Katrin
Passens
MfS-Untersuchungshaft
Funktionen
und Entwicklung von 1971 bis 1989
Mit der politischen
Justiz im SED-Staat haben sich bislang zahlreiche
Forscher befasst. Auch etliche Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit
sind untersucht worden. Kathrin Passens, Mitarbeiterin der Gedenkstätte
Berliner Mauer, erörtert nun, welchen Funktionswandel
die politische Repression im Laufe der Jahre erfuhr. Mehr Augenmerk als ihre Vorgänger legt die Autorin dabei auf die Interaktion
zwischen dem Regime und seinen Gegnern, da Diktaturen »ihre Feinde stets auch
selbst [produzieren], weil deren Existenz die Notwendigkeit von Repression
rechtfertigt« …
Bei der politischen Verfolgung musste das SED-Regime insgesamt von offener
Repression zu »weicheren« Formen wie Zersetzungsmaßnahmen übergehen. Diese
ersetzten Inhaftierungen aber keineswegs und wurden auch nicht einfach
komplementär verwendet. Passens interpretiert diese Entwicklung nicht nur als Ergebnis
außenpolitischer Rücksichtnahmen, sondern als Resultat einer Optimierung
geheimpolizeilicher Verfolgungsstrategien. Allerdings verweist die Autorin
darauf, dass Zersetzungsmaßnahmen nicht »von heute auf morgen« Wirkung zeigten,
keine Erfolgsgarantie boten und in der gesamten Ära Honecker in einer maximal
fünfstelligen Zahl von Fällen angewendet wurden.
Wenn jemand bei einer Flucht gescheitert war, gestaltete sich die Beweislage so
einfach, dass vorzugsweise junge Vernehmer mit diesen
Fällen betraut wurden – mehr als 10 000 Ermittlungsverfahren dieser Art
wurden bis 1989 eröffnet. Doch immer häufiger verhaftete die Staatssicherheit
nur kurzzeitig – weil es um Abschreckung ging und die westliche Öffentlichkeit
gar nicht erst alarmiert werden sollte. Offen lassen muss Passens, ob sinkende
Zahlen von Ermittlungsverfahren auf verminderte Repression der Machthaber
zurückgingen oder die Delikte sich tatsächlich verringerten – konkret: War
Mitte der 1970er Jahre die Geheimpolizei wegen des KSZE-Prozesses milder
gestimmt oder stellten Fluchtwillige ihre Pläne
zurück, weil sie auf legale Ausreise hofften oder sich immer geringere Chancen
ausrechneten? Für die zweite Hälfte der 1970er Jahre diagnostiziert die Autorin
dann eine Ausweitung der Zersetzungsmaßnahmen sowie eine Zunahme von
Ermittlungsverfahren bei gleichzeitiger Minderung der Strafmaße – Letzteres ist
bislang noch kaum untersucht worden.
Einen mutigen Perspektivwechsel unternimmt Passens mit der Schilderung der »Hindernisse«,
denen sich die Vernehmer in ihrer
Arbeit gegenübersahen. Der Autorin zufolge stärkte die politische Repression
letztlich den Selbstbehauptungswillen der Bürger, so dass etwa Angehörige der
Opposition – nach entsprechender mentaler und juristischer Vorbereitung – immer
häufiger komplett die Aussage verweigerten. Solidarisierung des Umfeldes sowie
der westlichen Öffentlichkeit führte gelegentlich gar zu vorzeitiger
Freilassung (etwa von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe). Als Mitglieder der Umweltbibliothek Ende 1987
verhaftet wurden und sich unter den Augen westlicher Fernsehteams Mahnwachen
bildeten, wirkte die staatliche Repression Passens zufolge kaum noch
abschreckend. Über diesen prominenten Fall unterschätzt die Autorin vielleicht
die Fortdauer politischer Repression in vielen anderen Fällen.
Passens skizziert nicht nur die Verfolgungsstrategien der Staatssicherheit,
sondern konstatiert auch Abstriche von der Allmacht der Häscher.
So waren neunzig Prozent der Abhörgeräte in den Untersuchungshaftanstalten im
Jahre 1970 außer Betrieb. Und die einfachen Aufseher zeigten aus Sicht ihrer Vorgesetzten an der Verhinderung gegenseitiger
Kontaktaufnahme von Gefangenen in Isolationshaft oft »ein gewisses Desinteresse«.
Die Geheimpolizei (bzw. deren Juristische Hochschule)
reflektierte sogar selbst die nachlassende Wirksamkeit des Strafrechts bei der
Gegnerbekämpfung. Neben der Vielzahl staatlicher Repressionen untersucht
Passens auch die Entstehung der Bürgerrechts- und Friedensbewegung und bettet ihre Darstellung in die außen- sowie innenpolitischen
Klimaveränderungen der Ära Honecker ein.
Die Autorin konzentriert sich mit wenigen Ausnahmen ganz auf diese Phase,
wodurch sie auch kleineren Veränderungen der »Handschrift«
politischer Repression auf die Spur kommt. Den wichtigen Freikauf politischer
Gefangener indes erwähnt sie zwar verschiedentlich, untersucht seine
Rückwirkungen auf Opposition und Repression aber zu wenig.
Weil die Staatssicherheit bei aller Akribie oft unvollständige
Kriminalstatistiken hinterließ, ist Passens tabellarischer Anhang höchst
wertvoll für die Erforschung von Repression und Widerstand. Allerdings weist
die Autorin keine prozentualen Anteile einzelner Delikte und Strafmaße aus,
nimmt auf solche Zahlen in der Studie aber immer wieder Bezug. Und die nackte Zahl
der Ermittlungsverfahren in den Bezirken besagt wenig, wenn sie
nicht an der Einwohnerzahl gemessen wird. Dennoch haben nur wenige Autorinnen
oder Autoren vor ihr den Komplex der
geheimpolizeilichen Strafverfolgung so sorgsam analysiert. Als Desiderate macht
Passens etwa die Erforschung der MfS-Untersuchungshaftanstalten in den Bezirken
aus – ebenso wichtig wäre eine Untersuchung der Kriminalpolizei, die bis in die
sechziger Jahre mehr politische Delikte verfolgte als die Staatssicherheit.
Den vollständigen Beitrag
lesen …
Tobias Wunschik,
in: sehepunkte,
Ausgabe 13 (2013), Nr. 4
Basierend auf breiter, kritischer
Quellenexegese und ausgezeichneter Kenntnis der umfangreichen Forschungsliteratur,
ist Katrin Passens eine hochdifferenzierte Untersuchung gelungen, die nicht nur
unser Wissen über »Schild und Schwert der Partei« erweitert, sondern auch
DDR-Forschung auf hohem Niveau verkörpert.
Den
gesamten Beitrag lesen…
Günther Heydemann, in: FAZ, 18.02.2013
Das MfS verfügte als staatliches
Untersuchungsorgan über eigene, gesetzlich nicht abgesicherte
Untersuchungshaftanstalten, für die die Linien IX
(Untersuchungsabteilungen) und XIV (Abteilungen für Untersuchungshaft und
Strafvollzug) zuständig waren. Da die wissenschaftliche Forschung hierüber bislang noch erhebliche Lücken aufweist, analysiert Katrin
Passens die Funktion der MfS-Untersuchungshaft im Gesamtkontext des
SED-Herrschaftssystems während der Honecker-Ära. Durch ihre
politikgeschichtliche Funktionsanalyse möchte die Autorin sowohl konkrete
Erkenntnisse über den Machterhalt der SED zwischen 1971 und 1989 als auch
allgemeine Aussagen über die Etablierungsbedingungen von politischer Herrschaft
gewinnen. Hierfür stellt Passens zunächst die Struktur des MfS (speziell der
Linien IX und XIV) vor und beleuchtet anschließend einerseits die formalen
Voraussetzungen für ein Ermittlungsverfahren mit Haft sowie andererseits die
davon stark abweichende Praxis. In einem nächsten Schritt betrachtet sie die
politischen Rahmenbedingungen der MfS-Untersuchungshaft (Außen- und
Innenpolitik, Opposition und politisches Strafrecht), die ihr
helfen, vier zeitliche Phasen (1971–1975, 1976–1982, 1983–1986, 1987–1989)
auszumachen, die gleichzeitig das heuristische Gerüst für die im Hauptteil
erfolgende Untersuchung der MfS-Untersuchungshaft sind. Sie stellt u.a. fest, dass in der ersten Phase die Haftauswirkungen
aufgrund der angestrebten Legitimität noch kritisch vom Regime hinterfragt
wurden, es aber später politisch unauffällige Verfolgungsinstrumente stark
ausbauen ließ, durch die die ab Phase 3 (1983–1986) entstehenden
oppositionellen Unruhen aber nicht unterdrückt werden konnten. Passens kann auf
Basis ihrer ausgezeichneten Kenntnis des
Forschungsstandes, der politischen und sozialen Entwicklungen in der DDR sowie
der dafür maßgeblichen Persönlichkeiten auf präzise Art und Weise die für ihre
Arbeit notwendigen Strukturen des MfS sowie relevante Verordnungen darstellen.
Für ihre Analyse sichtet sie 850 Akteneinheiten
und kann durch das sowohl sprachlich als auch inhaltlich kritisch reflektierte
Studium der Quellen eine Studie vorlegen, auf die die weitere Forschung nicht
wird verzichten können.
Ines Weber, in: Portal für Politikwissenschaft, 31.01.2013