Christian Volk

Urteilen in dunklen Zeiten

Eine neue Lesart von Hannah Arendts »Banalität des Bösen«

 

Eine ausgearbeitete Theorie über das Böse war nicht Hannah Arendts Anliegen. Doch hat sich an Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem nicht nur eine bittere Debatte entzündet, deren Nachklänge noch bis in die jüngere Rezeption spürbar sind. Arendts Eichmann-Schrift bietet mit ihrer offensiven Verknüpfung von moralischen, politischen und juristischen Fragen, die Missverständnisse provozierte und durch die, wie Christian Volk richtig bemerkt, ihre eigentliche These, dass »kräftig geurteilt werden müsse« geradezu unterging, nicht nur einen Ansatzpunkt zur Frage nach der Bewertung von gewissenlosem Handeln in totalitären Bürokratien, sondern einen Einstieg in die Theorie Arendts insgesamt. In immer wiederkehrenden Anläufen hat sie die historische Verschränkung und Ausdifferenzierung der Fragerichtungen selbst nachgezeichnet, aufgegriffen und kritisiert.
Christian Volk legt in seiner Magisterarbeit eine Neu-Interpretation der »Banalität des Bösen« vor. Das ist kein leichtes Unterfangen, weil der Begriff der Banalität, wie einige der zu Schlagwörtern verformten Begriffe Arendts, zugleich opak und vielverwendbar wirken. Und wie bei dem ähnlich berühmten Ausdruck »Gedankenlosigkeit« wird der Begriff bei näherem Hinsehen so komplex, dass man überlegen könnte, ob er ein echter Terminus ist und nicht nur eine – in diesem Fall von Heinrich Blücher möglicherweise übernommene – treffende Formulierung.
Volk ist der Auffassung, dass der Begriff der »Gedankenlosigkeit« zur Klärung des Urteilsmangels bei Eichmann nicht viel beitrage und interpretiert Arendts »Banalität des Bösen« aus der Frageperspektive Primo Levis: »Ist das ein Mensch?«. Damit wählt Volk bewusst einen Zugang, der nicht aus den Arendt-Schriften selbst entwickelt ist, sondern zu ihnen hinführen soll. Denn Levi fragt nicht nach dem Täter Eichmann, sondern nach dem Opfer, dem so genannten »Muselmann« im KZ. Mit Levi vollzieht Volk diesen Perspektivenwechsel und ergänzt so seine Nachzeichnung der Arendtschen Argumente für die Spezifik des NS-Verbrechens im Fall Eichmann. »Neu« war es nach Arendt gegen die richterliche Einschätzung in Israel nicht in der »Wahl der Opfer«, aber in der »Natur des Verbrechens«. Doch nach Volk reicht Arendts Kriterium des »Angriffs auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche« dafür noch nicht aus, da es, wie auch Arendt schon gesehen hatte, den Völkermord auch vor den nationalsozialistischen Verbrechen gegeben hatte. Auch die »Gesetzmäßigkeit« der nationalsozialistischen Verbrechen kann die Besonderheit des Holocaust nicht begründen, da auch das (koloniale) Völkerrecht schon willkürlich und exkludierend vorging. Moishe Postones Einwand, Arendt löse die Besonderheit des Holocaust auf, kann aber mit Volk begegnet werden, indem die juristische um die ethische Ebene ergänzt wird. Volk verbindet deshalb Arendts prägnante Äußerung aus dem Gauss-Interview über die »Fabrikation der Leichen« im NS-Staat mit Giorgio Agambens Arendt-Lektüre. Dieser sieht bei Arendt eine Welt beschrieben, in der das Sterben abgeschafft und »Leichen ohne Tod« produziert werden.
Christian Volk zeichnet hier einen Unterschied ein zwischen Agamben und Arendt, denn nur bei Arendt liege die Betonung auf der Fabrikation. Es entspreche dem Zwischenwesen des Muselmann bei Primo Levi, wenn Arendt formuliert: »Die Singularität des NS lag darin, dass Menschen so behandelt wurden, […] als seien sie bereits gestorben und als amüsiere sich […] ein böser Geist damit, sie zwischen Leben und Tod ein wenig aufzuhalten«. Nun lässt sich hinzudenken, dies sei als die Zerstörung des Arendtschen »Jemand« aus Vita activa, des »Wer-Charakters« am Menschen zu verstehen – und insofern spezifiziert sich die Abschaffung der Spontaneität und die Zerstörung menschlicher Vielfalt oder Pluralität, die nicht im natürlichen Tod, sondern im Tod des »Jemand« liegt. Doch erst die Aporie, die durch den Muselmann entsteht, die Unbeantwortbarkeit der Frage Levis bezeichnet nach Volk den »Abgrund«, den Arendt im Interview nennt, und den Volk als den spezifischen Schrecken ansieht.
Volks Interpretation mündet in einer Charakterisierung der Banalität des Bösen, die sich durch vier Eigenschaften bestimmt: Realitätsferne, innere Leere, unerbittliche Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit. Diese Charakteristika verleihen nunmehr der Täterseite Kontur. Sie zeigen, dass die Natur des Verbrechens mit der totalitären Herrschaftsstruktur verbunden war und deshalb traditionelle juristische Kategorien verließ, so dass die Verantwortung der Täter anders, aber doch bewertet werden musste.
Volk entwickelt seine eigenständige Interpretation in der Auseinandersetzung mit der Literatur, problematisierend, und ohne Arendt nur nachzugehen. Deshalb lässt sich über Einzelpunkte und Lektüren natürlich streiten. In Eichmann die »Physiognomie der Moderne« zu erkennen, ist das Verdienst dieser Diplomarbeit. Da sie den Zusammenhang von Arendts Kritik der Moderne mit der Person Eichmanns verknüpft, kann sie zu der Annahme verleiten, dass die Effekte der Moderne alle Menschen gleichermaßen erfassen. Stattdessen hat Eichmann für Arendt eine »exemplarische Gültigkeit«. Christian Volk verweist auf die Bedeutung der exemplarischen Gültigkeit in seinem letzten Kapitel, jedoch ohne dies auf Eichmann zu beziehen. Volks Behauptung, dass der Eichmann-Text als Wendepunkt in Arendts Schriften angesehen werden müsse, ist richtig. Diese Überlegungen führen zur Frage nach der Urteilskonzeption insgesamt und regen zum Weiterdenken an.
Christian Volks Buch ist gut geschrieben und vor allem lesenswert, weil er einen klärenden Blick auf die Diskussion zu »Banalität des Bösen« wirft.
Stefanie Rosenmüller: »Das Böse vor Gericht« auf: http://hannaharendt.net/reports/rosenmuellerIV.html 04/2008

 

Es bewegt sich etwas in der Arendt-Rezeption. Zwar beschimpfte – man beachte – der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, Gerhard Besier, Hannah Arendt […], daß Arendt weder ordentlich wissenschaftlich arbeiten konnte, noch daß ihr philosophisch allzu viel eingefallen sei. Sie neige allenthalten zu »Übertreibungen, Verallgemeinerungen und Einseitigkeiten.«
Doch solche Stimmen werden deutlich weniger unter den Buchpublikationen der letzten Jahre, also bei denen, die sich intensiv mit Arendt beschäftigen und nicht bloß mal schnell einen kurzen Gastkommentar abgeben. Dabei stehen Arendts Bücher über Eichmann wie ihr Spätwerk Vom Leben des Geistes im Focus des Interesses.
So konzentriert sich Christian Volk auf Arendts Eichmann in Jerusalem und sieht in ihm eine Perspektive angelegt, aus der man ihr weiteres Werk verstehen kann. Volks Buch verbindet denn auch im Titel gleich die beiden zentralen Begriffe, nämlich das Urteilen und das Böse: Urteilen in dunklen Zeiten – Eine neue Lesart von Hannah Arendts ›Banalität des Bösen‹. Die ›Banalität des Bösen‹ liefert nach Volk den Schlüssel für Arendts Interpretation der Moderne. Doch Volk geht noch darüber hinaus: »Eichmann in Jerusalem, so die These der Arbeit, ist der Schmelztiegel von Arendts politiktheoretischen und philosophischen Betrachtungen. Anders formuliert: Das Eichmann-Buch instruiert nicht nur den Blick auf Arendts frühes Schaffen, d.h. alle Schriften bis 1963, sondern es öffnet auch den Horizont für die Fragestellungen ihres Spätwerks.« (12)
Diese These hätte man noch vor 20 Jahren eher mit Kopfschütteln quittiert, solange Arendts Eichmann-Bericht doch eher als ein Ausrutscher einer großen Denkerin begriffen wurde: So bemerkt noch Gary Smith, der Herausgeber eines im Jahr 2000 im Suhrkamp Verlages erschienen Sammelbandes Hannah Arendt Revisited: ›Eichmann in Jerusalem‹ und die Folgen in seiner Einleitung: »Arendt verweigerte sich der Einsicht in die kranke, sadistische Natur des Täters und schritt mit dem ganzen Stolz ihrer Intelligenz über die historische Erfahrung und die aktuellen Empfindungen ihrer Zeitgenossen hinweg.« (8) Und Seyla Benhabib stellt in ihrem Beitrag zum selben Sammelband »einen erschreckenden Mangel an Augenmaß, Feingefühl und Besonnenheit« in Arendts Eichmann-Bericht fest. Dabei hat Benhabib mit Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne 1996 die bisher wegweisendste Arendt-Interpretation geleistet, die der Suhrkamp-Verlag zum 100. Geburtstag neu und erweitert ediert – aber leider nicht so sehr erweitert, daß ein Besprechung an diesem Ort gerechtfertigt erscheint.
Volk kritisiert allerdings noch in traditioneller Manier, daß Arendt mit ihrem Eichmann-Bericht primär die individuelle Verantwortung betont. Dadurch blende sie alle strukturellen Momente aus, in die sich die persönliche Verantwortung, die der einzelne überhaupt zu tragen in der Lage ist, eingebettet finden. Volks Gliederung bleibt in diesem Sinne konventionell, indem er die These von der Banalität des Bösen mit Strukturen der modernen Welt konfrontiert, um in einem dritten Teil auf Ansätze einzugehen, in denen sich die Bedeutung der Urteilskraft bereits im Eichmann-Bericht anzeigt. Trotzdem eröffnet sich für Volk in dieser Perspektive nicht nur eine Verständnismöglichkeit ihres Werks. Vielmehr zeigt sich darin das an, was Arendt selbst unter dem Schlagwort »Denken ohne Geländer« faßt: Wenn die Welt und ihre ethischen Traditionen zutiefst erschüttert sind, dann fehlen gesicherte Maßstäbe, auf die sich ein Urteil stützen könnte, dann drängt sich die Notwendigkeit der Reflexion, des Nachdenkens auf, ohne das man der Realität nicht mehr gerecht wird. […]
Hans-Martin Schönherr-Mann in »Philosophische Rundschau«, 54/1, 2007

 

Christian Volks Urteilen in dunklen Zeiten, das eine »neue Lesart« für die »Banalität des Bösen« vorschlägt, gelingt es dagegen, die methodischen Sprünge Arendts nachzuvollziehen. Volk wechselt, wenn notwendig, auf die philosophische Ebene – obwohl auch diese Fallstricke birgt. So arbeitet Volk den brisanten Zusammenhang von Denken und Handeln bei Arendt heraus und setzt ihn mit der Verbindung von Philosophie und Politik gleich. Dabei sind es gerade diese philosophischen Oldschool-Kategorien, die andere Theoretikerinnen und Theoretiker seit der Shoah in Frage gestellt sehen.
Bea Dorn in: »konkret«, Heft 12/2005

 

Der Autor interpretiert den Prozeßbericht »Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen« als »Schmelztiegel von Arendts politiktheoretischen und philosophischen Betrachtungen« (12). Immer wieder fragt Volk nach dem Verhältnis von Strukturfunktionalität und persönlicher Verantwortung, von Banalität und Bösem, um zu zeigen, daß Arendt keiner Banalisierung des Bösen das Wort redete. Auf die eminent wichtige Frage, welche Merkmale Eichmann (und andere) auszeichnen, die aus einem modernen Typus einen Massenmörder haben werden lassen, zählt Volk vier subjektive Charakterschwächen auf: selbsttrügerische Realitätsferne, entpersonalisierte innere Leere, unerbittliche Pflichttreue und urteilslose Verantwortungslosigkeit. Diese Merkmale zielen letztlich alle auf den Verlust des eigenen Urteilens ab und begründen die persönliche Schuld Eichmanns. Volk verteidigt Arendts Bericht gegen die zahlreichen Angriffe, indem er zeigen kann, daß »Eichmann in Jerusalem« sowohl eine Interpretation der Moderne als auch die Schilderung des Bankrotts eines persönlichen Urteilsvermögens ist. Für den Autor markiert dies einen entscheidenden Wandel der politiktheoretischen Konzeption im Werk Arendts, die sie dann in »Vita Activa« ausformuliert hat. Obwohl Volk seine Thesen nicht ohne Sympathie vorträgt, unterzieht er den aktuellen Forschungsstand einer ausgewogenen Würdigung. Als wesentlichen Schwachpunkt des Prozeßberichts erkennt er im Anschluß an Stéphane Moses, daß Arendt durch die unzureichende Differenzierung zwischen moralischen und juristischen Urteilen zahl­reichen Mißverständnissen Vorschub geleistet hat.
FS in: Zeitschrift für Politik, Heft 4/05, S.1492