Jens Semrau (Hg.)
Was ist dann Kunst?
Die Kunsthochschule Weißensee 1946–1989 in Zeitzeugengesprächen

 

Ob Studenten einer Kunsthochschule mit einem gemeinsamen Grundlagenstudium anfangen sollen, interessiert nur die Betroffenen. Wenn diese Frage aber zu einem Streitpunkt zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen wie zwischen Ostdeutschen verschiedener Generationen wird, gewinnt sie beispielhaft an allgemeinerer Bedeutung. Die Kunsthochschule Berlin-Weißensee war schon mit ihrer Gründung 1946 ein Politikum im geteilten Berlin und dann in der DDR ein wichtiger Faktor der Kunstentwicklung und zugleich Arena kontrovers aufeinander treffender Kulturkonzepte. Sie muß sich heute fragen, was sie davon braucht, um ein eigenes Profil gegenüber den anderen Lehranstalten in ganz Deutschland kenntlich zu machen wie ehedem gegenüber Dresden, Leipzig und Halle. Darunter vielleicht ihr dem Bauhaus verwandtes Grundstudium. Mehr darüber zu erfahren, wie in Weißensee studiert, unterrichtet, gestritten, gefördert und bestraft wurde, mag vor allem Kunstfreunde anziehen. Das hier anzuzeigende Buch verdient aber als ein fesselndes Stück Mentalitäts-, Sozial- und Politikgeschichte einen weiterreichenden Leserkreis.
Auf der Basis subtiler eigener Kenntnisse befragte der Kunstwissenschaftler Jens Semrau schon seit 1987, vor allem aber nach 1998 insgesamt 36 ehemalige und jetzige »Weißenseer« – Dozenten, Studenten, Rektoren, Parteisekretäre usw. – gezielt nach ihren Erlebnissen, Ansichten und Urteilen über Personen und fügte weitere Informationen hinzu. Gemeinsam mit Hiltrud Ebert, die bereits einen Dokumentenband über die Hochschule vorlegte, formte er daraus ein Komplexbild subjektiver Erinnerungsarbeit, ein flirrendes Kaleidoskop von Hoffnungen, Erfolgen und Enttäuschungen, Beharren und Überdenken, von Dankbarkeit bis Verachtung gegenüber Lehrern und Kollegen. Es eröffnet Älteren neue Einblicke in eine miterlebte Zeit und kann Jüngeren helfen, diese als eine der Grundlagen für Gegenwärtiges begreiflicher zu machen.
Wie schwierig Letzteres ist, belegt der zweite Teil des Buches, das Protokoll eines Symposiums von 1999, in dem es nebenbei über das erwähnte Grundstudium ging und vor allem keine Einigung erzielt wurde, was gut und fortführenswert an Leistung und Charakter der Hochschule war. Zwei verschieden getönte Nachworte von Außenstehenden können nur die bekannte Tatsache bestätigen, daß Geschichtsverständnis und Geschichtsschreibung nie zu einem endgültigen Abschluß kommen, schon gar nicht, wenn es um Grundlagen des eigenen Lebens geht.
Peter H. Feist im »Neuen Deutschland« vom 23. März 2005