Friederike Rupprecht (Hg.)
Von blutenden Hostien, frommen Pilgern und widerspenstigen Nonnen 
Heiligengrabe zwischen Spätmittelalter und Reformation

 

Im Rahmen der Aktion »Kulturland Brandenburg« des Jahres 2005 mit dem Thema »Der Himmel auf Erden – 1000 Jahre Christentum in Brandenburg« ist in der sandigen Mark eine Reihe von interessanten Ausstellungsprojekten realisiert worden. Eines davon betraf das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Heiligengrabe in der Prignitz, dessen Geschichte in einer kleinen Präsentation vor Ort gestaltet worden ist. Noch heute ist der Komplex ein evangelisches Kloster-Stift, weil sich die Nonnen in der Reformationszeit einfach geweigert hatten, den Ort zu verlassen, worauf der Titel des Bandes anspielt. Als nicht ausdrücklich so genannte Begleitpublikation, bei der die Äbtissin selbst als Herausgeberin. fungiert, darf der vorliegende Sammelband gelten, der einige Aspekte aus der Klostergeschichte und der Wallfahrt, die immer im Schatten Wilsnacks geblieben war, aufgreift. Bei vielen Wallfahrtsorten des Spätmittelalters sind Hostienfrevellegenden als Ursprungsgeschichten erfunden worden. So auch hier, wobei die Hostiengeschichte mit einem ebenfalls oft verwendeten antijüdischen Stereotyp verbunden worden ist. Wie sich Ursprungslegende und Wallfahrtsverhalten konkret in dem Prignitzkloster darstellten, zugleich aber auch in die allgemeinen historischen Zusammenhänge einzuordnen sind, ist Gegenstand der Texte des Bandes. Ein besonderer Akzent liegt auf der medialen Vermittlung der Wunder durch Tafelbilder und frühe Flugschriften. Die Beiträge: Felix Escher, Der Antijudaismus im späten Mittelalter; Hartmut Kühne, Deutung der Heiligengraber Wallfahrtsüberlieferung im historischen Umfeld; Dirk Schumann, Die Legendentafeln des Zisterzienserinnenklosters Heiligengrabe; Dirk Schumann, Die spätgotische Wallfahrtsarchitektur in der Prignitz; und mehr als Ausblick: Elisabeth Hackstein, Das Kloster Heiligengrabe und die Reformation mit einer Chronologie der Ereignisse. Insgesamt liegt hier ein interessantes Bändchen zu einem kulturgeschichtlich ungeheuer reizvollen Themenkomplex vor, nach dessen Lektüre man lediglich bedauert, daß die beschriebenen Tafelbilder und die nur noch in einem Exemplar nachweisbare Flugschrift von 1521 mit der Gründungslegende offenbar nicht vollständig reproduziert werden konnten.

Olaf B. Rader, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 63,2.

 

Brandenburg gehört zu den Regionen im deutschen Sprachgebiet, die auf eine reiche Geschichte der Wallfahrt im ausgehenden Mittelalter zurückblicken können. Das Stift zum Heiligengrabe (Prignitz) war Bestandteil eines umfassenden Netzwerks von Wallfahrtszielen in diesem Raum, zu dem unter anderem auch der im Spätmittelalter bedeutende Ort Wilsnack zählte. Der Sammelband beleuchtet in seinen Beiträgen die wechselvolle Geschichte von Heiligengrabe in der Epoche zwischen Spätmittelalter und Reformation, bündelt die Forschungsergebnisse und kontextualisiert die Ereignisgeschichte. Die sechs Beiträge schlagen einen weiten Bogen und nehmen geistesgeschichtliche Zusammenhänge, künstlerische Ausgestaltung des Stiftes, Verbindungen mit anderen Pilgerzielen der Umgebung, Wallfahrtspraxis und ihre Wechselwirkungen mit den Ideen der Reformation in den Blick. Felix Escher verortet den erheblichen Wallfahrtsbetrieb in Heiligengrabe in Strömungen eines ausgeprägten Antijudaismus. Hartmut Kühne deutet die vorliegenden Wallfahrtsüberlieferungen im Licht der Genese einer christlichen Wallfahrtskultur und ihrer wichtigsten historischen Stationen. Daß Heiligengrabe nicht isoliert zu betrachten ist, sondern in seiner Ausgestaltung einer eigenen »Architektur« des Pilgerns in der Prignitz folgt, belegt Dirk Schumann. Der gleiche Autor analysiert anhand von ausgewählten Legendentafeln, wie am Ort selbst mittels Bildern und Legenden vorhandene antijüdischen Tendenzen gestützt und transportiert wurden. Die Einführung der Reformation veränderte das Gesicht Heiligengrabes, ohne jedoch klösterliche Traditionen vollständig zu zerschlagen. Sie stellt sich im Rückblick als eine komplexe Gemengelage aus politischen Strategien, Bewahrung von Traditionen und theologischen Überzeugungen dar, wie Elisabeth Hackstein rekonstruiert. – Die Autoren legen ein reizvolles regionalhistorisches Kaleidoskop vor, das die Wallfahrt als Bestandteil kulturgeschichtlicher Prozesse illustriert.
Stefan Böntert, in: Archiv für Liturgiewissenschaft, 48. Jg., 1/2 Heft 2006

 

 

Juden hätten eine Hostie geschändet. Hieß es. Wieder mal. Und wieder einmal habe die Oblate zu bluten begonnen und anschließend Wunder gewirkt. Deshalb sei 1287 in Heiligengrabe ein Zisterzienserinnenkonvent angesiedelt und 1512 eine Heilig-Grab-Kapelle geweiht worden. Diese antijüdische Gründungslegende hat Äbtissin Anna von Rohr 1532 malen lassen. Glaubhafter ist sie dadurch nicht geworden.
Von den 15 Temperatafeln existieren noch sieben. Was angesichts von Reformation und Bildersturm, Dreißigjährigem Krieg, Hitler und Realsozialismus wohl wirklich als Wunder zu betrachten ist. Vergleichbares gibt es nämlich nur noch in Deutschlands katholischem Süden, in Altötting und Mariazeil. Von den sieben Gemälden hängen sechs in der Ausstellung, mit der sich das Stift Heiligengrabe als Mittäter in der aktuellen Kulturland-Kampagne »1000 Jahre Christentum in Brandenburg« bekennt. Erwartungsgemäß sollte, als sich Mitte 2004 die ersten Überlegungen zum Projekt zu einem Konzept fügten, »Von blutenden Hostien, frommen Pilgern und widerspenstigen Nonnen« die Rede sein. Da wußte das Macherteam allerdings noch nicht, wie Äbtissin Friederike Rupprecht freundlich einräumt, »zu welch unerwarteten Ergebnissen« es kommen sollte.
Das wichtigste Resultat vorneweg. Der Theologe Hartmut Kühne, Kenner der spätmittelalterlichen Pilgerszene, entlarvt die Heiligengraber Gründungslegende als rüde Geschäftsidee. »Neudeutsch würden wir von ›Fake‹ sprechen, erst 1521 in Rostock publiziert und in die klösterliche Anfangszeit zurückdatiert, um eine möglichst einträgliche Wallfahrt anzuschieben.« Tatsächlich ähnelt das vermeintliche Heiligengraber Ereignis, was Ablauf und Personnage betrifft, auffällig einem angeblichen Hostienfrevel im mecklenburgischen Sternberg 1492. Der gerade erfundene Buchdruck ‑ Flugschriften erschienen dazu in Köln, Lübeck und Magdeburg ‑ hatte das Geschehen reichsweit populär gemacht. So populär, daß es Hartmann Schedel 1493 im Schlußkapitel seiner berühmten »Weltchronik« erwähnte. Die (Print-)Medienrevolution inspirierte Nachahmer: In Heiligengrabe zum Beispiel. Oder zuvor im kurbrandenburgischen Dorf Knoblauch, wo sich ein Hostienklau 1510 zu einem üblen Pogrom in Berlin auswuchs. Die Messer, mit denen der »Leib Christi« gestochen worden sein soll, verwahrt Brandenburgs Dommuseum. Jetzt liegen sie als obskure Leihgaben unter Glas.
Antisemitisch waren die Heiligengraber Nonnen also zweifellos up to date, aus der gewünschten Wallfahrt wurde aber nichts. Die Reformation verhinderte die große Abzocke. Wodurch freilich auch die eben errichtete Heilig-Grab-Kapelle zur Investruine wurde. Obendrein hat nun Dirk Schumann festgestellt, den nicht wenige als den Einstein der märkischen Bauforschung loben, daß ihr elegantes Backsteingiebelwerk jünger ist als jenes der konkurrierenden (?) Wallfahrtskirche St. Annen im fünf Kilometer entfernten Alt Krüssow, »Dendrochronologische Untersuchungen der Dachkonstruktionen ergaben 1517 für Alt Krüssow und 1520 für Heiligengrabe.« Drei Jahre Differenz, die gewiß nicht die Welt bewegen, aber durchaus die Kunstgeschichte der Prignitz. Daß beide Architekturen ohne die Wilsnacker Bauhütte undenkbar wären, steht indes weiter außer Frage. Alt Krüssow besitzt übrigens noch, was Heiligengrabe verloren hat: Ausstattung des Mittelalters. Wie den 1505 geschnitzten Annen-Altar, der in der Ausstellung zu bestaunen ist.
Heiligengrabe ist die komplettest erhaltene Klosteranlage Brandenburgs. Zu verdanken ist das der Widerständigkeit jener Nonnen, die sich nur dann auf Luthers Seite schlagen wollten, wenn ihnen vom Landesherrn im Gegenzug Besitz und Souveränität garantiert würden. Man stritt sich, wie Elisabeth Hackstein erhellend auflistet, bis 1549. Die Damen gewannen. Das Kloster wurde evangelisches Stift, später Schule, ergo: nie verlassen. Elisabeth Hackstein lebt heute dort. Wie Äbtissin Rupprecht. Inzwischen sind die Stiftsfrauen zu acht. Sie freuen sich über Besuch.
Frank Kallensee in der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« vom 6. September 2005