Paul Sigel, Bruno Klein (Hg.)

Konstruktionen urbaner Identität

 

Wer heute vor der Dresdner Frauenkirche steht, der wird sich nur noch mühsam daran erinnern können, wie der sie umgebende Neumarkt vor zehn Jahren ausgesehen hat. Denn zu Seiten der hellen Sandsteinkirche mit ihren dunklen Einschlüssen an originalen Bauteilen sind Neubauten emporgewachsen. Vom Cosel-Palais über das Quartier an der Frauenkirche bis zum »Hotel de Saxe« lassen sie den Betrachter ins Schwanken kommen, aus welcher Epoche sie stammen. Die Dresdner Kulisse gewinnt an Perfektion. Oder handelt es sich gar nicht mehr um eine Kulisse?
In seinem Beitrag »Dresdner Imitationen im Schatten der Frauenkirche«, der in dem lesenswerten Sammelband »Konstruktion urbaner Identitäten« erschienen ist, arbeitet der Kunsthistoriker Gilbert Lupfer die Zwiespältigkeit des derzeitigen Dresdner Historismus heraus: »Die bisweilen suggerierte Vorstellung eines eindeutig definierbaren, mit einem Zeitschnitt als historische Schicht herauspräparierbaren Neumarktes, der ein Ensemble von höchster Qualität und Dichte ist, erweist sich als Fiktion.« So lehnt sich der Betonskelettbau des neuen »Hotel de Saxe« formal zwar an einen Barockbau an. Der wurde allerdings bereits 1880 abgerissen, um einem 1945 zerstörten Postgebäude Platz zu machen.
Eine solche »gebaute Geschichtsfiktion«, um mit dem Titel des Beitrags von Arnold Bartetzky zu sprechen, erweist sich als verbreitetes Phänomen in Mittelosteuropa nach 1945. Sei es als »ein Pasticcio aus frei nachgeahmten Renaissance- und Barockmotiven, durchsetzt mit Originalfragmenten« wie in Danzig oder als Rekonstruktion einzelner Bauten. Besonders drastisch führt Bartetzky dies am Beispiel der Rekonstruktion der Unteren Burg in Vilnius vor Augen. Deren Reste waren 1795 abgerissen worden, um nun seit 2002 wiederaufgebaut zu werden. Dabei handelt es sich nicht nur um die Wiedergewinnung eines städtebaulich bedeutenden Leitbaus. Wie bei zahlreichen Rekonstruktionen der vergangenen Jahre geht es vor allem um das »starke Bedürfnis nach symbolischer Korrektur der Geschichte«.
Der Rückgriff auf historische Bauformen ist dabei durchaus konsensfähig, auch wenn postmoderne Zitate und Doppelcodierungen angesichts der erfolgreichen Heimeligkeit des New Urbanism längst ihre ironische Brechung verloren haben. Dahinter steht die Abkehr von der Moderne und ihrem Bauwirtschaftsfunktionalismus. Eine Haltung, die freilich von einer »unzulässigen Verkürzung des Modernebegriffs ausgeht«, wie Paul Sigel in seinem einleitenden Text »Konstruktion urbaner Identitäten« erläutert. Ist die reflexive Moderne doch keine Erfindung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Vielmehr ist die kritische Haltung der Moderne sich selbst gegenüber geradezu konstituierend für die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts gewesen.
Ausgehend von der »Kritischen Rekonstruktion« der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 erlebte die »europäische Stadt« als historisches Konstrukt eine Blüte. Mit dem Büro Hilmer Sattler Abrecht widmet sich Klaus Jan Philipp einem der führenden Vertreter dieser »Kritischen Rekonstruktion«, deren siegreicher Entwurf für die städtebauliche Ordnung des Potsdamer Platzes in Berlin vom Straßenraster des 19. Jahrhunderts ausging. Philipp konstatiert, dass die hohe bauliche Dichte, die rund um den Platz entstanden ist, zwar nicht typisch für Berlin sei, »aber für andere europäische Stadtbezirke der Gründerzeit, etwa in Paris oder Madrid«. Eine kritische Analyse dieses Vorgehens lässt Philipp jedoch vermissen. Dabei ist es doch gerade diese Austauschbarkeit, die eigentlich der modernen Architektur von ihren Kritikern vorgehalten wird. Stattdessen lobt Philipp die langatmige Konventionalität von Hilmer Sattler Albrecht als eine »zwischen Tradition und Moderne oszillierende« Baukultur.
Ernst Seidl geht dagegen der Frage nach, ob »urbane Identität durch skulpturale Bauten« entstehen kann. Zwar gesteht der Autor gebauten Skulpturen durchaus zu, Identität zu stiften. Gegenüber dem »anything goes« allzu exaltierter architektonischer Landmarken bleibt er jedoch skeptisch. Mit der Frauenkirche jedenfalls, so lässt sich mit dem Denkmalpfleger Hans-Rudolf Meier abschließend feststellen, besitzt Dresdens Stadtsilhouette wieder eine Landmarke. Doch gerade der vielbeschworene Canaletto-Blick ist entlarvend. Zeigt er am Elbufer doch weit mehr Bauten des 19. und 20. Jahrhunderts als originale Bausubstanz des Barock. Dem touristischen Wohlfühlambiente inmitten des Dresdner Kulissenschwindels tut dies keinen Abbruch. Doch trotz der Marktgängigkeit solcher konstruierter Identitäten bleibt die Herausforderung bestehen, »sich der Reduktion der Komplexität unserer Städte auf einfache Bilder entgegenzustellen, insbesondere dem Bestreben, den Baubestand diesen anzupassen»« schlussfolgert Meier. Besteht doch sonst die Gefahr, dass sich Imitation und Denkmalbestand in nicht mehr nachvollziehbarer Weise vermischen.
Jürgen Tietz in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 18. Februar 2007