Dieter Hoffmann-Axthelm

Der große Jüdenhof

Ein Berliner Ort und das Verhältnis von Juden und Christen in der deutschen Stadt des Mittelalters

 

Die Jüdenstraße gehört zu den ganz wenigen Orten, welche mit der Entstehung des »sozialistischen Stadtzentrums« rund um den Berliner Fernsehturm nicht ausgelöscht wurden. Das hatte schlicht praktische Gründe: Die Trasse verläuft entlang einer Flanke des Roten Rathauses und der Hauptfront des Alten Stadthauses. Die benachbarten Rudimente des Großen Jüdenhofes aber überstanden den ‑ dank großer Ambitionen und begrenzter Mittel ‑ vor allem aus wenigen Betonklötzen, überdimensionierten Autoschneisen und anderer Ödnis bestehenden »Wiederaufbau« ebensowenig wie der allergrößte Teil Alt-Berlins. Im Zuge des Versuchs, wenigstens ein wenig historische (und menschliche) Dimension zurückzugewinnen, ist im Rahmen des vielbefehdeten »Planwerks Innenstadt« auch ein Neubau des Jüdenhofs vorgesehen ‑ »als ein Stadtdenkmal in heutiger Architektur und Nutzung auf historischem Grundriß«, wie es auf der Rückseite des vorliegenden Bandes heißt. Selbigen kann man denn auch als Beitrag eines der Planwerk-Autoren zu diesem Projekt sehen. Doch geht die Bedeutung des Buches weit darüber hinaus. Denn erst einmal gilt es zu klären: Was ist eigentlich ein Jüdenhof?
Keineswegs handelt es sich um ein Überbleibsel eines Ghettos, wie der durchschnittlich Gebildete vermuten mag. Hoffmann-Axthelm hat seine Publikation als eine Art Forschungsreise in die Vergangenheit gestaltet. Man kann mitverfolgen, wie er sich in immer tiefere Zeitschichten vorarbeitet ‑ was, je nach Mentalität des Lesers, spannend oder enervierend umständlich wirkt. Recht kühn hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Methodik, was Auswahl und Gebrauch der Quellen angeht, ermittelt der Autor Typen von Judenhöfen, Judengassen und dergleichen. Zum Vergleich dienen ihm dabei Erkenntnisse aus Speyer, Schwäbisch Gmünd, Ulm, Rottweil, Nürnberg, Nordhausen, Paderborn und Dresden, schließlich aus (einstmals) brandenburgischen Orten, allen voran Stendal, spielte der rasch erblühte Hauptort der Altmark doch offenkundig eine zentrale Rolle für die märkischen Juden bis zu ihrer Vertreibung 1510.
Die ‑ eigenen Angaben zufolge ‑ Pionierarbeit trifft allgemeine Feststellungen zum Verhältnis von Juden und Christen im mittelalterlichen Deutschland sowie zu den sich daraus ergebenden Folgen für die jeweilige Stadtgestalt und darin bis heute zu entdeckenden Spuren. Und sie kommt zu dem Ergebnis, es habe sich bei der Berliner Anlage um den ‑ eben recht typischen ‑ Vorhof der mittelalterlichen Synagoge gehandelt, dessen Umgebung womöglich auch ein Wohnort von Juden war. Doch ‑ wie im Falle vieler anderer Judengassen ‑ mit Sicherheit nicht der einzige, und auch kein von der christlichen Mehrheitsgesellschaft erzwungener. Vielmehr wäre der Wunsch nach Abgrenzung beidseitig gewesen. Andererseits seien die Juden im Hochmittelalter ein weitgehend akzeptierter Bestandteil der Gesellschaft gewesen, zumindest so lange man sie brauchte, wie bei den zahlreichen Stadtgründungen des 12. und 13. Jahrhunderts. Auch im Falle Berlins waren sie wohl schon an der Entstehung der Stadt beteiligt, weshalb der Jüdenhof ‑ typischerweise in Nähe des Marktes, aber auch am Rande gelegen ‑ zu deren ältesten Siedlungsgebieten und Strukturen gehört(e). In der Neuzeit jedenfalls habe man hier durchschnittliches Kleine-Leute-Milieu antreffen können, wobei die Baulichkeiten im Kern größtenteils aus dem späten 17. oder 18. Jahrhundert stammten. Bemerkenswerterweise scheinen deshalb auch die übelsten Antisemiten der deutschen Geschichte kein Problem mit dem Großen Jüdenhof gehabt zu haben: Zwar wurde dessen Südseite samt vieler anderer Häuser für den 1936‑38 erfolgten Bau des heutigen Neuen Stadthauses abgerissen, der Rest aber restauriert.
Erst die DDR vollendete die schon seit rund einem Jahrhundert virulente Feindschaft von Stadtplanern und Architekten gegen die gesamte Keimzelle Berlins, indem sie letztere nahezu vollständig entsorgte: Das Areal des Großen Jüdenhofs ist momentan einer von vielen Parkplätzen am Rande eines gestaltlos zerfließenden Stadtraums. Für seine Neubebauung, durchaus als Initialzündung für die gesamte Umgebung gedacht, schlägt Hoffmann-Axthelm einige Leitlinien vor, dank derer auch ein Disneyland voller Beliebigkeiten verhindert werden soll, wie es die späte DDR mit dem benachbarten Nikolaiviertel schuf: Neben Verwendung heutiger Architektur und auch größerer Gebäudehöhen fordert er die akkurate Wiederherstellung des ursprünglichen Grundrisses und insbesondere der Parzellenstruktur. Zur Erzielung eines lebendigen neuen Jüdenhofs sollte ferner jeder Bauherr nur ein Grundstück erwerben dürfen (momentan befindet sich das gesamte Gelände im Besitz der öffentlichen Hand) und auch verpflichtet werden, dieses selbst zu nutzen. Fromme Wünsche, doch angesichts der Erfahrungen, die in den letzten Jahren an vergleichbaren Orten zu machen waren, ahnt man schon, welche faulen Kompromisse am Ende wohl auch hier herauskommen werden.
Jan Cympel in »StadtBauwelt« 36/2005