Elke Dittrich
Ernst Sagebiel. Leben und Werk 1892–1970

 

 

Zur Architektur des Nationalsozialismus gibt es eine Fülle an Literatur; weniger über einzelne Architekten dieser Zeit, Albert Speer ausgenommen. Warum lohnte sich aber eine Dissertation über das Lebenswerk von Ernst Sagebiel, der als beamteter Architekt im Reichsluftfahrtministerium tätig war? Der Titel des Buches zeigt ihn und einen Mit­arbeiter in Zivil mit einem Luftwaffenoffizier in Uniform, nicht selbst uniformiert, wie Albert Speer oft abgebildet wurde.

Der Text ist in drei Teile gegliedert: in den ersten mit der beruflichen Ausbildung und Tätigkeit, den zweiten mit dem Katalog der Bauten und Entwürfe und den dritten mit der kritischen Bewertung. Der Anhang enthält Biographie, Werk-, Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis, Abbildungsnachweis und Personenregister.

Ernst Sagebiel war der Sohn eines Braunschweigischen Hofbildhauers; erlernte die Holzschnitzerei, studierte nach dem Besuch des Gymnasiums Architektur an der Tech­nischen Hochschule Braunschweig, promovierte 1927 über Kölner Wohnverhältnisse und war dann bei Erich Mendelsohn als Geschäftsführer tätig. 1933 trat er in die NSDAP ein, fand Aufnahme in das neu eingerichtete Luftwaffen-Verwaltungsamt des Luftfahrtministeriums und stieg bis zum Ministerialrat auf. Von Göring gefordert, hatte er zu Albert Speer ein »freundlich-distanziertes« Verhältnis. An der technischen Hoch­schule Berlin erhielt er einen Lehrauftrag über »Architektur und Weltanschauung«.

Der zweite Teil beinhaltet mehr als nur die Aufzählung der unter seiner Verantwortung entstandenen Entwürfe und Bauten. Sie werden detailliert beschrieben: als wichtigste und auch öffentlich bekannteste das Reichsluftfahrtministerium in Berlin (1934/36) und der Flughafen Berlin-Tempelhof (1935/44). Es folgen die Flughäfen Rangsdorf, Stuttgart-Echterdingen, München-Riem und Wien-Aspern; die Flieger- und Luftkriegsschulen Celle-Wietzenbruch, Halle, Gatow/Kladow, Wildpark/Werder, Dresden-Klotzsche, Fürstenfeldbruck und das Haus der Flieger in Berlin; die Luftkreiskommandos in Münster, Kiel und Königsberg; Fabrikanlagen, Mannschaftsunterkünfte und Flugzeughallen. Das Ent­wurfsbüro beteiligte sich an sieben Wettbewerben für repräsentative Bauvorhaben.

Teil drei geht auf die Ergebnisse der bis ins Detail soliden Arbeitsweise ein. Sage­biel war als Architekt konventionell, »weder Visionär noch Theoretiker«. Seine Archi­tektur bezeichnet die Autorin als kühl und beinahe schmucklos. Deutlich folgt sie der nationalsozialistischen Tendenz zur Monumentalität. Von Sagebiels Hand ist keine ein­zige Ideenskizze abgebildet, die man von einem Architekten eigentlich erwartet. Seine Verdienste erlangte er durch Korrektheit und organisatorische Fähigkeiten, vor allem bei der Organisation und Realisierung von Großprojekten, denen die Autorin breiten Raum widmet. Von den zahlreichen Mitarbeitern, die er auch wegen seiner umfangrei­chen administrativen Tätigkeit benötigte, nennt und würdigt sie nur wenige. Der karrierebewusste Opportunist trat gesellschaftlich kaum in Erscheinung. Aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit war er bis zum September 1945 in amerikani­scher Haft, wurde dann als »Mitläufer« eingestuft und musste außer hohen Verfahrenskosten eine Geldsühne von 2000.- Reichsmark zahlen. Als freischaffender Architekt erhielt er zunächst keine und dann nur zwei Aufträge, die ausgeführt wurden: für ein Wohnhaus in Feldafing und für ein Bankhaus in München.

Aufbau und Inhalt der Monographie und die übersichtliche Anordnung der zahlrei­chen Abbildungen und Anmerkungen lassen keinen Wunsch offen. Der Text ist gut lesbar. Die Autorin zeigt sich als ausgewiesene Kennerin der Materie. Sie hatte nach ihrem Architekturstudium an der Technischen Universität Berlin die Architektur der nationalsozialistischen Luftwaffe und die Geschichte des Flughafens Berlin-Tempelhof erforscht. Sie verfügt über bautechnische Detailkenntnisse und erkennt das Wesentliche in der Fülle an ermittelten Quellen. Sie vergleicht und beurteilt die Ergebnisse überzeu­gend mit zeitgleichen Bauten. So gelang ihr mit der Dissertation an der Technischen Universität Braunschweig im Jahre 2003 ein fundamentaler Beitrag zur Gesamtdarstel­lung der nationalsozialistischen Architektur.

Hermann Heckmann in »Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte«, Bd. 14, Jg. 2007

 

 

Ernst Sagebiels Karriere zählt zu den eigenartigsten unter den deutschen Architekten des 20. Jahrhunderts. Seine produktivste Zeit währte nur wenige Jahre, und in der allgemeinen Wahrnehmung ist sein Schaffen beschränkt auf Bauten für einen einzigen Auftraggeber: Hermann Görings Reichsluftfahrtministerium.
Zwar schuf der Braunschweiger, der an der TH seiner Heimatstadt unter Carl Mühlenpfordt ausgebildet worden war, mit dem Reichsluftfahrt– und heutigen Bundesfinanzministerium einen der ersten Großbauten des »Dritten Reichs«. Doch um 1940 kühlte sich das Verhältnis zwischen dem mittlerweile verbeamteten Sagebiel und seinem Dienstherrn merklich ab, Rivalitäten mit dem mächtigeren Albert Speer taten ihr übriges. Beworben hatte sich der spätere »nationalsozialistische Großverdiener« (wie er im Rahmen seiner »Entnazifizierung« bezeichnet wurde) 1933 ausgerechnet mit einem Zeugnis Erich Mendelsohns. Ihm hatte er einige Jahre als Geschäftsführer gedient, sein Büro jedoch, entgegen einer gern kolportierten Legende, nicht übernommen.

Nach 1945 konnte Sagebiel nur noch wenig bauen, das Bankhaus Merck Finck &Co am Münchner Maximiliansplatz sollte sein einziges größeres Werk bleiben. Allerdings dürfte dieser Umstand kaum zum ökonomischen Problem für den Architekten geworden sein, da im Zuge der allgemeinen Restauration sein Beamtenstatus bald wieder hergestellt wurde. Sagebiel, der vor seiner Zeit bei Mendelsohn im Büro von Jacob Koerfer gearbeitet hatte, als dieser unter anderem das Kölner Hansa-Hochhaus schuf, war ein Mitläufer und Profiteur des NS-Regimes, der gleichwohl eine gewisse Distanz zu diesem zu wahren und Bedrängten zu helfen versuchte – zumindest, solange es seine eigene Position nicht gefährdete.
So schildert es Elke Dittrich in ihrer auf einer Dissertation beruhenden Monographie, bei der es sich um eine »Pionierarbeit« handeln soll. Ihr Ziel ist erklärtermaßen weder Verdammung noch Reinwaschung, sondern »durch den genauen Blick auf die persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen am Beispiel eines Menschen und seiner Tätigkeit einen Beitrag zum Verständnis der Zeit und ihrer furchtbaren Konsequenzen zu leisten«. Soweit bei der teilweise schlechten Quellenlage möglich, beleuchtet sie Person und Werk sowie notwendige Hintergründe. Nicht nur der Katalog der Arbeiten, der fast zwei Drittel des Bandes einnimmt, ist reich bebildert, und angenehmerweise braucht man in diesem Buch dank eines klugen Layouts einmal nicht dauernd zwischen Fließtext und Anmerkungen hin- und herzuschlagen. Natürlich erörtert die Autorin auch die immer wieder gern diskutierte Frage, wie weit Sagebiels auf Gediegen– und Detailverliebtheit orientiertes Schaffen in der Tradition zumindest einer gemäßigten Moderne steht Viele der Kasernen und ähnlichen Militärbauten, die Sagebiel schuf, stehen mit dem Abzug ausländischer Truppen und der Reduzierung der Bundeswehr vor einer ungewissen Zukunft. Interessante und das Gesamtbild prägende Teile der einstigen »Reichswerke Hermann Göring« in Salzgitter sind mittlerweile verschwunden. Und von Sagebiels Flughafen in München-Riem ist so gut wie, von jenem in Stuttgart gar nichts mehr vorhanden. Hier wurde so achtlos abgerissen, als hätte es sich nicht um wichtige Beispiele für die Lösung einer seinerzeit noch relativ neuen Bauaufgabe gehandelt.

Immerhin dürfte dem zweiten Hauptwerk dieses Architekten, dem Berliner Airport Tempelhof, der nach dem Willen der Politiker schon außer Betrieb gegangen sein sollte, dieses Schicksal erspart bleiben. Nichtsdestoweniger ist noch unklar, wie weite Teile des Riesenbaus künftig genutzt werden könnten. Dieses Buch über einen Architekten, dessen Arbeiten kaum überragende Kunstwerke sind, aber bemerkenswerte Zeugnisse ihrer Zeit, schließt nicht nur eine wichtige Lücke in der Erforschung der deutschen Architektur des 20. Jahrhunderts. Es kommt keinen Moment zu früh.

Jan Gympel in »Bauwelt«, Oktober 2005

 

Das vorgeblich »Tausendjährige Reich« vor Augen, scheint heute eine Frage unvermeidbar: Ist die kollektive Verdrängungsenergie nicht stärker als der Wunsch, sich seiner eigenen Geschichte  und damit Identität zu  stellen? »Schlußstrich«-Debatte und die aktuelle Betonung der eigenen Kriegsopferrolle darf man durchaus als Symptome der Unlust werten, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Um so besser, wenn es auch in bislang unterbewerteten Bereichen Ansätze der kritischen Reflexion gibt. Und wenn etwa eine jener Figuren, die gleichsam »in der zweiten Reihe« des NS-Regimes standen, stärker ausgeleuchtet wird. Der Architekt Ernst Sagebiel ist so ein Fall: Obschon seine Bauten an zentralen stadträumlichen Stellen präsent sind, läßt sich das Gleiche von seinem Namen kaum sagen.

Sein Leben und Werk wissenschaftlich aufzuarbeiten hat sich die Architekturhistorikerin Elke Dittrich auf die Fahnen geschrieben; was an sich ein lohnenswertes Unternehmen darstellt, wenn man bedenkt, daß der Volksmund die Architektur der NS-Zeit »trostlos, spärlich, grauslich« nannte – lautmalerisch gebildet nach den Namen der Protagonisten Paul Ludwig Troost, Albert Speer und Wilhelm Kreis. Troost starb früh; Speers Pläne blieben weithin unausgeführt, und Kreis – ein konservativer Baumeister der Weimarer Zeit – kämpfte um 1933 bereits gegen den Ruhestand. Was in den Jahren des »Dritten Reichs« in Berlin gebaut wurde und in einem bemerkenswerten Ausmaß erhalten blieb, trägt das Signum »Nazi-Architektur« zu Recht nur der Bauzeit nach. Allein dem Stil folgend, hätten viele Beobachter ihre liebe Not, die Bauten der Weimarer Republik, der Nazi-Zeit oder gar der Nachkriegszeit zuzuordnen. Vermag eine ausführliche Rezeption von Sagebiel nun das Bewertungsraster neu zu justieren?

Sagebiels Berufseinstieg begann erst mit Dreißig und umfaßte im Wesentlichen drei Stufen: Erste Sporen verdiente er sich bei dem Unternehmer-Architekten Jacob Koerfer (1875-1930), dessen wichtigste Projekte – Hansa-Hochhaus in Köln (1924/25), Deutschland-Haus in Essen und Westfalenhaus in Dortmund (jeweils 1928/ 29) – maßstabsbildend nicht nur in stadträumlicher Hinsicht, sondern auch in Bezug auf ihre straffe Organisation und Realisierung wurden. Zwischen 1929 und 1932 reüssierte er als Büroleiter bei Erich Mendelsohn in Berlin, damals einer der renommiertesten und wirkungsmächtigsten Baumeister in Deutschland. Bei den seinerzeitigen Projekten – in Berlin beispielsweise das Haus des deutschen Metallarbeiterverbandes, das Columbushaus und der Woga-Komplex (der heute die Schaubühne beherbergt) oder in Chemnitz das Kaufhaus Schocken – war er weder als Bauleiter noch als Entwurfsarchitekt, »sondern als Geschäftsführer, also in einer leitenden, projektübergreifenden und explizit nicht-künstlerischen Funktion beschäftigt«. Der namhafte Architekturhistoriker Julius Posener, 1931 ebenfalls in Mendelsohns Atelier angestellt, »erlebte Sagebiel in leitender Position, als ›zweiten Mann‹ oder ›Ordnungsmann‹, der hundertprozentig in die von Strenge und Disziplin geprägte Atmosphäre im Büro gepaßt habe».
Nach einer kurzen Übergangsphase war das Jahr 1933 auch für Sagebiel so etwas wie ein Schicksalsdatum: Er trat der NSDAP sowie der SA bei – und zugleich in den öffentlichen Dienst ein, nämlich in die Bauabteilung der Luftwaffe. Dort vollzog sich eine erstaunliche, wiewohl seltsam beiläufige Karriere, begünstigt durch ein manifestes Organisationstalent und seine ostentative Loyalität: Binnen eines Jahres vom einfachen Angestellten zum Ministerialrat befördert, wurde ihm im Dezember 1934 sein bis dato größter Auftrag zuteil: der Neubau des Göring'schen Reichsluftfahrtministeriums in Berlin-Mitte (heute: Bundesministerium der Finanzen). Dieser prominente Direktauftrag aber sei, so die Autorin, weniger auf Protektion als vielmehr auf seine genuine »Zuständigkeit« (Sonderaufgabe qua Amt) zurückzuführen; zudem könne man davon ausgehen,»daß Sagebiel sich innerhalb der Luftfahrtverwaltung einer solchen Wertschätzung erfreute, daß man ihm in diesem Fall nicht nur den organisatorischen, sondern auch den entwurflichen Teil dieser Aufgabe anvertraute«. Für eine weithin präzedenzlose Bauaufgabe mit 2.000 Arbeitsräumen für ein zuvor nicht existentes Ministerium mußte Sagebiel sehr schnell eine Lösung finden. Entstanden ist eine bedachte Grundrißfigur, die in gewisser Weise die Vorbilder der gemäßigten Moderne, insbesondere Hans Poelzigs IG-Farben-Verwaltung in Frankfurt a. M., rezipierte, zugleich aber Elemente der angrenzenden Bebauung aufnahm.
Und schon im April 1935 wurde Sagebiel mit Vorentwurfsplanungen für den Flughafen Tempelhof beauftragt, »der sein umfangreichstes und bedeutendstes Projekt werden sollte«. Die städtebauliche Konzeption mit Kreisplatz ist gleichermaßen genuine Neuschöpfung wie – allem Auftrumpfen zum Trotz – Einordnung in den Stadtkörper. Die Architektur dieses – unzutreffender Weise – als »größtes Gebäude der Welt« apostrophierten Bauwerks offenbart sich als eigentümlicher Zwitter: Insbesondere im nordwestlichen Flugsteigteil eine durchaus moderne, elegante und dynamische Anmutung; in der Hauptfassade der Empfangshalle mit ihrem vorgelagerten Ehrenhof hingegen monumental, ja einschüchternd in der Wirkung.

Gewiß ist die Rolle Sagebiels irgendwie hybrid: Karrierebeamter der Luftwaffe und zugleich ein freier Architekt: mit vollen Auftragsbüchern und ausgesprochen gut bezahlt. Er gestaltete eine nationale Textilausstellung, leitete das »Baubüro für holzindustrielle Anlagen«, baute Zellstoffwerke und plante schließlich die Industrie- und Verwaltungsbauten der Reichswerke Hermann Göring in Watenstedt-Salzgitter – eine Gartenstadt für 130.000 Einwohner mit höchstens dreigeschossiger Wohnbebauung, von einer Schnellbahn umfahren, mit Volkshalle, Stadthalle, Theater. »Ernst Sagebiel war somit zum wichtigsten Industriearchitekten des Dritten Reichs aufgestiegen«. Je umfassender und machtvoller aber die Rolle Albert Speers in Berlin wurde, desto mehr erwies sich diejenige Sagebiels als eingeengt; bei der »Neugestaltung der Reichshauptstadt« war er schließlich nur noch sekundär beteiligt. Gleichwohl – oder gerade deshalb – meint die Autorin hier Gemeinsamkeiten zu erkennen:»Penibel in der Erfüllung ihrer Aufgaben, gehemmt und distanziert im persönlichen Umgang, entwickelten sich beide eher zu äußerst effizienten Organisatoren als zu großen Architekten.«
Was Elke Dittrich vorgelegt hat, ist eine akribische Faktensammlung: eher deskriptiv denn analytisch, weitgehend ohne theoretischen Anspruch, dafür angenehm nüchtern und zurückhaltend »erzählend« – bis weit hinein in biographische Details aus Privat- und Berufsleben Sagebiels. Das aus einer Dissertation der Autorin hervorgegangene Buch ist ansprechend gestaltet, sorgfältig ediert, reich bebildert. Freilich bleibt ein kleiner Beigeschmack, daß ausgerechnet jetzt, da in den Feuilletons die NS-Verbrechen angesichts des alliierten Bombenkrieges relativiert werden und ein gewisser, selbstredend »ironisch gebrochener« Nazi-Chic wieder en vogue ist, eine solche Untersuchung erscheint. Aber dies darf man wohl kaum der Autorin anlasten. Indes wird auch hier der Stand der Forschung insofern bestätigt, als das Nationalsozialistische Regime letztlich kein kohärentes Architekturprogramm formuliert hatte. Neben den neoklassizistischen Kolossalbauten wie der Reichskanzlei oder dem Olympiastadion und den ideologisch-heimatverbundenen »Blut–und–Boden–Architekturen« im bäuerlichen Stil standen die Industriebauten oder Verkehrsbauten der Moderne. Und Sagebiel mittendrin – als Architekt womöglich genauso unentschieden wie als Parteimitglied.

Dr. Robert Kaltenbrunner, in »Raumplanung«, Oktober 2005

 

Selbst in der Fachöffentlichkeit war Ernst Sagebiel nur bruchstückhaft als Architekt des Reichsluftfahrtministeriums sowie des Flughafens Tempelhof präsent. Die umfangreiche Arbeit Elke Dittrichs erschließt nun »Leben und Werk« vom Studium Sagebiels in Braunschweig über die Zeit als »williger Mitläufer« bis in die Nachkriegs­zeit. Es erschließt sich ein vorzüglich aufbereitetes Gesamtwerk, das seinen unverfälschtesten Aus­druck vielleicht in Sagebiels eige­nem Wohnhaus aus dem Jahr 1935 findet, denn natürlich reagiert Sagebiel als Architekt des RLM auf die offizielle Architektur.
»Denkmalspiegel«, Juli 2005

 

Was hat die Lebens- und Werkbeschreibung eines Architekten mit dem Thema Luftfahrt zu tun? In diesem Fall ungeheuer viel, denn als die Luftwaffe des Dritten Reiches für ihr großangelegtes Aufbauprogramm Architekten suchte, bewarb sich Ernst Sagebiel als Bauleiter für die Fliegerschule Fassberg, um nach offenbar überzeugender Tätigkeit Ende 1933 ins Reichsluftfahrtministerium zu wechseln. Hier kletterte Sagebiel die Karriereleiter rasch empor und wurde einer der wichtigsten Architekten der Luftwaffe. Zu seinen Großbauten gehörten das Reichsluftfahrtministerium und der Flughafen Tempelhof, aber auch die Luftkriegsschulen Gatow, Wildpark-Werder, Dresden-Klotzsche, Fürstenfeldbruck, die Flughäfen Stuttgart-Echterdingen und München-Riem entstanden unter seiner Verantwortung. Der Leser erfährt viel über die Wirkmechanismen eines Bereichs der deutschen Luftwaffe, welcher sonst nicht im Zentrum der Betrachtung steht. Der anspruchsvolle, gut gegliederte und typographisch hochwertige Titel – von der Verfasserin 2003 als Dissertation vorgelegt – muß als Bereicherung der deutschen Luftfahrtgeschichte angesehen werden.

J. M. in »Fliegerrevue«, Heft 8, 2005

 

Auf manch aktuellem Stadtplan firmiert der Flughafen Tempelhof schon als »geschlossen« – dabei werden bis auf weiteres jährlich mehr als 400 000 Passagiere in dem riesigen Gebäudekomplex abgefertigt. Trotzdem wirkt das gewaltige Abfertigungsgebäude zu beinahe jeder Tageszeit verloren und leer. Es liegt gewissermaßen im Wachkoma. Immerhin zählte der Flughafen in den frühen siebziger Jahren jährlich rund 15mal so viele Menschen: Fast sechs Millionen Besucher kamen auf dem damals weltgrößten innerstädtischen Airport an.
Der Flughafen, dessen Bau noch zu Friedenszeiten 1936 begann und im Kriegsjahr 1940 im wesentlichen beendet wurde, gilt gemeinhin als Muster für nationalsozialistische Architektur. Doch Experten sahen das schon immer etwas differenzierter. Jetzt hat die Bauhistorikerin Elke Dittrich zwei Bücher vorgelegt, in denen sie dem Flughafen und seinem Architekten nachspürt. Morgen Abend um 19.30 Uhr stellt Frank Böttcher, Chef des kleinen, sehr engagierten Lukas-Verlages, beide Bände an angemessenem Ort vor: im ehemaligen Restaurant in der großen Abfertigungshalle des Flughafens.
Zu den Brüchen in der Geschichte von Tempelhof gehört, daß Sagebiels Abfertigungsgebäude zwar 1940 im wesentlichen stand, aber erst nach dem Krieg in Betrieb genommen wurde – bis dahin wurden Passagiere des Berliner Zentralflughafens noch in dem alten, 1926 eingeweihten und bereits 1933 viel zu kleinen Terminal abgefertigt. Ein anderer, noch spannenderer Bruch ist, daß Sagebiel zwar von Hermann Göring den offiziellen Auftrag hatte, Europas größtes Luftdrehkreuz zu entwerfen, daß aber Hitlers »Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt« Albert Speer Sagebiels Bau nicht wollte und vorhatte, Tempelhof wieder zu schließen. Statt dessen sollte ab 1950 ein neuer, noch gewaltigerer Flughafen weit im Süden der Stadt errichtet werden und das Tempelhofer (Flug-)Feld zum innerstädtischen Freizeitpark umgestaltet werden.
Trotzdem ist Sagebiels Bau einer der wichtigsten erhaltenen Bauten der NS-Zeit - neben dem ebenfalls von ihm geplanten Reichsluftfahrtministerium an der Wilhelmstraße (heute Finanzministerium) und den Bürogebäuden rund um den Fehrbelliner Platz. Dittrich zeigt in ihrem gewichtigen Werkkatalog das Gesamtwirken dieses modern denkenden Baumeisters, der Karriere im neugegründeten Nazi-Reichsluftfahrtministerium macht, dabei reich wird, aber seit Speers Aufstieg ins Abseits gerät. Nach dem Krieg gehörte Sagebiel zu den Architekten, die den Wiederaufbau unspektakulär mitgestalteten.
Daher bleibt sein wesentliches Werk der Flughafen Tempelhof. Die Grundkonzeption des gleich einem Kleiderbügel geformten, 1200 Meter langen Gebäudes folgte einem gut durchdachten Ansatz: Die verschiedenen Verkehrsströme – ankommende und abfliegende Passagiere, ihr Gepäck, Luftfracht und Postsendungen – mußten koordiniert werden. Sagebiel löste das Problem durch die Verlagerung auf verschiedene Ebenen.
In einem bestimmten Sinne ist der Flughafen sogar typisch für das NS-Regime: Nach außen hin dominieren Muschelkalk und der übliche »Bauschmuck« der NS-Architektur. Zur Flugfeldseite hin dagegen folgte Sagebiel modernsten Bautechniken. Gerade diese Doppelgesichtigkeit, das Nebeneinander von technisch neuesten Methoden und archaischen Verzierungen, macht die NS-Architektur aus. Elke Dittrich zeigt das in ihren lesenswerten Büchern beispielhaft.
Sven Felix Kellerhof in der »Berliner Morgenpost« vom 13. Juni 2005

 

Das Buch kommt gut terminiert zum Zeitpunkt, da Albert Speer, der bekanntere und einflußreichere Konkurrent Sagebiels, nun endgültig öffentlich zerlegt wird. Das war zwar von der Autorin, die schon länger einen Verlag für die Verbreitung ihrer umfangreichen Dissertation suchte, so nicht vorherzusehen, aber es paßt, und es bestätigt sie in der Maßnahme, sich mit Sagebiel zu befassen. Immerhin weiß das Fachpublikum spätestens seit der Ausstellung von Schäche und Reichardt 1984 um die volle Verbindung Speers mit den Vorbereitungen des Holocaust und brauchte dazu nicht erst Breloers »Speer und er«. Daß der Planer des Tempelhofer Flughafens hierin nicht mithalten kann, erleichtert uns, auch nach der Lektüre der Biographie.
Die Arbeit ging ursprünglich von der Befassung mit dem Tempelhofer Flughafen aus und mußte im Verlauf die Person dahinter zur Kenntnis nehmen und ins Zentrum rücken. Das ist das hohe Verdienst der Arbeit, daß sie nämlich den Hauptakteur in diesem Projekt so beleuchtet, daß die ewigen »Nazi-Architektur« Diskussionen auf ein realistisches Terrain verlagert werden. Wir wollen uns hier nicht von dieser Diskussion blind abheben und unser Lieblingsobjekt nicht zwanghaft aus der Zeitschiene »3. Reich« herauszerren – lassen wir Foster, Eisenmann, Gerkan und andere den Diskurs ausfüllen, dann brauchen wir uns nicht öffentlich zu überheben. Aber das Ergebnis läßt sich, bei aller Formulierungs-Vorsicht der Autorin, derart deuten, daß Sagebiel der geniale Organisator, Planungsleiter, Funktionalist war, der sich erfolgreich in große Prozesse eingliedern konnte. Daß er ein ganz großer Architekt und Formkünstler wäre, hat niemand so behauptet und findet sich auch bei Elke Dittrich nicht. Aus der genialen Integration der Vorgaben und Prozesse ist eben doch etwas entstanden, was heute noch jede kritische Betrachtung »besteht« und beeindruckt, soweit wir uns auf das größte und wichtigste Bauwerk Sagebiels beziehen, den Flughafen Berlin Tempelhof. Dieser sowie das Reichsluftfahrtministerium waren und bleiben seine auffälligsten Bauten, die Menge der weiteren Werke wird heute aus verschiedenen Gründen heute nicht mehr so deutlich wahrgenommen.

Die Leistung der Arbeit und dieses Buches ist, die Biographie Sagebiels weitgehend zusammengetragen zu haben, daraus ein schlüssiges Bild der Person zu entwickeln sowie eine breite Monographie seiner Bauwerke zu bieten. Die »Bewertung« im Schlußteil ist mehr eine Erläuterung von Einflüssen, Bedingungen, Ergebnissen: Sagebiel gibt für irgendeine »Verurteilung« keinen herausragenden Anlaß, ebenso ist sein Werk mehr von Zeit- und politischen Rahmenbedingungen geprägt und nicht Vorkämpfer einer spezifischen »Nazi-Architektur«, obwohl seine beiden Hauptwerke zu den größten, ersten und auffälligsten gehörten: Das Werk erscheint in dieser Hinsicht als Ergebnis eines Prozesses der Anpassung. Daß er im 3. Reich reichgeworden ist, mag man zur Kenntnis nehmen, auch hiermit bietet er aber keine Zielscheibe für die Generalabrechnung, die auch die Autorin nicht liefern will: Man vermutet am Ende hinter vielen ihrer Relativierungen eher Bereitschaft zu einer gewissen Sympathie.
Zugleich spürt man doch zwischen den Zeilen, daß diese Erkenntnis, evtl. nach vorher gefaßten Vorurteilen, sich durch die Recherche eingestellt (verändert) hat, und daher immer ganz leicht im Zweifel bleibt. Ein Grund hierfür ist, daß, wie bereits an anderer Stelle formuliert, der Fokus der Architekturbetrachtungen auf einer breiten formal-ästhetischen Beurteilung liegt. Die funktional praktischen Aspekte treten dahinter zurück bzw. sind der Autorin möglicherweise zum Teil nicht aufgefallen. Natürlich können wir uns dieses Urteil so scharf nur bezüglich des Flughafens Tempelhof erlauben, auch wollen wir uns in die Diskussion um die abstrakt-formale Bewertung hier nicht einmischen.
Möglicherweise war gerade Sagebiel, der selbst von unterschiedlichen, eher expressiven Formvorstellungen seiner vorherigen Arbeitgeber Koerfer und Mendelsohn geprägt war, als zwar moderner, aber nicht ausschließlich am formalen Ergebnis orientierter Gesamtplaner derjenige, der dieses geniale Konstrukt erzeugen konnte. Vieles lag vielleicht schon vor, in Hamburg-Fuhlsbüttel gab es die getrennten Ebenen bereits, in Amerika formale Vorlagen aus Wettbewerben, von Speer erste erfolgreiche Einflüsse zur Architektur-Richtung, vom »Führer« persönlich stadträumliche Definitionen – aber nur einer hat es alles zusammenkomponiert und vergrößert und erfolgreich umgesetzt, so daß wir heute immer noch damit etwas »anfangen« können.
Zum Glück läßt die Autorin hier in der Biographie eine »Beurteilung« des uns interessierenden Gebäudes weg und entgeht damit dem frontalen Angriff aufgrund von Fehleinschätzungen. Einiges ist hier auch differenzierter ausgeführt als in der dünnen Broschüre [Elke Dittrich: Der Flughafen Tempelhof in Entwurfszeichnungen und Modellen 1935 – 1945], nehmen wir nur mal die Erläuterung der Ebenenorganisation in Tempelhof.

Daß es keine eindeutige Verlobhudelung oder Verdammung Sagebiels gibt, ist sinnvolles Ergebnis einer Dissertation, die sich gegenüber populistischen Schnellschüssen zurückhalten muß; ist weiterhin Ergebnis des breiten Materials aus der intensiven Recherche mit eben leicht disparaten Erkenntnissen, und ist auch: Ergebnis der Zeit. Allein die Geschichte des Professorentitels ist dafür prägnantes Signal. Sagebiel war bereits aufgrund von Leistung und Kompetenz auf dem ersten Platz einer Berufungsliste in Braunschweig gelandet, bevor aus nazi-parteitaktischen Gründen irgendein Sekundärkandidat durchgezogen wurde. Den reinen Titel des Professors hat Sagebiel dann später – ebenso aus Gründen der Parteilinie – zugesprochen bekommen. Soll man ihn deshalb nun abwerten, schelten? Nachträgliche Genugtuung? Nun, er hat auch mitgenommen, was mitzunehmen war. Mies van der Rohe hat das bis 1936 auch getan, bis er gemerkt hat, daß er nicht mehr »landet« Danach ist er dann noch erfolgreich geworden, in Amerika.
Das Buch ist umfangreich, umfassend, auch nicht ganz billig. Eine banale Kaufempfehlung sei hier vermieden, da es doch stark auf das Fachpublikum orientiert ist.
Für uns und aus Sicht des Tempelhofer Flughafens bleibt der dezente Nachgeschmack, daß die Sicht auf Raumgliederungen, Nutzungsqualitäten und Konstruktionsleistungen einfach etwas dünn ist, und das wäre für die schlüssige Beurteilung Sagebiels wichtig gewesen.
N.N. (
ICAT Interessengemeinschaft City-Airport Tempelhof e.V., Berlin)

Zwei der frühesten – und überhaupt größten – Bauvorhaben des »Dritten Reiches« fielen in den Bereich der Luftwaffe, die Vorzeigegattung der Wiederaufrüstung nach 1933. Ernst Sagebiel war zum richtigen Zeitpunkt der geeignete Architekt, sie zu verwirklichen: das Reichsluftfahrtministerium und den Flughafen Tempelhof. Heute gelten die beiden passabel durch den Krieg gekommenen Bauten als Musterbeispiele der NS-Architektur – was nicht ganz zutrifft, denn die war seinerzeit noch nicht dogmatisch ausformuliert. Erst Albert Speer trimmte alle Staatsbauten auf den bekannten, monotonen NS-Klassizismus – und Sagebiel (1892–1970) wurde danach auf den reinen Industriebau abgedrängt. Er verkörpert den Typus des sich unpolitisch gebenden Fachmanns, der durch reibungslose Mitarbeit Karriere machte. Und reibungslos gelangte er alsbald auch in den engsten Mitarbeiterkreis von Herrmann Göring, vor allem im Hinblick auf dessen Industrieprojekte. Über Sagebiel hat Elke Dittrich jetzt ein umfangreiches Buch veröffentlicht, das zum einen die zahlreichen Bauten und Entwürfe des Architekten vorstellt, zum anderen aber ebenjenen Typus des »willigen Mitläufers« – so die Autorin – plastisch werden läßt, der für das Funktionieren des NS-Regimes so wichtig war
Bernhard Schulz im »Tagesspiegel« vom 1. März 2005