Lars-Broder Keil
Hans-Ulrich von Oertzen
Offizier und Widerstandskämpfer. Ein Lebensbild in Briefen und Erinnerungen

Hans-Ulrich von Oertzen (6.3.1915–21.7.1944) gehörte als Major i.G. zu der Gruppe von Generalstabsoffizieren, die sich in der Heeresgruppe Mitte zusam­men mit Henning von Tresckow zum Widerstand gegen das NS-Regime und zum Tyrannenmord entschlossen hatten. Bereits kurz nach seinem Eintreten in den Stab soll er zu den Offizieren gehört haben, die am 13. März 1943 zum At­tentat auf Hitler beim Besuch der Heeresgruppe bereit waren. Als besonders be­fähigter Organisator (Id) wurde er von Tresckow im Herbst 1943 zur Umarbei­tung der Walküre-Befehle nach Berlin geholt, und deshalb war er – inzwischen Ia der Korpsabteilung E der 2. Armee – auch vor dem 20. Juli 1944 als Verbin­dungsoffizier Stauffenbergs in Berlin. Nach dem Scheitern des Umsturzes nahm sich Oertzen am 21. Juli das Leben.
Diese in der Widerstandsliteratur seit langem bekannten Daten lassen abgese­hen von der Entscheidungsbereitschaft kaum die Person Oertzens erkennen. Die­se wird erst jetzt durch die Veröffentlichung einer Auswahl von Briefen an seine Braut sichtbar. Die »Liebesbriefe von der Front« beginnen im August 1942 nach der ersten Bekanntschaft mit Ingrid von Langenn-Steinkeller, aus der sich eine große Liebe, die Verlobung ein Jahr später und die Hochzeit am 26.3.1944 ent­wickelte. Neben diesem Thema lassen die Briefe Oertzens Rolle im Widerstand nur ahnen, da er seine Frau trotz seiner »sehr unvorsichtige[n] Ausdrucksweise« nicht eingeweiht hat, was sie in den Verhören nach dem 20. Juli rettete. Zudem mißtraute er augenscheinlich dem offiziellen Briefge­heimnis für Offiziere. So steht im Brief vom 6.12.1943 neben der Klage über die Zerstörung Berlins die Durchhalteparole: »Aber zwei Jahre nach Kriegsende ist ja alles wieder aufgebaut. Da braucht man gar keine Sorgen zu haben Deshalb sind wir für das Engagement im Widerstand weit­gehend auf Erinnerungen von Zeitzeugen angewiesen. Keil hat entsprechend neben informierenden Zwischentexten vor allem Berichte von Edgar Röhricht (Pflicht und Gewissen. Erinnerungen eines deutschen Generals 1932 bis 1944, Stuttgart 1965) zu den Briefen gesetzt. Da Röhricht für Oertzen nach dem frü­hen Tode des Vaters ein väterlicher Freund war, weitet sich dadurch auch der zeitliche Rahmen bis zu dessen Schulzeit in Schloß Salem 1932.
Durch weitere Zeitzeugenberichte entsteht ein recht geschlossenes Bild, ob­wohl die Zusammenstellung so unterschiedlicher Texte ohne kommentierende und differenzierende Anmerkungen oder entsprechende Hinweise im Vorwort nicht unproblematisch ist. So betont zwar Röhricht, er hätte seine Erinnerungen auf der Basis von – wohl verlorenen – Aufzeichnungen gemacht. »Alle bedeuten­den Szenen haben stattgefunden. Ansichten und Werturteile über einzelne Per­sönlichkeiten müssen als Äußerungen der Zeit verstanden werden Aber mehr­fach scheinen die Episoden durch die Reden auch so ausgestaltet, wie sie hätten sein sollen. Hinzu kommen Erinnerungsfehler. Beispielsweise datierte Röhricht sein wichtiges Gespräch mit Tresckow und Oertzen auf 30.1.1944 wegen der gleichzeitigen Beförderung von Walter Weiß und Tresckow; Tresckow wurde je­doch erst am 1.6.1944 Generalmajor. Nach Oertzens Brief vom 30.12.1943 hat das Treffen aber Ende Dezember 1943 stattgefunden, was Keil stillschweigend korrigiert.
Aus der Quellenlage ergibt sich, daß die Frage nach Oertzens Motivation zum Widerstand nicht beantwortet werden kann, abgesehen von dem Einfluß des von ihm verehrten Tresckow, der zusammen mit den anderen Mitverschworenen »mich stark erschüttert und meine Einstellung zu vielen Dingen über den Hau­fen geworfen« hat. Die engen menschlichen Beziehungen in diesem Kreis werden hier wie kaum in anderen Dokumenten deutlich. Nur am Rande kommt Oertzens Glaube zur Sprache; ob diese Aussagen seine Aufnah­me unter die »Evangelische[n] Märtyrer des 20. Jahrhunderts« […] begründen können, ist zu fragen. Am 1. Mai 1943 berichtete er über die »Predigt unseres Pfarrers«, Wehrmachtsdekan Willy Schuster, »der ganz ausgezeichnet sprach«, aber Oertzen war dabei »doch wieder einmal bange um jeden Glauben, der nur – wie bei uns in der evangeli­schen Kirche – mit dem Wort und Verstand eingetrichtert wird, statt sich – wie in der katholischen und den meisten ›heidnischen‹ Religionen – an das Gemüt, die Seele, das Herz zu wenden. Mit dem kalten Verstand ist es nun einmal nicht zu schaffen Während der letzte Satz kennzeichnend für sein ganzes We­sen war, läßt die Kritik der Verstandesreligion an die Tradition der Erweckungs-bewegung in der Familie seiner Mutter denken. Aber er hat diesen frömmigkeits­geschichtlichen Zusammenhang hinter sich gelassen. So habe die »völlig ›gläubige‹ Verwandtschaft« seiner Braut »etwas Rührendes. Wenn wir das auch noch so könnten, wären wir um vieles glücklicher Daß er die Wendung »an das Gemüt, die Seele, das Herz« auch in »den meisten ›heidnischen‹ Religionen« ge­geben sah, entsprach einer Wendung zu einer liberalen Religion der Subjektivi­tät, die ihn auch »bei Kerzenlicht und weihnachtlicher Stimmung« die Briefe seiner Braut lesen ließ. Obwohl sonst Glaubensfragen in sei­nen Briefen nicht begegnen, erschien Oertzen dem Wehrmachtspfarrer Ernst Ufer der 2. Armee als »kirchlich sehr interessiert«, da er »bei einem längeren Spa­ziergang« nach der Pfingstpredigt über 2Tim 1,7 »nach der Konkretisierung des Predigttextes für ihn persönlich« fragte […]. Daß den Offizier »etwas besonderes, evtl. Bevorstehendes innerlich bewegte«, deutete Ufer nach dem 20. Juli wohl zutreffend als seine Beteiligung am Widerstand. Diese hätte Oertzen demnach auch im Glauben reflektiert.
Prof. Dr. Gerhard Ringshausen in »Kirchliche Zeitgeschichte« (KZG), 20. Jg. (2007), H. 1

 

Lars-Broder Keil hat eine neue Quelle aufgetan: Die Witwe des im Widerstand umgekommenen Majors i.G. Hans-Ulrich von Oertzen hat ihm jenes Material zugänglich gemacht, das ihr von ihrem Mann verblieben ist.
So zeigt dieser Band Oertzens menschliche Seite auf: wie er bei seiner Mutter aufwuchs, weil sein Vater als Offizier im Ersten Weltkrieg gefallen war, wie Oertzen in dem späteren Wehrmachtgeneral Edgar Röhricht einen väterlichen Freund fand, und wie der junge Offizier sich in die Tochter eines neumärkischen Großgrundbesitzers verliebte. Vor allem Letzteres füllt die Seiten: Oertzens Briefe an seine Verlobte, und ab Mai 1944 seine Frau, beschlagnahmte zwar die Gestapo, als sie Ingrid von Oertzen verhaftete, aber als sie später wieder freikam, weil sie offensichtlich nichts über Oertzens geheime Aktivitäten wusste, gab ihr ein Gestapobeamter auch die Briefe zurück – vermutlich, weil sie keine Bezüge zu Oertzens Verschwörertätigkeit enthalten.
Zu diesem Zeitpunkt war Oertzen selbst schon längst tot: Um sich der Verhaftung zu entziehen, hatte er am 21. Juli 1944 mit zwei Sprengladungen Selbstmord begangen.
Die Gestapo irrte: Wenn man die Briefe genauer liest, dann enthalten sie sehr wohl Hinweise darauf, was Oertzen in den Widerstand gegen Hitler getrieben hat. Da ist die Rede von seiner Verwendung im Stab der Heeresgruppe Mitte, wo der junge Offizier den charismatischen Ia, Oberst i.G. Henning von Tresckow, kennenlernte. Auch Tresckow nahm eine Art Vaterrolle für den Halbwaisen Oertzen ein – so sehr, dass Röhricht Zeichen von Eifersucht zeigte. Dieser warnte sogar seinen Protege, sich mit Tresckow und dessen Umsturzplänen einzulassen – aber Oertzen hörte nicht auf ihn. Am 20. Juli wirkte er als Verbindungsoffizier der Verschwörer zum Wehrkreiskommando III am Berliner Hohenzollerndamm. Unermüdlich war er bemüht, die dem Wehrkreis unterstehenden Truppenteile zur Absicherung des Umsturzes herbeizutelefonieren, aber da sich die Nachricht vom Überleben Hitlers zu schnell verbreitete, blieben seine hektischen Bemühungen erfolglos.
Lars-Broder Keil lässt die Andeutungen und versteckten Hinweise in Oertzens Briefen sichtbar werden, indem er Namen erläutert und zeitliche Zusammenhänge kenntnisreich konstruiert. Dabei geht er zurückhaltend vor und erliegt nicht der Versuchung zu spekulieren, wo keine gesicherten Informationen vorliegen.
Das Ergebnis ist ein Buch, das in mancher Hinsicht unbefriedigend bleibt, wohl bleiben muss. Oertzen war an der Ausarbeitung der Walküre-Befehle beteiligt und in den Tagen vor dem 20. Juli wirkte er an der militärischen Vorbereitung des Staatsstreichs an zentraler Stelle mit. Am Tag des Umsturzversuches selbst war er an einer der Schaltstellen der Macht – und dennoch erfahren wir aus diesem Buch über die militärische Planung und Durchführung des Unternehmens »Walküre« wenig Neues.
Oertzen war eben vorsichtig (und liebevoll) genug, seine Verlobte und dann Ehefrau nicht einzuweihen, auch keine Aufzeichnungen zu hinterlassen, die ihm und ihr hätten gefährlich werden können. Sein Selbstmord diente wohl dem Zweck, sich den Verhören der Gestapo zu entziehen, bevor Oertzen andere Beteiligte belasten konnte. Es bestätigt sich so die Annahme, dass wesentliche neue Quellen zu Kernfragen der Widerstandsgeschichte kaum noch zu erwarten sind. Gleichwohl ist dem Lukas-Verlag in Berlin zu danken, dass er nach seinen Büchern über den Baron von Guttenberg, den Grafen von Hardenberg, über Henning von Tresckow und andere Angehörige des Widerstands nun Hans-Ulrich von Oertzen ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Winfried Heinemann in »MGZ« 65 / 2006

 

Hans-Ulrich von Oertzen gehört zu den »Helden der zweiten Reihe«, zu jenen
jungen Offizieren des 20. Juli, die sich und ihr Leben opferten, um der menschenverachtenden Diktatur ein Ende zu bereiten. Lars-Broder Keil hat nun ein Lebensbild Oertzens in Briefen und Erinnerungen vorgelegt. In dem Band tritt dem Leser eine Persönlichkeit entgegen, die dem »Aufstand des Gewissens« ein eindrucksvolles Gesicht gibt. 1932 in die Reichswehr eingetreten, st
ößt Oertzen 1943 zum Stab Henning von Tresckows, dem wohl kräftigsten Motor und dem Herz des militärischen Widerstandes gegen das Nazi-Regime. Als einem seiner engsten Vertrauten gibt Tresckow dem organisatorisch hochbegabten Major den Auftrag, an den »Walküre-Plänen« mitzuwirken, deren Ziel es war, nach dem Attentat auf Hitler die militärische Macht zu übernehmen. Nach dem Mißlingen des Attentats nahm sich der 29-jährige Oertzen das Leben. Er gehört zu den Zeugen eines anderen Deutschland, die nicht vergessen werden dürfen, wenn wir uns zu unserer Verantwortung bekennen wollen.
R. v. Voss in »Rheinischer Merkur« vom 10.11.2005

 

An den Kreuzwegen der Geschichte stehen keine Wegweiser, höchstens Kreuze. Eines würdigt gewiß das Leben von Hans-Ulrich von Oertzen, der am 20. Juli 1944 als Verbindungsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenbergs in Berlin sein Leben eingesetzt und einen Tag danach selbst aufgegeben hat.
Seine nur 29-jährige Vita war bislang weder Gegenstand gründlicher historischer Nachforschungen noch biographischer Erzählung in Buchform. Das verwundert um so mehr, als der junge Generalstabsoffizier erwiesenermaßen eine gewichtige Rolle bei der Vorbereitung und Planung des politischen Putsches gespielt hat. Er gehörte bereits im März 1943 zu den Offizieren, die Hitler beim Besuch der Heeresgruppe Mitte erschießen wollten. Im September 1943 schrieb er in Berlin mit Stauffenberg die wichtigen Befehle für den Tag X. Er half im November 1943 in Minsk, Sprengstoff zu besorgen und inspizierte im Juli 1944 von Berlin aus die Einsatzbereitschaft von Truppen.
Am 20. Juli 1944 brach im Obersten Kommando der deutschen Wehrmacht ein Aufstand als Signal für einen Machtwechsel los. Etwas war geschehen, »was es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben hatte«, wie der deutsche Schriftsteller Carl Zuckmayer in seinem »Memento« schrieb. Das Attentat auf Hitler und die Pläne der Verschwörer-Gruppe waren ein Modellfall militärischer Auflehnung im 20. Jahrhundert. Der Putsch brach jedoch binnen Stunden zusammen. In jenen Abend- und Nachtstunden vom 20. zum 21. Juli 1944 stand Deutschland für einen Wimpernschlag der Geschichte unter der Doppelbelastung von Welt- und Bürgerkrieg. Es war die letzte Nacht im jungen Leben des Majors im Generalstab.
Hans-Ulrich von Oertzen vom Rand ins Zentrum der Verschwörung gerückt zu haben, ist das Verdienst von Lars-Broder Keil, Autor der ersten biographischen Studie, die im Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte erschienen ist. Seine journalistische Erfahrung und sein feines Gespür für Zeitgeschichte finden sich in der Komposition des Buches glücklich vereint. Keil fügt gescheit neun faszinierende Erinnerungen von Zeitzeugen, vielsagende Liebesbriefe von der Front an Ingrid von Langenn-Steinkeller, seit März 1944 von Oertzens Ehefrau, sowie sparsame als auch instruktive Kommentare zu einem einprägsamen Lebensbild zusammen.
Es fällt positiv auf, daß der Buchautor vor allem das Material sprechen läßt – von der Kindheit im mecklenburgischen Rattey bis zum späten Gedenken an einen Widerstandskämpfer. So skizzieren Augusta von Oertzen, die Tante Hans-Ulrichs, und Pfarrer Vicco von Bülow das Leben auf Gut Rattey, wo er einen Großteil seiner Kindheit verbracht hat. Einen maßgeblichen Beitrag zum Gelingen des Lebensbildes leistet die Witwe Ingrid Simonsen mit ihren Erinnerungen und ihren Tagebuchnotizen aus den letzten Tagen vor dem Attentat.

Lars-Broder Keil rekonstruiert mit professioneller Recherche und einfühlsamer Schreibe die Höhen und Tiefen eines Lebens in dramatischen Zeiten. Seine Auswahl aus 240 Briefen überzeugt, weil der Wandel vom begeisterten Militär zu einem engagierten Widerständler klar sichtbar wird. Es wird deutlich, daß der junge Wehrmachtsoffizier konsequent Verantwortung wahrgenommen hat: für die Zukunft Deutschlands ebenso wie für seine Frau. Der Öffentlichkeit liegen Innenansichten vor, wie ein Generalstabsoffizier sich zwischen Pflichterfüllung und Gewissen entschieden hat. Die Leser erfahren aber auch neue Details über die Härte des Alltags an der deutsch-russischen Front, Kriegsgreuel, die Stimmung in deutschen Wehrmachtsstäben und über Henning von Tresckow, der Oertzens direkter Vorgesetzter im Generalstab der Heeresgruppe Mitte war.
Jürgen Tremper in »Nordkurier« vom 26.9.2005

 

Noch am Abend des 20. Juli 1944 sind im sogenannten Bendlerblock in Berlin mehrere Widerstandskämpfer standrechtlich erschossen worden. Andere Hauptbeteiligte wie Henning von Tresckow kamen einer Verhaftung und Verurteilung durch Selbstmord zuvor. Einer der jungen Offiziere um Tresckow war der 1915 geborene Major Hans-Ulrich von Oertzen. Er stammte aus einer in Mecklenburg ansässigen Adelsfamilie und sympathisierte wie viele Soldaten in den 30er Jahren durchaus mit dem NS-Regime. An der Ostfront kam er mit Tresckow zusammen und dadurch mehr und mehr mit der kleinen Schar der Widerständler gegen das Regime. Einen Tag nach dem gescheiterten Attentat hat sich von Oertzen mit einer Gewehrsprenggranate selbst das Leben genommen, er war 29 Jahre alt geworden.
An den heute kaum noch bekannten von Oertzen erinnert dieses Buch. Es ist ein Beispiel dafür, wie man mit intensiver Recherche, mit profunder Quellenkenntnis und intensiver Befragung noch lebender Zeitzeugen (vor allem seiner Frau Ingrid) ein bewegendes Zeitzeugnis zum 20. Juli schreiben kann. Der Autor erzählt das Leben von Oertzens anhand vieler erhalten gebliebener Briefe und schildert dessen mutiges, letztlich aber vergebliches Handeln am 20. Juli in Berlin. Eine wichtige Arbeit zum Widerstand aus dem kleinen, zu diesem Thema so rührigen Verlag.

[k
s] in »Das Parlament« vom 11./18. Juli 2005

 

Über die »Helden in der zweiten Reihe« weiß man auch 61 Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler erstaunlich wenig. Sie tauchen in Memoiren und wissenschaftlichen Studien nur als Randfiguren auf, obwohl ihnen vor und am 20. Juli 1944 oft wichtige Funktionen zufielen. Zu den engsten Vertrauten des Generalmajors Henning von Tresckow zählte der 1915 geborene Hans-Ulrich von Oertzen, der Anfang 1933 in die Reichswehr eintrat und nach Kriegsbeginn 1939 vornehmlich in Stabsverwendungen schnell reüssierte. Im Februar 1943 wurde er als I d (Ausbildungsoffizier) in den Stab der Heeresgruppe Mitte versetzt. Sein Chef Tresckow stammte wie seine Freundin Ingrid von Langenn-Steinkeller aus der Neumark. Und Tresckow war es auch, der Ingrids Vater erst einmal davon überzeugte, daß der mittellose Oertzen kein Erbschleicher war. Schließlich durften der Major im Generalstab und die vermögende Gutsbesitzertochter am 26. März 1944 in Bellin/Neumark heiraten. Aus dienstlichen Gründen war es Tresckow nicht möglich, an der Feier teilzunehmen, aber er schrieb der Braut in einem Brief, Oertzen sei ihm »in der gemeinsamen Arbeit ans Herz gewachsen wie ein Bruder … Er verbindet ein frohes Herz mit einem hohen reinen Gedankenflug wie nur sehr wenige seiner Altersklasse, und Sie heiraten einen wahren ›Ritter ohne Furcht und Tadel‹. Darum Glückauf!« An mehreren Attentatsplanungen 1943/44 bereits aktiv beteiligt, traf Oertzen am 9. Juli 1944 mit einem fingierten Auftrag in Berlin ein, um dann als Verbindungsoffizier von Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg – des Hitler-Attentäters und Chefs des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres – dafür zu sorgen, daß das Wehrkreiskommando III am Hohenzollerndamm die »Walküre«-Alarmbefehle im Sinne der Umsturzgruppe im Bendlerblock befolgen sollte. Noch am Abend des 20. Juli geriet Oertzen in Verdacht, ein Mitverschwörer zu sein. Daraufhin nahm er sich am folgenden Tag das Leben, indem er eine Gewehrgranate in seinen Mund steckte und abzog. Eindrucksvolle Auszüge aus den vielen Briefen Oertzens an seine Verlobte und spätere Frau sowie Berichte der bis zum Attentat auf Hitler völlig ahnungslosen Witwe und anderer Zeitzeugen hat Lars-Broder Keil jetzt zusammengestellt, um an einen nahezu unbekannten Widerstandskämpfer würdig zu erinnern.
rab. in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 18.07.2005