Thomas Nitz
Stadt – Bau – Geschichte

Die Publikation ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die 2003 am Lehrstuhl für Bau- und Stadtbaugeschichte bei Prof. Dr.-Ing. Johannes Gramer an der TH Berlin eingereicht wurde. Die Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur »historischen Stadtforschung« und ist auf der Schnittstelle zwischen historischer und baugeschichtlicher Forschung angesiedelt, verfolgt aber auch siedlungsgeschichtliche Prozesse. Anhand einer eingehenden Studie zur mittelalterlichen Großstadt Erfurt soll exemplarisch gezeigt werden, wie fruchtbar die Fächergrenzen überschreitende Bearbeitung stadtgeschichtlicher Fragen sein kann. Es geht Nitz nicht darum, einzelne Bauten zu dokumentieren und als Geschichtsquellen zu befragen, sondern sie als Quelle in ihrer Eingebundenheit in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Stadt und vor dem Hintergrund der baulichen Zusammenhänge auf der Hausstätte und im gesamten Baublock zu sehen. Anhand des intensiv und flächenhaft untersuchten Allerheiligenquartiers, der gesamten dort überlieferten Substanz an Wohn- und Wirtschaftsbauten sowie der zu ihnen gehörenden archivalischen Quellen und unter Vergleich mit ausgewählten Bauten in anderen Bereichen der Stadt werden für Erfurt allgemeingültige Aussagen für die Zeit zwischen dem 12. und dem späteren 19. Jahrhundert erzielt. Das für die Untersuchung erarbeitete Häuserbuch (»Häuserliste«) wurde der Publikation in digitaler Form als CD beigelegt.
Bemerkenswert ist die konsequente Betrachtung jeweils der Gesamtbebauung einer Stätte (allerdings fälschlich von Nitz als »Parzelle« bezeichnet), ein Vorgehen, das erst das Erkennen städtischer Lebens-, Wohn- und Wirtschaftsformen in ihrem komplexen System ermöglicht, allerdings bislang auch in der baugeschichtlichen und der denkmalkundlichen Forschung keineswegs Allgemeingut geworden ist. So musste Nitz bezeichnenderweise feststellen, dass während seiner Bearbeitungszeit die letzten kompletten Hofbebauungen bürgerlicher Anwesen in der Stadt beseitigt worden sind. Keineswegs ist es also der Denkmalpflege selbst in einer so bedeutenden Stadt wie Erfurt gelungen, Bauten und Baustrukturen der langen städtischen Vergangenheit exemplarisch zu erhalten. Stattdessen fokussierte sich auch hier wie anderenorts das Interesse an der überlieferten Substanz weitgehend auf die- Vorderhäuser, auf die Bauten, die gemeinhin als »Bürgerhäuser« verstanden werden.
Nitz gelingt es auf seiner breiten Materialbasis für Erfurt erstmals, die Entwicklung des Stadtbildes seit der Gründung um 1100 auf älteren, bislang allerdings nicht deutlicher bekannten Siedlungskernen in groben Zügen nachzuzeichnen. Sie war keineswegs von Statik oder Epochen gekennzeichnet, sondern unterlag kontinuierlichem Wandel, der sich in der bebauten und befestigten Fläche, in ihrer Aufteilung, Erschließung und Nutzung nachweisen lässt, sich aber auch in immer wieder erneuerten und veränderten funktionalen Bedürfnissen an die Bausubstanz und an die Stadträume sowie in der, stets neu definierten Gestaltungsvorstellungen angepassten, Bebauung niederschlug. Die Ergebnisse im Kleinen (bei den Hausstätten der Kaufleute, Handwerker und Lohnabhängigen) sowie im Großen (etwa bei der mehrmaligen Verlagerung der Räume für den Markt) eröffnen nicht nur für die Stadtgeschichte von Erfurt neue Perspektiven. Sie stehen in einem scharfen Kontrast zu zahlreichen, zumeist im Epochendenken verhafteten siedlungs- und baugeschichtlichen Darstellungen etwa der Architekturgeschichte oder stadtgeschichtlicher Atlanten.
Faszinierend ist die auf den Einzelerkenntnissen aufbauende, weitere Forschung provozierende These von Nitz, dass die festgestellte Vielfalt in der Stadt auch Ausdruck ihrer im Grenzraum und Durchdringungsbereich niederdeutscher und oberdeutscher Kultur sei und es sich bei Erfurt um die südlichste Stadt des Nordens handele. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist das knapp und anschaulich geschriebene Buch höchst lesenswert. Es legt daher nahe und regt dazu an, auch in weiteren Städten vergleichbare Untersuchungen zu beginnen. Erst solche Untersuchungen lassen Stadtgeschichte in ihrem komplexen Wirkungsgeflecht sichtbar werden und sind zudem eine elementare Grundlage für das Verständnis zur Erhaltung historischer Bauten als anschauliche Quellen unserer Geschichte. Dieser Schützenhilfe bedarf vor allem die Denkmalpflege in dieser Zeit zurückgehender öffentlicher Mittel, in der die Erhaltung des historischen Stadtbildes nicht mehr durch Zuschüsse allein erkauft, sondern zumeist nur noch durch Überzeugung der betroffenen Bürger erreicht werden kann.
Fred Kaspar in: »Zeitschrift für Thüringische Landesgeschichte«, Band 62, 2008

 

 

Der Stadt Erfurt als Lebensraum durch acht Jahrhunderte hindurch widmet sich diese aus dem Bamberger Graduiertenkolleg »Gefügekunde und Dendrochronologie in Thüringen und Sachsen-Anhalt« hervorgegangene Dissertation. Wirtschaftliches und soziales Leben in der Stadt wurden auf der untersten Ebene durch Parzellen und Wohnhäuser gegliedert. Nitz’ Ziel ist die Untersuchung dieser Einheiten in einer Synthese von Hausforschung und Stadtgeschichte auf der Grundlage baugeschichtlicher und archivalischer Quellen. Erfurt ist ihm dabei ein geeigneter Untersuchungsgegenstand, weil die Bausubstanz der Altstadt seit dem hohen Mittelalter von großflächigen Verwüstungen verschont blieb, der Bestand seit 1990 baugeschichtlich intensiv dokumentiert wurde und eine reichhaltige archivalische Überlieferung zur Stadtgeschichte vorliegt. Den Kern der Arbeit bildet die Untersuchung des Allerheiligenquartiers. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse stellt der Verfasser in den Gesamtzusammenhang der Stadtentwicklung seit dem Hochmittelalter, um strukturgeschichtliche Aufschlüsse über große Zeitabstände bis zur Industrialisierung zu gewinnen. Quellen und Methoden werden in zwei einleitenden Abschnitten vorgestellt: Als Grundlage dient die erhaltene Bausubstanz, deren morphologische Merkmale vom Dachwerk bis zum Fenstergitter vor allem hinsichtlich der Gewinnung von Datierungskriterien erläutert werden (S. 19–34). Unter den Schriftquellen wurden für die Frühzeit vor allem die gedruckt vorliegenden Urkunden ausgewertet. Aus den zuständigen Archiven, vor allem dem Stadtarchiv Erfurt, wurden ungedruckte Urkunden in Auswahl herangezogen, ferner Rechtsquellen und Steuerlisten, insbesondere die Serien der Freizinsregister und der Verrechts- bzw. Stadtlagerbücher, die sich für die Studie als sehr ergiebig erwiesen. In engem Zusammenhang mit der Bausubstanz wurden die Akten der Bauverwaltung sowie die Überlieferung von Karten, Plänen, Rissen und Fotografien ausgewertet. Ältere archivalische Ausarbeitungen aus den Beständen des Stadtarchivs erleichterten Nitz die Durchdringung des Stoffs (S. 35–47).
Die Studie schreitet vom Allgemeinen zum Besonderen fort, von der allgemeinen Entwicklung der städtischen Topographie, der Verfassung und der Wirtschafts- und Sozialstruktur (S. 48–136) über die »Einzelparzelle und ihre Bebauung« (S. 137–179) zur äußeren (S. 180–206) und zur inneren (S. 207–258) Gestalt der Wohnhäuser; Sakralbauten und öffentliche Gebäude bleiben ausgeklammert. Für die Besprechung empfiehlt es sich, von dieser Gliederung abzuweichen und epochenbezogen Hauptaussagen zusammenzufassen: Die Darstellung setzt mit dem Wiederaufstieg der 1080 durch König Heinrich IV. zerstörten Stadt im frühen 12. Jahrhundert ein. Durch seine hervorragende Verkehrslage wurde Erfurt schnell ein Machtzentrum der Erzbischöfe von Mainz und ein wirtschaftsstarker Zentralort. Innerhalb der im 12. Jahrhundert errichteten Stadtmauer befanden sich hauptsächlich große, quadratisch zugeschnittene Parzellen von etwa 50 m Kantenlänge für kombinierte Wohn- und Gewerbezwecke. Die städtische Oberschicht unterhielt darauf Kemenaten in Stein- oder Fachwerkbauweise, die giebelständig entweder direkt zur Straße standen oder, wenn sie zurückgesetzt waren, durch einen Vorbau mit dieser verbunden waren. (Instruktiv ist hierfür eine Fotografie von dem um 1920 erfolgten Abbruch eines derartigen Ensembles, Abb. 83, S. 184.) In der Regel hatten die Kemenaten über einem teilweise eingetieften Keller zwei Geschosse und variierten im Grundriß zwischen 6x7 und 9 x 13 m. Im Inneren waren sie noch wenig gegliedert. Für das frühe 14. Jahrhundert sind die ersten der Abtrennung von kaminbeheizten Stuben (estuarium oder dorncze) dienenden Holzeinbauten in Wohnhäusern neuen Typs archivalisch nachweisbar; da sie kein fester Bestandteil des Hauses waren, galten sie rechtlich als Mobilien.
Die Wende zum 14. Jahrhundert bedeutete einen allgemeinen Wandel in der Stadtstruktur. Die Erweiterung des Mauerrings, die Ansiedlung von Bettelorden und der Judenpogrom von 1349 wandelten die Topographie, innerhalb deren die fortschreitende soziale Differenzierung der Einwohnerschaft die Parzellenstruktur veränderte: Großparzellen legte man zum Bau von Speichern zusammen oder teilte sie, um Raum für Mietshäuser und kleine Läden zu schaffen. Nitz gelingt es dabei, die in den Schriftquellen vorkommenden Bezeichnungen für Parzellenformen (curia, domus, apotheca) mit baugeschichtlichem Leben zu füllen. Die Häuser wurden nun traufständig mit der Dachschräge zur Straße hin gebaut; die größeren hatten drei Obergeschosse, von denen das erste als Wohnung, das zweite den Kaufleuten als Lager diente. Die Durchsetzung der Stubenhäuser signalisiert die Neuausrichtung des Erfurter Hausbaus an oberdeutschen Vorbildern, während sich die älteren Kemenaten an niedersächsischen und westfälischen Traditionen orientiert hatten. Mit diesem Befund trägt die Hausgeschichte zum Bild der Mittlerrolle Erfurts und Thüringens zwischen Nord- und Süddeutschland bei. Um 1500 schließlich kam die Stockwerkszimmerung auf, die auch viergeschossige Fachwerkbauten erlaubte. Die Wohn- und Speicherhäuser waren dabei nur ein Element der Parzellennutzung. Auf den curiae der Oberschicht befanden sich daneben ein ummauerter Hof mit einer Wageneinfahrt, einem Brunnen und einem Garten, vielleicht auch einer Darre und einem Brauhaus, mit Wirtschaftsbauten wie Stall und Werkstatt, kleinen Mietshäusern, einer Badstube und, nicht zu vergessen, dem Abtritt. Immer kombiniert Nitz dabei die Untersuchung der Bausubstanz als solcher mit Rekonstruktionen ihrer Nutzung in verschiedenen Epochen. Gleiches gilt für seine Ausführungen zur inneren Nutzung der Wohnhäuser, die sich zu kleinteiligen Funktionsbereichen ausdifferenzierte. Die Darstellung dieser Prozesse hat ihren Schwerpunkt im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, wird aber über den Niedergang der Stadt, der im 17. Jahrhundert einsetzte, hinaus bis zum massiven Bau von Mietskasernen in der Gründerzeit und zur Verlegung von Bad und sanitären Anlagen in das Innere der Wohnhäuser um 1900 fortgeführt.
Nach einem 2003 erschienen Sammelband mit dem Titel »Erfurt im Mittelalter« hat der Berliner Lukas-Verlag mit der vorliegenden Studie den zweiten Band seiner Reihe zur Erfurter Kunst- und Baugeschichte vorgelegt. Ausstattung und Satzbild überzeugen, die Qualität der instruktiven Abbildungen ist sehr gut. Der Materialteil wurde größtenteils auf die beigefügte CD-ROM ausgelagert. Hier finden sich die Häuserlisten mit tabellarischen, chronologischen Zusammenstellungen der schriftlichen Belege für einzelne Parzellen und Häuser; sie ermöglichen das Nachvollziehen baulicher und nutzungsbedingter Veränderungen am Einzelobjekt. Zugänglich sind die als PDF-Dokumente abgelegten Listen über eine digitale Karte des Allerheiligenquartiers nach dem Katasterplan von 1861 mit Markierungen der einzelnen Parzellen nach den Verrechtsnummern von 1693. Diese Entschlackung trägt dazu bei, daß der darstellende Teil konzise und angenehm lesbar bleibt. Es liegt damit ein Kompendium des Erfurter Hausbaus vor, das seine Ergebnisse fruchtbringend in den Kontext der allgemeinen Stadtgeschichte einbringt, die Nitz anhand der neueren Forschung gut umreißt. Den zugrunde liegenden interdisziplinären Ansatz kann der Rezensent vor seinem eigenem historisch-archivalischen Hintergrund geglückt nennen. Von der Baugeschichte kommend, zeigt sich Nitz auch in der kritischen Auswertung der Schriftquellen kompetent. Dem Leser wird eine Vielzahl neuer, manchmal überraschender Erkenntnisse vermittelt. Plausibel wird etwa der im 17. Jahrhundert zu beobachtende Einbau zusätzlicher beheizter Räume in Erfurter Wohnhäusern mit der Klimaverschlechterung der »kleinen Eiszeit« zwischen 1630 und 1730 in Verbindung gebracht (S. 231). Ein Hauptertrag ist die Einordnung des spätmittelalterlichen Erfurter Wohnhausbaus in den erst kürzlich von der Forschung identifizierten Zusammenhang einer mitteldeutschen Stubenhaus-Landschaft. Die detaillierte Untersuchung des Allerheiligenquartiers wird als Leitfaden für weitere Untersuchungen der Erfurter Baugeschichte dienen können. Sie verdient eine breite Leserschaft.
Holger Berwinkel in »Gesellschaft für Geschichte und Heimatkunde von Erfurt e.V.«, Bd. 1, 2006