterisch den Gartenstädten nahe, wozu die Heimatstiltendenzen und die starke Durchgrünung wesentlich beitragen. Daß diese Gebäude schwierig unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten zu erhalten sind, mußte Amelung am Ende seines Vertrags bedauernd konstatieren.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit dem Städtebau und Stadtgestaltung zwischen 1930 und 1980, wobei markante Beispiele aus Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Stralsund, Greifswald und Anklam vorgestellt werden. Sabine Bock verfolgt am Beispiel der Landeshauptstadt Schwerin die Planungen für eine Umgestaltung der Stadt seit etwa 1930. Ihr Resümee ist insofern aufschlußreich, als sie abweichend zu der an anderer Stelle (Schweriner Altstadt, Schwerin 1996, S. 92) geäußerten Auffassung eine gewisse Kontinuität in den Planungen des halben Jahrhunderts festzustellen meint und nun mit der Erkenntnis endet, »daß zu diesem Zeitpunkt ein Sanieren des aus heutiger Sicht absolut denkmalwürdigen Bestandes (gemeint ist der Bereich um den Großen Moor, d. Rez.) wohl auch unter anderen politischen Vorzeichen nicht mehr möglich war«.
Zu den verdienstvollen Beiträgen zählt auch das von Alexander Schacht gezeichnete Porträt des Denkmalpflegers Adolf Friedrich Lorenz, den Schacht vor allem und völlig zu Recht anhand seiner Rostocker Arbeiten würdigt. Damit wird eine kurze, aber nachhaltige Periode der Denkmalpflege in Mecklenburg ans Tageslicht geholt.
Jörg Kirchner, Mitarbeiter am Landesamt für Denkmalpflege in Schwerin, hat sich schwerpunktmäßig ebenfalls einem Teilaspekt des Bauens in Rostock zugewandt, wenn er den Traditionalismus in der Architektur der frühen Jahre der DDR untersucht.
Mit mehreren Beiträgen schauen Referenten auch über den Tellerrand Mecklenburg-Vorpommerns hinaus und betrachten Situationen in Kiel, Hamburg, aber auch im benachbarten Polen.
Die Erkenntnis aus den zahlreichen Vorträgen der Tagung sollte sein, daß es sich lohnt, anhand des Bauens in der Vergangenheit nach vertretbaren Wegen für die Zukunft zu suchen. Dabei sollte der im letzten Beitrag des Bandes von Arnold Bartetzky nach der Schilderung der »Stadterneurung und Stadtverhübschung« am Beispiel des Wiederaufbaues von polnischen Städten nach 1980 geäußerte Gedanke – daß sich unter dem Druck der öffentlichen Meinung und wirtschaftlicher Interessen das denkmal-pflegerische Ethos gegenwärtig in einem Zersetzungsprozeß befindet, als Ansporn genommen werden, sich mit allen Mitteln dieser Entwicklung entgegenzustemmen. Nachfolgende Generationen werden dies dankbar zu würdigen wissen.
H.E. in »Denkmalschutz und Denkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern«, Heft 10/2003, S. 71/72