Gerd Rienäcker

Musiktheater im Experiment

Fünfundzwanzig Aufsätze

 

 

Vor drei Jahren erschien das erste Buch des 1959 geborenen Berliner

Musikwissenschaftlers Gerd Rienäcker Richard Wagner. Nachdenken über sein »Gewebe«, vierzehn Jahre nach Abgabe des Manuskripts, unverändert, als ein historischer Text, in Gelingen und großartigem Mißlingen den Werken Wolfgang Heises und Lothar Kühnes verpflichtet und ebenbürtig, zwei Philosophen, welche die DDR hervorgebracht hat und denen sie ans Leben ging. Das Buch hatte der Deutsche Verlag für Musik Leipzig im Jahr 1985 in Auftrag gegeben; das 1988 abgegebene Manuskript sollte im Frühjahr 1990 gedruckt werden. Verhältnisse, und nichts als Verhältnisse, haben das verhindert. Nicht ganz so lange hat es ge braucht, um fünfundzwanzig neuere Aufsätze, Thesen und Notate Rienäckers zum Musiktheater allgemein verfügbar zu machen.
Gerd Rienäcker lehrte von 1966–1996 am Institut für Musikwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität und nimmt heute Lehraufträge verschiedener Universitäten wahr. Musikwissenschaft lehren – genauer: Musiktheaterwissenschaft – heißt für Rienäcker Forschungsergebnisse einem kritischen Auditorium aussetzen, heißt, Schichtungen akribisch auseinanderlegen, das Zusammensetzen dem mündigen Leser anheimstellend. Daß dabei Noten zu Stücken immer als Noten zu gesellschaftlichen Verhältnissen, und nichts als Verhältnissen, gelesen werden müssen, sowohl denen der Gegenwart des Komponisten als auch und mehr noch der des Analysierenden, daran ließ Rienäcker bereits in den achtziger Jahren keinen Zweifel.
Obwohl zuerst als Handreichungen für die im und am Musiktheater Arbeitenden gedacht, lassen sich Rienäckers Aufsätze darauf nicht reduzieren. Die an eine Äußerung Tucholskys über Ulysses angelehnte, auf Pique Dame gemünzte Bemerkung von dem »Bündel von Brühwürfeln« gilt gleichermaßen für die Texte selbst, mit denen noch viele Suppen zubereitet werden dürften. Der Leser muß sich nur auf jenes produktive Staunen einschwören, das der Lehrer auch in finsteren Zeiten nicht preiszugeben bereit ist, um weiter nachzudenken über Wagners »Gewebe«, über Produktivkraft und -verhältnisse Lortzings, des »Offenbach unter deutschen Verhältnissen«, der Wiener Operette im allgemeinen und Gräfin Mariza im besonderen, des Strauss'schen Spätwerks, des »Phänomens« Maria Callas, über Schwierigkeiten und Möglichkeiten des Operninszenierens nach Ruth Berghaus, über Waren- und Wertkritik überhaupt – »im Blick zurück nach vorn«.
Der Unsicherheit das Wort geben, geschieht zum anderen aus der Haltung der besiegten Trojaner heraus, die Stückchen in den dreifachen Holztoren geraderückten, als der Fall ihrer Stadt gewiß war, und aus ihrem Handeln begannen Mut zu haben und gute Hoffnung. So unterschiedlich die Themenbereiche auch erscheinen mögen: Die Aufsätze tragen doch Stück für Stück zu einer, Rienäckers persönlicher, Musikgeschichte der DDR bei.
Nicht nur einmal ist der große Georg Knepler aufgerufen, an versteckter Stelle und endlich auch geradeheraus in einer bewegenden Widmung, die Rienäcker seinem Versuch Musiktheater im Zeichen Bertolt Brechts? nachgestellt hat. Wer für »Welt-Verhalten« – im Plural! – votiert, »die sich der Anstrengung des Gedankens und Begriffs, der – wie auch immer mühseligen, schmerzhaften – Erkenntnis nicht verweigern«, dem gehen viele Wege von Brecht und von dessen wandelbarem Theater aus, das bekanntlich Anfänge provoziert, und den führen mancherlei Wege zu Ruth Berghaus und ihrem Theater hin, dessen Zeit kommen wird.
Der Titel der Aufsatzsammlung zeigt das Schlußbild ihrer Inszenierung von Dessaus Lanzelot an der Berliner Staatsoper, ein Bild, das bereits 1969 vorzeichnete, welche Erfahrungen mit dem Sozialismus im Experiment sich noch abzeichnen würden. »Der Rest ist Freude
Jens Knorr in »Das Blättchen« vom 18. Juli 2005

 

Die hier versammelten kurzen Texte resultieren aus einer jahrzehntelangen intensiven Beschäftigung mit unterschiedlichsten Erscheinungsformen des Musiktheaters. Bestechend dabei die oft originellen Zugänge und Fragestellungen, beispielsweise zu „lachenden Opernfiguren" oder »verräterischen Tonartenschritten« in der Cavalleria Rusticana. Auch die Ausführungen zu vermeintlich vertrauten Gestalten des Musiktheaters wie Beckmesser, Tassilo, Mariza und Pizarro, sowie das Bemühen um eine differenziertere Beurteilung Albert Lortzings (an Georg Knepler anschließend) verdienen nachdrückliche Empfehlung. Aufmerksamkeit finden auch seltener behandelte Musiktheaterkonzepte z.B. unter Brechts Einfluß (wohltuend differenziert) bei Paul Dessau und Hanns Eisler. Schließlich sei das Buch – möglicherweise allerdings ein frommer Wunsch – den Musiktheaterpraktikern empfohlen, da so gut wie alle Aufsätze mehr oder weniger direkte Relevanz für Inszenierungsansätze bieten. Studierende und Freunde des Musiktheaters, denen das Buch ebenfalls zu empfehlen wäre, könnten sich weniger am fälschlich mit 1826 angegebenen Todesjahr Schuberts (S. 266, wohl ein Druckfehler) stoßen als an der für heutige Verhältnisse ein wenig gespreizt wirkenden Sprache, die sich (und dem Rezensenten) in spätadornistischer Kombination von Emphase und ironischer Gelahrtheit gefällt.
Christian Glanz in »Musikzeitschrift«, Heft 5/2005, S. 86


Wer ist Beckmesser, wenn er zu singen beginnt? Was sänge Florestan, säße Pizzarro im Kerker? Ist Sarastros Welt ebenso brüchig wie die Fugenexposition in der Ouvertüre? Und für wen ergreift Rossini Partei, wenn sich seine Akteure in klappernde Instrumente verwandeln? Das Entscheidende – so Gerd Rienäcker – erzählt die Musik. Musiktheater, das sind für den Berliner Musikwissenschaftler zunächst Partituren. In ihnen finden sich Anweisungen zum Musizieren und Singen – und zwar nicht allein als virtuose Herausforderung, sondern als theatrale und somit soziale Aktion, die Darsteller wie Dargestellte charakterisiert. Es geht nicht um extreme Geschichten. Oper (so der Einleitungstext) als Form ernst genommen, trage manchen Widersinn in sich: weil sie sowohl Realität als auch Illusionistisches birgt, weil sie Zerstreuung als auch Sehnsucht befördert, weil Utopisches in ihr aufscheinen kann.
Solch ein Denk-Experiment verlangt, auf Entdeckungsreise zu gehen - dazu laden 25 Vorträge, Notate, Diskussionsbeiträge quer durch die Musikgeschichte ohne Umschweife ein. Auffällig ist der Gestus des Fragens: der Hochschullehrer und Dramaturg fragt nach der «Gesellschaftlichkeit» musikalischer Formen, nach sozialen Komponenten des Singens, nach unabgegoltener sozialer Erfahrung, die Opernwerken und -figuren eingeschrieben ist. Diesem Fragen erwachsen aufregende, provokante Lesarten vermeintlich bekannter Literatur. Mozarts Zauberflöte, Wagners Meistersinger, Tschaikowskys Pique Dame, Gräfin Mariza von Emmerich Kaiman und andere erschließen sich so als Teil eines Diskurses über Gesellschaft, Kunst und Politik. Sprache und Denkwelt des Autors machen die Lektüre bestürzend und erhellend zugleich. Viele Texte sind in den vergangenen fünf Jahren entstanden und sparen die Moderne nicht aus. Bemerkenswert ist etwa die analytische Annäherung an Boris Blachers Zwischenfall bei einer Notlandung. Neue kompositorische Formen und Mittel, so plädiert Rienäcker, müssten die Möglichkeit neuer sozialer Dialoge ergeben.

Damit ist der Schüler Georg Kneplers und Arbeitspartner Peter Konwitschnys bei Brecht, dessen Beharren auf einem Theater der sozialen Erkenntnis (und Veränderung) sich durch eine Vielzahl von Texten zieht. Bert Brecht, Paul Dessau und Ruth Berghaus zählt Rienäcker zu den Initiatoren jenes Theaters, das sich im Zwiespalt von DDR-Wirklichkeit und Kaltem Krieg ästhetisch innovativ, wahrhaftig und sozial relevant zu formulieren verstand. DDR-Erfahrung ist auch der Reibepunkt der Biographie des Verfassers. Das Scheitern des Staatssozialismus ist für ihn Anlaß, bislang (auch über Figuren und Werke) Gedachtes kritisch zu prüfen; keinesfalls ist er zur Preisgabe bisherigen kritischen Denkens bereit. Ob sein marxistischer Zugang ein geeigneter ist, um sich Maria Callas zu nähern, sei hier offen gelassen. Zumindest schärft er den Blick. Der Auseinandersetzung mit aktuellen theatralen Versuchen über Walter Benjamin und heutigem experimentellen Musiktheater eröffnet er neue Blickwinkel.
Frank Kämpfer in »Neue Zeitschrift für Musik«, März/April 2005, S. 84

 

Musiktheater, das sind für den Berliner Musikwissenschaftler Gerd Rienäcker zunächst Partituren. In ihnen finden sich Anweisungen zum Musizieren und Singen – und zwar nicht allein als virtuose Herausforderung, sondern als theatrale und somit soziale Aktion, die Darsteller wie Dargestellte bestimmt und charakterisiert. Oper – ernst genommen als Form – trägt zudem manchen Widersinn in sich: Sie birgt sowohl Realität als auch Illusionismus, sie befördert Zerstreuung wie Sehnsucht, sie ist ein Podium für Kritik und Utopie.
Rienäckers neue Publikation Musiktheater im Experiment verlangt, auf Entdeckungsreise zu gehen – dazu laden 25 Notate, Vorträge und Beiträge quer durch die Musikgeschichte ohne Umschweife ein. Auffällig ist der Gestus des Fragens; der Hochschullehrer und Dramaturg fragt nach der »Gesellschaftlichkeit« musikalischer Formen, nach sozialen Komponenten des Singens, nach unabgegoltener sozialer Erfahrung, die Opernwerken und -figuren eingeschrieben ist. Diesen Fragen erwachsen aufregende, provokante Lesarten vermeintlich gut bekannter Literatur. Wagners Meistersinger, Tschaikowskys Pique Dame, Gräfin Mariza von Emmerich Kálmán und andere erschließen sich so als Teil eines Diskurses über Gesellschaft, Kunst und Politik. Sprache und Denkwelt des Autors machen die Lektüre bestürzend und erhellend zugleich.
Lesenswert sind auch Diskussionsbeiträge zur Nachkriegsoper – beispielsweise die analytische Annäherung an Boris Blachers Zwischenfall hei einer Notlandung. Neue kompositorische Formen und Mittel, so plädiert Rienäcker hier, müssen die Möglichkeit neuer sozialer Dialoge ergeben. Damit ist der Schüler Georg Kneplers bei Brecht, dessen Beharren auf einem Theater der sozialen Erkenntnis sich durch eine Vielzahl von Texten zieht. Bert Brecht, Paul Dessau und Ruth Berghaus zählt Rienäcker zu den Initiatoren eines Theaters, das sich im Zwiespalt von DDR-Wirklichkeit und Kaltem Krieg ästhetisch innovativ und sozial relevant zu formulieren verstand. DDR-Erfahrung ist auch der Reibepunkt der Biografie des Verfassers. Das Scheitern des Staatssozialismus ist für ihn Anlaß, bislang Gedachtes kritisch zu prüfen; keinesfalls ist er zur Preisgabe bisherigen kritischen Denkens bereit. Ob sein marxistischer Zugang ein geeigneter ist, um sich Maria Callas zu nähern, sei hier offengelassen. Der Auseinandersetzung mit aktuellen Theater-Versuchen über Walter Benjamin und damit dem experimentellen Musiktheater an sich vermittelt er so neue Impulse.
Frank Kämpfer in »Das Orchester«, Heft 12/2004S. 78–79

 

An die Oper muß man einfach glauben! In 25 Aufsätzen, Thesen, Notaten fragt der Berliner Musiktheaterwissenschaftler Gerd Rienäcker, ein unentwegter Frager, nach Gattungen, Werken, Komponisten der Oper, Operette, des Musiktheaters, nach szenisch-musikalischen Vorgängen in der Partitur und auf der Bühne – und immer nach den Vorgängen hinter den Vorgängen, weit über die Institution Musiktheater hinaus. Rienäckers Rede geht um Kunstexperiment, weil es ihm um Gesellschaftsexperiment geht, denn billiger sind weder Kunst noch lebbare Gesellschaft zu haben. Um unsertwillen also ist der Unsinn der Oper als Einspruch gegen bürgerliche Rationalität zu verteidigen, die sie doch gleichwohl vollstreckt, ist das Ineinander von prosaischer Wirklichkeit, Utopie und Illusion auseinanderzulegen, ist den gebrochenen, zerbrochenen Opernhelden und Antihelden, heißen sie Pizarro, Hermann, Jago, Alfio und Turridu, Beckmesser gar, mehr als nur eine Träne nachzuweinen – denn auch wenn sie Letzterem der Komponist verweigert: Seine Musik verweigert sie ihm nicht.
Weil sie der Unsicherheit das Wort geben, will Rienäcker fast jedem Satz seiner Texte unsichtbare Fragezeichen beigesellt wissen. Es geschieht dies zum einen aus der Haltung des Lehrers heraus, der seine Schüler nicht lehren, sondern von ihnen lernen will, wie er selbst von den Regisseuren lernt, an deren Arbeiten er maßgeblich Anteil hatte und hat. Obwohl zuerst als Handreichungen für die im und am Musiktheater Arbeitenden gedacht, lassen sich Rienäckers Aufsätze darauf nicht reduzieren. Die auf »Pique Dame« gemünzte Bemerkung von dem »Bündel von Brühwürfeln« gilt gleichermaßen für die Texte selbst, mit denen noch viele Suppen zubereitet werden dürften. Der Leser muß sich nur auf jenes produktive Staunen einschwören, das der Lehrer auch in finsteren Zeiten nicht preiszugeben bereit ist, um weiter nachzudenken über Produktivkraft und -verhältnisse Lortzings, des »Offenbach unter deutschen Verhältnissen«, der Wiener Operette im allgemeinen und »Gräfin Mariza« im besonderen, des Strauss’schen Spätwerks, des »Phänomens« Maria Callas, über Schwierigkeiten und Möglichkeiten des Operninszenierens nach Ruth Berghaus, über Waren- und Wertkritik überhaupt – »im Blick zurück nach vorn«.
Der Unsicherheit das Wort geben geschieht zum anderen aus der Haltung der besiegten Troer heraus, die Stückchen in den dreifachen Holztoren geraderückten, als der Fall ihrer Stadt gewiß war, und aus ihrem Handeln begannen, Mut zu haben und gute Hoffnung. So unterschiedlich die Themenbereiche auch erscheinen mögen: Die Aufsätze tragen doch Stück für Stück zu einer, Rienäckers persönlicher, Musikgeschichte der DDR bei. Nicht nur einmal ist der große Georg Knepler aufgerufen, an versteckter Stelle und endlich auch geradeheraus in einer bewegenden Widmung, die Rienäcker seinem Versuch »Musiktheater im Zeichen Bertolt Brechts nachgestellt hat. Wer für »Weltverhalten« – im Plural! – votiert, »die sich der Anstrengung des Gedankens und Begriffs, der – wie auch immer mühseligen, schmerzhaften – Erkenntnis nicht verweigern«, dem gehen viele Wege von Brecht und dessen wandelbarem Theater aus, das bekanntlich Anfänge provoziert, und dem führen mancherlei Wege zu Ruth Berghaus und ihrem Theater hin, dessen Zeit kommen wird. Der Titel des Buches zeigt das Schlußbild ihrer Inszenierung von Dessaus »Lanzelot« an der Berliner Staatsoper, ein Bild, das bereits 1969 vorzeichnete, welche Erfahrungen mit dem Sozialismus im Experiment sich noch abzeichnen würden. »Der Rest ist Freude
Jens Knorr in »Theater der Zeit«, Dezember 2004, Heft 12, S. 69–70

 

Was bleibt Beckmesser, wenn er zu singen anhebt? Was sänge Florestan, säße Pizzarro im Kerker? Ist Sarastros Welt ebenso brüchig wie die defekte Fugen-exposition in der Ouvertüre? Und für wen ergreift Rossini Partei, wenn sich seine Akteure in tutende, klappernde Instrumente verwandeln?
Das Entscheidende – so Autor Gerd Rienäcker – erzählt die Musik. Musiktheater, das sind für den Berliner Musikwissenschaftler zunächst Partituren. In ihnen finden sich Anweisungen zum Musizieren und Singen – und zwar nicht allein als virtuose Herausforderung, sondern als theatrale und somit soziale Aktion, die Darsteller wie Dargestellte bestimmt. Es geht nicht um extreme Geschichten oder dramatische Konstellationen. Oper (so der Einleitungstext) als Form ernstgenommen, trage manchen Widersinn in sich: Weil sie sowohl Realität als auch Illusionistisches birgt, Natürliches wie Artifizielles, weil sie Zerstreuung als auch Sehnsucht befördert, weil das Utopische in ihr aufscheinen kann im Augenblick.
Dieses Denk-Experiment verlangt auf Entdeckungsreise zu gehen – dazu laden 25 kleine operative Diskussionsbeiträge, Vorträge, Notate quer durch die Musikgeschichte ohne Umschweife ein. Auffällig ist der Gestus des Fragens; der Hochschullehrer und Dramaturg fragt nach der Gesellschaftlichkeit musikalischer Formen, nach sozialen Komponenten des Singens, nach unabgegoltener sozialer Erfahrung, die Opernwerken und -figuren eingeschrieben ist. Aus diesen Fragen erwachsen aufregende, provokante Lesarten vermeintlich sattsam bekannter Literatur. Mozarts Zauberflöte, Wagners Meistersinger, Tschaikowskis Pique Dame, Gräfin Mariza von Emmerich Kálman und andere erschließen sich so als Teil eines Diskurses über Gesellschaft, Kunst und Politik. Sprache und Denkwelt des Autors machen die Lektüre bestürzend und erhellend zugleich. Die Mehrzahl der Texte ist in den letzten fünf Jahren entstanden und sparen die Moderne nicht aus. Lesenswert etwa ist hier die analytische Annäherung an Boris Blachers Zwischenfall bei einer Notlandung. Neue kompositorische Formen und Mittel, so plädiert Rienäcker, müßten die Möglichkeit neuer sozialer Dialoge ergeben.
Damit ist der Schüler Georg Kneplers und Arbeitspartner Peter Konwitschnys bei Bertolt Brecht, dessen Beharren auf einem Theater der sozialen Erkenntnis (und Veränderung) sich durch eine Vielzahl von Texten zieht. Bert Brecht, Paul Dessau und Ruth Berghaus zählt Rienäcker zu den Initiatoren jenes Theaters, das sich im Zwiespalt von DDR-Wirklichkeit und Kaltem Krieg ästhetisch innovativ, wahrhaftig und sozial relevant zu formulieren verstand. DDR-Erfahrung ist auch der Reibepunkt der Biographie des Verfassers. Das Scheitern des Staatssozialismus ist für ihn Anlaß, bislang (auch über Figuren und Werke) Gedachtes kritisch zu prüfen; keinesfalls ist er zur Preisgabe bisherigen kritischen Denkens bereit. Ob sein marxistischer Zugang ein geeigneter ist, um sich Maria Callas zu nähern, sei hier offengelassen. Zumindest schärft er den Blick. Der Auseinandersetzung mit aktuellen theatralen Versuchen über Walter Benjamin und mit  experimentellem Musiktheater an sich vermittelt er so neue Impulse.
Frank Kämpfer im »Deutschlandfunk«, Sendung »Musikjournal«, am 20. September 2004