Christian Halbrock

Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945–1961

Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat

 

Kirche und kommunistische Diktatur: Was bedeutete das für den Berufsstand des Pfarrers? Welche Auswirkungen hatte das auf deren Möglichkeiten, den seelsorgerischen und anderen Aufgaben nachzukommen? Welchen Restriktionen waren die Pfarrer ausgesetzt, wie gestaltete sich ihr persönliches, ihr privates Leben? Diesem Gesamtkomplex nähert sich H. anhand der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg in den Jahren 1945–1961, also vom Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn der kommunistischen Herrschaft bis zum Bau der Berliner Mauer, mit der die deutsche Teilung zementiert und das politische System der DDR zunächst konsolidiert wurde.
Im Unterschied zu späteren Jahren, als es sich bei der Pfarrerschaft immer mehr um Personen handelte, die ihre Berufswahl ganz zielgerichtet im Bewusstsein der damit verbundenen Probleme und Eingrenzungen trafen, handelte es sich im Untersuchungszeitraum zunächst um Personen, die schon vor dem Kriegsende Pfarrer waren, also recht unvermittelt mit den neuen Bedingungen konfrontiert wurden, allerdings zuvor bereits in einem Zwangssystem ganz anderer Art ihren Handlungsspielraum auszuloten hatten und damit z.T. recht unterschiedlich umgegangen waren. Somit geht es H. in der vorliegenden Untersuchung, die 2003 als Dissertation am Lehrstuhl für vergleichende Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht wurde, nicht um eine rein berufsgeschichtliche Analyse. Vielmehr stellt er die berufsständische Autonomie der evangelischen Pfarrerschaft in den Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses, der sich auf die in diesem Zusammenhang wesentlichen institutionellen und gesellschaftlichen Handlungsbedingungen konzentriert. So geht er der Frage nach, was die Pfarrer unter den gegebenen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen zum handlungsfähigen Berufsstand machte, was sich im Laufe der politisch–gesellschaftlichen Transformation nach 1945 veränderte und welche gesellschaftlichen Positionen die Pfarrerschaft zu behaupten vermochte. Hierzu analysiert H. die Strukturen und Funktionen, die der berufsständischen Autonomie dieser Berufsgruppe zugrunde lagen. So geht es in der Untersuchung um die dienstrechtliche Ausprägung des Amtes und die relevanten Veränderungen in der Nachkriegszeit, das gültige Amtsverständnis, den pfarramtlich-seelsorgerischen Handlungsrahmen und die Abgrenzung der Tätigkeitsfelder, wozu sich H auf Quellen unterschiedlichster Herkunft stützt: zum einen kirchliche Bestände (Pfarrarchive, Landeskirchenarchiv Berlin-Brandenburg), zum anderen staatliche Überlieferungen (BLHA, SAPMO-BArch, BSTU), schließlich mündliche Überliefrungen von Zeitzeugen.
Auf dieser Grundlage entstand eine gut strukturierte, sehr umfangreiche, manchmal etwas detailbesessene, aber insgesamt gut fassbare Darstellung. Der methodische Ansatz, durch Vergleich mit den Verhältnissen und Entwicklungen in der
ČSSR und in Polen die Situation in Berlin-Brandenburg besser einzuordnen, ist von höchstem Interesse und natürlich auch dem wissenschaftlichen Entstehungsrahmen der Untersuchung geschuldet; aber er ist nicht immer produktiv. Zu knapp kommt in diesem Zusammenhang der Aspekt, dass es vor allem deutschland- und weltpolitische Rahmenbedingungen waren, die der Kirche und speziell der Pfarrerschaft bei allen Zwängen auch immer wieder Freiräume eröffneten, die die Staatsmacht in Ost-Berlin und vor Ort widerwillig gewähren musste. Thesenartig werden die Grundaussagen am Ende der Darstellung zusammengefasst. H. betont, dass sich die Pfarrer in Berlin-Brandenburg einer weitgehenden Unabhängigkeit in ihren beruflichen Belangen sicher sein konnten, was jedoch nicht hieß, dass ihre Tätigkeit nicht durch eine Reihe von Verordnungen, Verboten, Anordnungen und Verfügungen beschränkt worden wäre. In der Summe garantierten die intakten Mechanismen der berufsständischen Disziplinierung und Selbskontrolle, die weitgehende Übereinstimmung zwischen Kirchenhierarchie und Pfarrern, der Fortbestand einer vom Staat unabhängigen kirchlichen Dienstaufsicht und Disziplinargewalt sowie die fehlenden Möglichkeiten des SED-Staates, diese nachhaltig zu unterminieren, so dass die berufsständische Autonomie der Pfarrerschaft auf einem hohen Niveau fortbestand.
Detlef Kotsch im »Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte«, Bd. 58 (2007)

 

Die evangelischen Kirchen in der DDR sind als Forschungsgebiet insbesondere
seit den Jahren 1989/90 keine terra incognita mehr. Denn in der Zwischenzeit sind nahezu dreihundert Einzelpublikationen erschienen, so daß nur noch wenige weiße Flecken zurück bleiben. Der frühen Phase der großen Generaldebatten über Anpassung und Kumpanei, über Autonomiespielräume und Gratwanderungen, über historisches Verdienst und historische Schuld folgte seit Mitte der 1990er-Jahre die Zeit der Darstellungen und Quellensammlungen zu Einzelthemen. In diese letztere Forschungsphase gehört auch die umfangreiche Arbeit von Christian Halbrock.
Der methodische Ansatz der Dissertation ist viel versprechend: Ein regionalgeschichtlicher Ansatz wird durch einen komparatistischen Zugang erweitert, sozialgeschichtliche werden mit kirchengeschichtlichen Fragestellungen verknüpft. Der Berliner Historiker untersucht anhand von kirchlichen und staatlichen Quellen sowie Zeitzeugenbefragungen die berufsständische Autonomie der evangelischen Pfarrerschaft am Beispiel des Kirchengebietes Berlin-Brandenburg während der so genannten volksdemokratischen Phase. Die berlin-brandenburgische Kirche hatte allerdings aufgrund ihrer Größe, ihrer exponierten geographischen Lage und ihrer prominenten kirchenleitenden Persönlichkeiten eine gewisse Sonderrolle unter den evangelischen Landeskirchen in der DDR, so daß nicht alle Ergebnisse Halbrocks auch auf die übrigen Kirchengebiete übertragbar sind. Halbrocks Vergleichsgruppe sind jedoch auch nicht die Pfarrer anderer ostdeutscher Landeskirchen, sondern die katholische Priesterschaft in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn. Durch diese kontrastierende Analyse mit der Situation in anderen staatssozialistischen Ländern kann er das Besondere der Situation der berlin-brandenburgischen Pfarrer herausarbeiten und erhält einen Vergleichsmaßstab für den Grad ihrer berufständischen Autonomie.
Abweichend von anderen Studien, die sich mit dem Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft in der DDR beschäftigen, stehen in Halbrocks Arbeit die Pfarrer als Berufsstand im Mittelpunkt des Interesses. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, daß im Unterschied zu den Rechtsanwälten oder Lehrern in der DDR, aber auch den Pfarrern aller Konfessionen in der Tschechoslowakei, die Grundlagen und Mechanismen der berufsständischen Konstitution die ostdeutschen Pfarrer in die Lage versetzten, sich den Anfeindungen und Anmaßungen des SED-Staates zu widersetzen. Versuche der SED, die wenigen, ihr öffentlich nahestehenden Amtsträger zu fördern, schlugen fehl, weil die kirchlichen Dienstaufsichtsbehörden im Verbund mit den Pfarrkonventen solche Pfarrer erfolgreich auszugrenzen verstanden. Die Mechanismen der berufsständischen Selbstkontrolle funktionierten, die Pfarrkonvente wehrten mit interner Disziplinierung und Ausgrenzung die Fraktionierungsversuche in »fortschrittliche« und »reaktionäre« Pfarrer ab. Insbesondere die aus der Bekennenden Kirche kommenden Pfarrer trugen dazu bei, die Eigenständigkeit
eines »an Schrift und Bekenntnis gebundenen Pfarrerstandes« gegenüber Totalitätsansprüchen des Staates zu stärken. Hinsichtlich der kirchlich-institutionellen und bekenntnisgebundenen Begründung des Pfarramts herrschte in Berlin-Brandenburg eine weitgehende Interessensübereinstimmung zwischen Kirchenleitungen und Pfarrern. Diese gab es auch in der Beurteilung der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Situation. Auf diese Weise wurde selbst in den für die Kirchen schwierigen 1950er-Jahren die Berufsautonomie erfolgreich verteidigt.
Die Gründe, warum die berlin-brandenburgische Pfarrerschaft ihre Berufsautonomie und Handlungsspielräume weitgehend wahren konnte, lagen vor allem aber in der Politik der SED. Diese konnte aufgrund der deutschlandpolitischen Erwägungen Moskaus nicht so repressiv vorgehen, wie es in manchen anderen osteuropäischen Staaten der Fall war. Zudem verfügte die SED bei ihrem Vorgehen gegenüber den Pfarrern über keine in sich geschlossene Strategie. Im Unterschied zu den benachbarten Volksdemokratien im sowjetischen Machtbereich verschaffte sie sich keine umfassenden Aufsichts- und Eingriffsrechte zur Mitsprache bei der Gestaltung der kirchlichen Personalpolitik. Es blieb beim Fortbestand einer vom Staat unabhängigen kirchlichen Dienstaufsicht und Disziplinargewalt. Die SED bemühte sich hingegen, die Pfarrer durch den nachdrücklichen Verweis auf deren DDR-Staatsangehörigkeit politisch und gesellschaftlich in den Dienst zu nehmen und unliebsame Pfarrer durch den Druck der »öffentlichen Meinung« einzuschüchtern. Zudem wurde die Handlungsfreiheit der Pfarrer durch An- und Verordnungen zumindest potentiell eingeschränkt.
Die Pfarrer nutzten, so Halbrock, ihre Autonomie aber nicht nur für ihren binnenkirchlichen Dienst, sondern versuchten auch, »als Moderatoren des
gemeinschaftlichen Zusammenlebens in den Kommunen zu wirken«. Zumeist »im Stillen« bemühten sich Pfarrer, an sie herangetragene Probleme gegenüber dem Staat anzusprechen. Sie engagierten sich im Auftrag der von ihnen vertretenen Gemeindemitglieder sowie im Dienste anderer politisch bedrängter Personen und versuchten darüber hinaus, »punktuell eine Linderung bestehender gesellschaftlicher Defizite anzumahnen«. Nach 1989 wurde ihnen dieses pragmatisch bestimmte Vorgehen als Indifferenz in wichtigen politisch-gesellschaftlichen Fragen ausgelegt.
Angesichts des oben skizzierten Forschungsstands ist es schwierig, noch zu grundsätzlich neuen Erkenntnissen zur Kirchengeschichte der DDR zu kommen. Das gelingt auch Halbrock nicht. Dennoch ist seine sorgfältige Beweisführung der Amtsautonomie der Pfarrerschaft der Kirche Berlin-Brandenburg lesenswert, auch wenn das Buch auf Grund des etwas spröden Stils und der manchmal allzu langen thematischen Seitenstränge nicht immer leicht lesbar ist.
Claudia Lepp für: »H-Soz-Kult«, 2/2006

Von der »Friedlichen Revolution« ist zuweilen auch als der »Protestantischen Revolution« (Ehrhart Neubert) gesprochen worden. Tatsächlich haben evangelische Pfarrer in den unterschiedlichen Gruppierungen der DDR-Opposition eine wichtige Rolle gespielt. Was prädestinierte gerade evangelische Theologen, daß sie sich derart zu exponieren vermochten? Für das Theologiestudium entschieden sich in der DDR manche, weil sie sich ein weniger reglementiertes Studium versprachen. Viele sahen im Pfarramt eine Möglichkeit, einen Beruf auszuüben, der von staatlicher Einflußnahme weitgehend ausgenommen war. Wer die Atmosphäre in DDR-Pfarrhäusern erleben konnte, wird häufig gespürt haben, daß gerade hier auf geistlicher und geistiger Eigenständigkeit beharrt wurde. Die Pfarrerschaft der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg um die Mitte des 20. Jahrhunderts ist Thema der vorliegenden Untersuchung von Christian Halbrock. Doch um einer Leseerwartung gleich entgegenzutreten: Der Verfasser hat den Fokus nicht auf die theologische Grundausstattung der Pastoren gerichtet. Auch ist ihm nicht daran gelegen, die gesellschaftspolitische Verortung der Pfarrer im realen Sozialismus zu betrachten. Ihn, den Nichttheologen, interessieren die Pfarrer vielmehr unter einem anderen Aspekt, der so in vorausgegangenen Publikationen bislang nicht herausgestellt wurde: Er fragt »nach dem Charakter und dem Bestand der berufsständischen Autonomie« (S. 29).
Pfarrer, so der Autor, verfügten in Deutschland immer schon über einen beruflichen Sonderstatus, der ihnen amtsspezifische Privilegien wie die seelsorgerische Schweigepflicht, Gefangenen-, Kranken- und Altenseelsorge garantierte. In dieser Hinsicht den Rechtsanwälten und Ärzten gleichgestellt, ergab sich aber für die Pfarrer unter den Bedingungen der SBZ/DDR eine vertrackte Situation. Denn was sie verkündigten und repräsentierten, wurde zwar geduldet, galt jedoch eigentlich als unerwünscht.
Die Untersuchung strebt daher an, »die Handlungsgrundlagen und -bedingungen pfarramtlicher Tätigkeit in ihrer Zeitbedingtheit zu erfassen« und Bereiche zu benennen, »in denen sich kooperative Gestaltungsansprüche in der Gesellschaft zu äußern vermochten bzw. den Pfarrern entsprechende Ambitionen unterstellt werden konnten« (S. 41).
Um das Besondere der Situation der Berlin-Brandenburgischen Pfarrer zu verdeutlichen, zieht der Autor nicht etwa Parallelen zu anderen Berufsgruppen oder Pfarrern anderer evangelischer Landeskirchen in der DDR, sondern beschreibt ausführlich die zeitgleiche Lage der polnischen und tschechischen katholischen Pfarrer. Das verwundert zunächst. Schließlich ist dem halbwegs mit der Materie Vertrauten bewußt, daß allein die Traditionen und Konfessionen der Pfarrer in den mittelosteuropäischen Ländern so unterschiedlich sind, daß sie zu vergleichen und in Beziehung zu setzen als ein eigentlich fragwürdiges Unternehmen erscheint. Dennoch gelingt es hier auf einer gleichsam höheren Ebene, die alle offenkundigen Unterschiede ausblendet, einen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Denn bei aller Unterschiedlichkeit der Ausgangssituation waren für die berufsständische Autonomie der Pfarrer in diesen Ländern die Vorgaben der Sowjets und das Eingreifen der jeweiligen kommunistischen Parteien ausschlaggebend. Dem Leser wird sehr schnell deutlich, daß in den östlichen Nachbarländern viel stärkere antikirchliche Restriktionen zum Tragen kamen als in der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, was seine Ursache vor allem in der offenen deutschen Frage hatte.
Sehr plausibel beschreibt der Autor den Zustand der Pfarrerschaft nach dem Kriegsende 1945. Zwar war auch das kirchliche Leben arg beeinträchtigt, viele Kirchen hatten Beschädigungen erlitten, und manch ein Pfarrer wurde fern seiner Gemeinde in Kriegsgefangenschaft gehalten. Doch war die Berlin-Brandenburgische Landeskirche weniger deutsch-christlich vergiftet gewesen als andere Landeskirchen. Gut ein Fünftel der Pfarrer hatte dem kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus angehört. Dagegen sei bei etwa 7 Prozent eine mehr oder weniger starke nationalsozialistische Belastung zu verzeichnen gewesen. Die Geistlichen hatten vornehmlich auf dem Lande in der Regel an Prestige nichts eingebüßt. Pfarrer, die den Deutschen Christen angehört hatten, waren vielfach schnell in andere Landeskirchen gewechselt oder biederten sich nun den neuen Machthabern an. Dem standen jedoch bald dienstrechtliche Anweisungen des Konsistoriums entgegen, die parteipolitisches Engagement von Amtsträgern für die SED disziplinierten. Mithin schlug auch der Versuch der SED fehl, ihr nahestehende Amtsträger zu fördern, weil die kirchlichen Dienstaufsichtsbehörden im Verbund mit den Pfarrkonventen solche Pfarrer erfolgreich auszugrenzen vermochten. Pfarrer, die gar der SED beigetreten waren, sind sehr bald aus dem Dienst der Kirche gedrängt worden. Mitunter haben sie später Positionen in staatlichen Einrichtungen inne gehabt. Überhaupt habe der starke Zusammenhalt in den Pfarrkonventen staatliche Versuche der Einflußnahme auf die Amtsinhaber weitgehend vereitelt. Es sei vor allem die ältere Pfarrergeneration gewesen, die mit ihren Erfahrungen aus der Zeit des Kirchenkampfes die geistige Eigenständigkeit zu befestigen halfen. Anders als in der Tschechoslowakei habe die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg wie in der gesamten DDR ihre Selbstverwaltung bewahrt und sei somit in der Lage gewesen, auf ihrer berufsständische Autonomie störrisch beharren zu können, resümiert der Autor. Die Untersuchung liefert dafür viele Belege. Doch grundlegend neue oder aufregende Erkenntnisse werden auf den vielen hundert Seiten nicht geboten.
Die Lektüre lohnt jedoch durchaus, auch wenn der Sprachstil des Verfassers den Leser schnell ermüdet und die Systematik der Untersuchung nicht immer einleuchten will. Es sind die Geschichten und Fakten am Rande, vom Autor hier und da eingeschoben, die die verquere Konstellation von kommunistischer Administration und evangelischer Amtskirche im Berlin-Brandenburgischen Raum sehr schön illustrieren. Wir erfahren so, daß es der SED im Land Brandenburg gelang, insbesondere durch den Nationalsozialismus belastete Amtsträger an sich zu binden. Ernst Türk, Pfarrer in Senftenberg und Potsdam, war ab 1934 Mitglied der SA-Reserve und der Deutschen Christen gewesen. Während der Kriegsgefangenschaft schloß er sich dem Nationalkomitee Freies Deutschland an. 1950 verzichtete er auf die Rechte seiner Ordination, wurde Russischlehrer, später Mitarbeiter der Akademie für Staat und Recht in Potsdam. Sprach- und wirkungsmächtige Prediger wie Pfarrer Georg Herche aus Kunersdorf mußten hingegen damit rechnen, mit dem so genannten Kanzelparagraphen aus dem Jahre 1871 in Konflikt zu geraten. Wegen einer politisch unbotmäßigen Grabrede wurde Herche zu sechs Monaten Haft verurteilt. Bis 1968 zierte dieser Paragraph das Strafgesetzbuch der DDR – auch so eine Rarität aus dem Kuriositätenkabinett des SED-Staats.
Jens Planer-Friedrich in »HORCH UND GUCK«, Heft 49 (1/05)

 

Die 50er Jahre waren in der DDR für die evangelische Kirche eine schwere Zeit. Die am Dienstagabend vorgestellte Dissertation »Evangelische Pfarrer der Kirche in Berlin-Brandenburg 1945-1961« von Christian Halbrock macht dies mit Zahlen deutlich: Im Einzugsbereich der Kirche waren 1952 acht Pfarrer inhaftiert worden, 1953 dann 14 und 1957 fünf Pfarrer. Sechs aus Westdeutschland eingereiste Pfarrer wurden wieder ausgewiesen. Dennoch stellte Halbrock fest, daß die Berufsautonomie der Theologen erfolgreich verteidigt wurde.
Halbrock erinnerte an die DDR-Anfangszeit, als ein Pfarrer aus Lietzow bei Nauen mit Hilfe der Medien aus seinem Amt entfernt werden sollte. Der Mann hatte sich geweigert, zur Unterstützung des Sozialismus die Glocken zu läuten. Und nur wenige Kilometer weiter, in Retzow, ließ Walter Paradi den Hirtenbrief von Bischof Otto Dibelius verlesen, in dem die DDR mit dem NS-Regime verglichen wurde. Die Folge: Gegen den Pfarrer wurden 15 öffentliche Versammlungen initiiert. Und als in der Prignitz ein Pfarrer ein Atomkraftwerk als »Raketenabschußrampe« bezeichnet hatte, riegelten Betriebskampfgruppen sein Dorf ab, ergänzte ein Zeitzeuge an diesem Abend. »Man sollte denen, die sich nicht beugten, ein Denkmal setzen«, sagte Halbrock. Bei Interviews mit Zeitzeugen hat der Historiker herausgefunden, daß es damals besonders massive Übergriffe um Cottbus, Frankfurt (Oder) und in der Umgebung Berlins gab, weniger dagegen in der Uckermark.
Als Gründe für die trotz aller Repressalien gewahrte Berufsautonomie der Pfarrer führte Halbrock bei der Diskussion in der Berliner Stasi-Unterlagenbehörde sowohl die Politik der SED als auch das Verhalten der Kirche an. Die SED habe sich wegen der Nähe zur Bundesrepublik gescheut, so repressiv vorzugehen, wie es in manchen osteuropäischen Staaten der Fall war. Die SED-Kirchenpolitik sei zudem »konfus, ohne Struktur und somit unwirksam« gewesen. Die Pfarrkonvente ihrerseits hätten sich gegen alle Spaltungsversuche in fortschrittliche und reaktionäre Kirchenleute mit innerer Disziplin widersetzt.
einige Thesen Halbrocks stießen auf Kritik – etwa die, daß sich Pfarrer wegen gesellschaftlicher Anerkennung oder der Zukunft ihrer Kinder angepaßt hätten. 60 Pfarrer – Stasi-IM nicht eingerechnet – sollen mit dem Staat »aus unterschiedlichen Gründen« zusammengearbeitet haben. Der im Ruhestand lebende Propst Hans-Otto Furian sprach vom »großen Selbstbewußtsein« der Kirche. Ein dunkles Kapitel: Pfarrer, die nach Westdeutschland ausreisten, ließ Dibelius vor ein kircheneigenes Gericht stellen. »Mit der Knute in der Hand«, wie es dazu kirchenintern hieß.
Marlies Emmerich in der  »Berliner Zeitung« vom 23. Juni 2005

 

Über die Kirchen in der DDR ist, seitdem es eben diese DDR nicht mehr gibt, viel geschrieben worden. Besonders die evangelische Kirche, die vor, während und gleich nach der Wende eine wichtige Rolle für die friedliche Revolution im Herbst 1989 gespielt hatte, geriet damit ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Rasche Schlagzeilen drückten ihr falsche Stempel auf. Sie war weder die »Heldenkirche« noch die »Stasi-Kirche«. Sie war eine Kirche, die unter den schwierigen Bedingungen von SED-Herrschaft und alles kontrollierender Staatssicherheit ihren Auftrag zu Zeugnis und Dienst an Schrift und Bekenntnis gebunden wahrzunehmen suchte. Sie wanderte nicht aus der sozialistischen Gesellschaft der DDR aus, ließ sich aber auch nicht von den politischen Machthabern vereinnahmen. Mehr und mehr verstand sie ihren Auftrag ganzheitlich. Sie ließ sich nicht auf einen Rückzug ins Private, Persönliche ein, sondern bestand darauf, daß die biblische Botschaft die Menschen in allen ihren Lebensbezügen betrifft, also auch in ihren sozialen, ökonomischen und politischen Aspekten. Genau dies versuchten die evangelischen Kirchen mit der nach der Wende viel kritisierten Formel von der »Kirche im Sozialismus« zu beschreiben. Damit ließ sich die Kirche auf eine Gratwanderung zwischen »Anpassung und Verweigerung« ein, wie Albrecht Schönherr den Weg des DDR-Kirchenbundes benannt hat.
Daß die evangelischen Kirchen in der DDR auf diesem risikoreichen Weg auch Versagen im Einzelnen und durch Einzelne einzugestehen haben, ist in diversen Veröffentlichungen zutage getreten. Ebenso unbestritten ist aber – inzwischen durch Untersuchungen gesichert –, daß die Kirchen in der DDR insgesamt ihren Weg eigenständig und glaubwürdig gegangen sind und dabei ohne Öffentlichkeit, in der Stille, als Anwalt für die Menschenrechte und im Eintreten für Opfer des Systems, humanitär tätig waren.
Diese Sicht der evangelischen Kirchen in der DDR hat durch die bemerkenswerte Dissertation von Christian Halbrock, die der Lukas Verlag kürzlich veröffentlichte, eine weitere interessante Evidenz erfahren. Anders als bisherige Veröffentlichungen untersucht Halbrock die Pfarrerschaft als Berufsstand. Während viele Veröffentlichungen nach der Wende sich exemplarisch mit einzelnen Pfarrern oder kirchenleitenden Persönlichkeiten beschäftigten, stellt Halbrock »die berufsständige Autonomie der evangelischen Pfarrerschaft« in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses. Es kommt der Untersuchung zugute, daß der Autor sein Untersuchungsfeld örtlich und zeitlich eingrenzt, wie im Titel seiner Dissertation benannt; »Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945 bis 1961«. Die Frage, die zu beantworten ist, lautet – so der Untertitel der Dissertation: »Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat?« Auf 506 Seiten und unter Auswertung einer Fülle von schriftlichen Quellen, Zeitzeugeninterviews und schriftlichen Befragungen von Pfarrern geht Halbrock seiner Frage nach, wobei er an die Tradition, aus der die Pfarrerschaft kommt, anknüpft, insbesondere an die Erfahrungen der Bekennenden Kirche vor 1945. Außerdem bezieht er in seine Recherche auch die kirchenpolitischen Entwicklungen in den sozialistischen Nachbarländern Polen und Tschechoslowakei mit ein und stellt dar, aus welchen Gründen der Pfarrerstand in diesen Ländern anders als in der DDR staatlich vereinnahmt wurde.
Halbrock findet Sachverhalte, die die Autonomie des Pfarrerstandes in Berlin-Brandenburg begründeten und stärkten. Dazu gehört wesentlich die Erfahrung aus der Zeit der Bekennenden Kirche. Nach 1945 waren die Pfarrer und Superintendenten der Bekennenden Kirche maßgeblich am Wiederaufbau und an der Erneuerung der Pfarrerschaft beteiligt. Sie vermittelten ihre Erfahrungen aus der NS-Zeit und bestanden auf einem an »Schrift und Bekenntnis gebundenen Pfarrerstand«. »So etablierte sich bereits vor der Gründung der DDR unter den Berlin-Brandenburger Pfarrern ein Bewusstsein, das in der Zurückwei­sung zukünftig zu erwartender Tota­litätsansprüche des Staates ein Ele­ment der zu vollziehenden geist­lichen Erneuerung erblickte.« Damit hängt der enge Schulterschluß zwischen Kirchenleitung und Pfarrerschaft nach 1945 zusammen. Zwischen beiden gab es eine »Interessenübereinstimmung«, die dazu beitrug, daß die SED mit ihren Versuchen, Pfarrer für die Mitarbeit in der »Nationalen Front« zu gewinnen, kaum Erfolg hatte. So verwiesen die Pfarrerbruderschaften 1961 in Abwehr der Werbung für die Nationale Front darauf, daß ihre Ordination und Berufung ins Amt ein viel tieferes Treueverhältnis als bei staatlichen Angestellten begründete.
Im Vergleich zu den benachbarten Volksdemokratien im sowjetischen Machtbereich ist es der SED nicht gelungen, die Autonomie der Pfarrerschaft durch eine de facto Ausübung der Personal- und Finanzhoheit über die Pfarrer zu brechen. Halbrock macht klar, daß die im Unterschied zum Beispiel zur Tschechoslowakei widersprüchliche und vorsichtige Kirchenpolitik der SED auch dem Umstand zu verdanken ist, daß die DDR im Ost-West-Konflikt in der Sowjetstrategie ein mustergültiger »Vorzeigestaat« sein sollte.
Natürlich gab es immer wieder Versuche der SED, die Pfarrerschaft zu disziplinieren. Dazu diente der Partei ihr Verständnis der DDR-Staatsangehörigkeit, aus dem sie bestimmte Loyalitätspflichten ableitete. Das führte zu handfesten Konflikten bis hin zur Ausweisung von Pfarrern. Ein Beispiel für den Versuch, die DDR-Parteinahme der Pfarrer zu erzwingen, ist die so genannte »Maron-Erklärung« von 1956. Der Innenminister, Karl Maron, ordnete an, daß alle Pfarrer bei den örtlichen Behörden zu erscheinen hätten, um eine Erklärung entgegenzunehmen über »den Missbrauch kirchlicher Einrichtungen für die friedensfeindlichen Pläne der aggressiven NATO-Politiker«.
Dieser Versuch ging gründlich schief. Nach Protesten der Kirchenleitung und Absprachen in Pfarrkonventen dachte die Mehrheit der Pfarrer nicht daran, sich zitieren zu lassen. So beschwerte sich die SED-Bezirksleitung Cottbus darüber, daß »alle Pfarrer des Kreises Spremberg die Entgegennahme der Erklärung ablehnten«.
Die Pfarrerschaft nutzte, so Halbrock, ihre Autonomie aber nicht nur innerkirchlich. Die Pfarrer bemühten sich auch, »als Moderatoren des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in den Kommunen zu wirken«. Zumeist im Stillen versuchten Pfarrer, an sie herangetragene Probleme gegenüber dem Staat anzusprechen. Sie engagierten sich im Auftrag der von ihnen vertretenen Gemeindemitglieder und auch im Dienst anderer politisch bedrängter Personen und bemühten sich darüber hinaus, »punktuell eine Linderung bestehender gesellschaft­licher Defizite anzumahnen«.
Das Resümee des Autors: »Im Unterschied zur Lage der Rechtsanwälte oder Lehrer in der DDR, aber auch der Pfarrer aller Konfessionen in der Tschechoslowakei, befanden sich die ostdeutschen Pfarrer in einer privilegierten Position. In der Summe garantierten die nach wie vor intakten Mechanismen der berufsständigen Disziplinierung und Selbstkontrolle, die weitgehende Übereinstimmung zwischen Kirchenhierarchie und Pfarrern, der Fortbestand einer vom Staat unabhängigen kirchlichen Dienstaufsicht und Disziplinargewalt sowie die fehlenden Möglichkeiten des SED-Staates, diese zu unterminieren, daß die berufsständige Autonomie der Pfarrerschaft auf einem hohen Niveau fortbestand.«
Alles in allem hat Christian Halbrock eine sorgfältige Untersuchung vorgelegt, die zur weiteren Aufarbeitung kirchenpolitischer Zeitgeschichte viel beiträgt. Ein ausführlicher Quellenanhang, das Personen- und Ortsregister sowie statistische Tabellen ergänzen den Text und erleichtern das Nachschlagen bestimmter Details auf den manchmal zäh dahinfließenden 467 Seiten. Das Buch gehört gewiß für jede und jeden, der am Thema interessiert oder damit befaßt ist, zu den unentbehrlichen Nachschlagewerken.
Gerhard Thomas, in: Die Kirche, 27.2.2005

 

Der evangelische Pfarrer Wilhelm Rabsch war vor 1933 Mitglied der SPD. Als die Faschisten die Macht ergriffen, lief er zur SA über. Ab 1946 gehörte Rabsch der SED an. Einem Bericht der Nationalen Front zufolge hatte er in seiner Kirchengemeinde in Kartzow »einen schweren Stand«, weil er sich in der Einheitspartei engagierte. 1950 warf Rabsch das SED-Mitgliedsbuch hin und ließ sich nach Bredereiche versetzen. Doch auch dort wandte sich der Gemeindekirchenrat geschlossen gegen den Geistlichen, weil dieser wiederholt für die DDR-Regierung gepredigt habe, so der Bericht.
Schwierig gestaltete sich das Verhältnis von Staat und Evangelischer Kirche in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Christian Halbrock, der eine Dissertation über Pfarrer in Berlin und Brandenburg verfaßte, hätte die Möglichkeit gehabt, ein spannendes Buch zu schreiben. Leider streute Halbrock konkrete Beispiele wie das oben ausgeführte viel zu selten ein. Plastische Schilderungen von Lebenswegen finden sich nirgends.
Statt dessen bietet Halbrock auf mehreren hundert Seiten einen wissenschaftlichen Text – weitgehend abstrakt, mit vielen Substantiven und Fremdwörtern, und vornehmlich aus dem Blickwinkel der Kirche formuliert. Die Mühe, die das Lesen deshalb bereitet, machte sich Halbrock offenbar beim Recherchieren. Er wälzte in Archiven eine Fülle von Dokumenten und trug Fakten zusammen. So über den Pfarrer a.D. Ernst Türk, der ab 1934 der SA angehörte, sich jedoch 1944 in der Kriegsgefangenschaft dem Nationalkomitee Freies Deutschland anschloß. 1950 verzichtete Türk auf die Rechte des geistlichen Standes und arbeitete anschließend als Russischlehrer in Senftenberg. Ab 1951 beriet Türk als Referent für Kirchenfragen Brandenburgs Ministerpräsidenten Rudolf Jahn (SED).
Halbrock zufolge blieben die von ihm SED-nahe Pfarrer Genannten jedoch immer in der Minderheit. Der Kirche mit dem in Westberlin residierenden Bischof Dibelius an der Spitze gelang es demnach im wesentlichen, jene Geistlichen zu disziplinieren, die allzu offen Sympathie für die DDR erkennen ließen. Forderungen des Staates, von Strafen abzusehen, verhallten zumeist. Auf der anderen Seite führten Kampagnen zur Abberufung mißliebiger Pfarrer selten zum Erfolg.
Schon die Entnazifizierung gestaltete sich laut Halbrock unter dem Vorzeichen späterer Konflikte. Die Leitung der Kirche Berlin-Brandenburg übernahmen nach dem Krieg Pfarrer aus der antifaschistisch orientierten Bekennenden Kirche. Sie entfernten zwar NS-belastete Kollegen aus dem Dienst, taten dies jedoch eher im Verborgenen, um die Unabhängigkeit der Kirche zu wahren, so die These Halbrocks. Versuche des Staates, Einfluß zu nehmen, gab es bereits lange vorher. Schon das »Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten« von 1794 verlangte, die Geistlichen als Beamte zu behandeln. Der so genannte Kanzelparagraph am 10. Dezember 1871 nachträglich ins Reichsstrafgesetzbuch eingefügt, untersagte es, »Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstand einer Verkündigung« zu erheben. Der Kanzelparagraph galt in der DDR noch bis 1968. Er spielte jedoch kaum noch eine Rolle. Statt dessen stützte sich die Justiz nach Halbrocks Erkenntnissen häufiger auf den Boykotthetzevorwurf.
Andreas Fritsche in »Neues Deutschland«, 30. Dezember 2004