Gerhard Ringshausen und Rüdiger von Voss (Hg.)
Die Predigten von
Plötzensee
Zur Herausforderung des
modernen Märtyrers
Die 65. Wiederkehr des Gedenkens an das fehlgeschlagene Attentat
auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 bildet der »Einleitung« der beiden
Herausgeber zufolge den Anlass, die »seit 1952« gehaltenen
Berliner Gedenkveranstaltungen, die »seit 1953« mit Predigten verbunden waren,
öffentlich zu würdigen. Rüdiger von Voss, Ehrenvorsitzender und
Vorstandsmitglied der Forschungsgemeinschaft 20. Juli e.V., und Gerhard Ringshausen, em.
Prof. für Theologie an der Universität Lüneburg, treten seit etlichen Jahren
und auch durch beachtenswerte Publikationen für eine nachhaltige Erinnerung an
diejenigen Christen ein, die der Ideologie des Nationalsozialismus widerstanden
haben. Beide sind evangelisch, dazu verschwägert.
Der Haupttitel stimmt nicht ganz, wurden doch laut Predigtverzeichnis etliche
Gottesdienste an anderen Orten als in Plötzensee abgehalten. Der »moderne
Märtyrer« ist nach Eberhard Bethge, einem Freund
Dietrich Bonhoeffers, nicht mehr »heilig heroisch«, sondern »schuldbedeckt« …
Die Internet-Präsentation der Gedenkstätte Deutscher
Widerstand hat die Predigten bereits … zusammengestellt; im vorliegenden Band
werden sie in Auswahl abgedruckt. »Leitender Gesichtspunkt für die Auswahl
war, dass die Predigten die geistliche und theologische Auseinandersetzung mit
dem Widerstand spiegeln und entsprechende Schwerpunkte setzen«. Die »Predigten
im Rahmen der Gedenkfeiern vom 20. Juli von 1953 bis 2008« sind, soweit
vorhanden, im Anhang namentlich genannt. 16 Tafeln des »Plötzenseer Totentanzes«, die der verstorbene Wiener Bildhauer
Alfred Hrdlicka in den Jahren von 1969 bis 1972 für das Evangelische
Gemeindezentrum Plötzensee geschaffen hat, bereichern den Band.
Den Predigten vorangestellt ist der Artikel »Die Gegenwart Gottes im Raum des
Todes« von Gerhard Ringshausen. Er unterstreicht mit
Recht das seit dem Näherrücken der Christen im »Dritten Reich« gewachsene »Bewusstsein
der Gemeinsamkeit der beiden Konfessionen«. Die Orthodoxe
Kirche bleibt hier wie sonst außen vor, obwohl zu der von ihm herausgestellten »Weißen
Rose« auch der russisch-orthodoxe Alexander Schmorell
gehört. Es gelingt dem Autor, die damalige bedrückende Situation gut
einzufangen, von der heute nicht wenige zehren, »zumal für viele Protestanten
die konfessionellen Differenzen schon länger obsolet geworden sind«. In diesem
Zusammenhang stellt er kritische Rückfragen an die von ihm mitverantwortete
Dokumentation »Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts«,
die »weichere Kriterien« verwende, was immer das bedeutet, aber auch an das
katholische Gegenstück deutscher Provenienz, dessen vierte, um 84 Namen
vermehrte und aktualisierte Auflage aus dem Jahre 2006 er nicht zu kennen
scheint. Wer allerdings an den verbindlichen Kriterien der katholischen Kirche
Maß nimmt, darf nicht des Vorwurfs geziehen werden, den »Graben zwischen den
Konfessionen« nicht überwunden zu haben, liegt doch mein im Jahre 2008 in der »Vierteljahresschrift
für Ökumenische Theologie« veröffentlichter Aufsatz »Martyrium
und Ökumene« vor, der diesen Anspruch einzulösen versucht, aber von Ringshausen nicht aufgegriffen wurde. Wer beide Martyrologien vorurteilslos prüft, spürt bei aller
Gemeinsamkeit die Differenz in den Kriterien, die weiteres Forschen notwendig macht…
Was die Predigten anbelangt, finden sich unter den ausgewählten Autoren Namen
wie Julius Kardinal Döpfner, die evangelischen
Bischöfe Otto Dibelius, Hanns (Johannes) Lilje und
Martin Kruse, den Rabbiner Uri Themal, ferner die
Gefängnisgeistlichen Odilo Braun aus dem Dominikanerorden, Prälat Peter
Buchholz (der kein Pater war) und den evangelischen Pfarrer Harald Poelchau. Am häufigsten kommen der Dominikaner Karl Meyer
(zwölfmal) und Eberhard Bethge (fünfmal) zu Wort.
Manche Goldkörner lassen sich hier eruieren, wenngleich nicht wenige Predigten
theologisch sehr unterschiedliches Niveau aufweisen und Ausdruck der jeweiligen
Zeit sind. Bisweilen handelt es sich um reine Wiederholungen. Plötzensee
erfährt spannungsreiche Zuordnungen: Es ist »Ort der Hinrichtungen«, »Ort des
Todes«, »Golgatha«, »weil der Sohn Gottes in seiner Niedrigkeit sich in den
hier Ermordeten hat repräsentieren wollen«, aber auch ein »Ort Gottes«, ja
sogar »ein heiliger Ort«. Die seit 1980 geltende Einheitsübersetzung der
Heiligen Schrift wird nicht selten missachtet, ferner die Richtlinien für die
Namen und Abkürzungen der biblischen Bücher.
Dem Band fehlt ein Personen- und Ortsregister. Auch ein Register der Heiligen
Schrift wäre sinnvoll gewesen. Tertullian ist kein »Kirchenvater«… P. Karl Meyer war 2008 nicht mehr »Provinzial«. Derselbe
erinnert zweimal an »Franz Jägerstetter«. »Ordo Carmelitarum« kann nicht mit »Karmeliten«
übersetzt werden.
Helmut Moll, in: Zeitschrift Kirchliche
Zeitgeschichte 23 (2010)
Eberhard Bethge, der Freund Dietrich Bonhoeffers, hat die
ergreifendsten Predigten und zugleich die schärfsten Formulierungen
beigesteuert. Bethge ist ein Grenzgänger, der die
Ökumene der Märtyrer, von der später Papst Johannes Paul II. sprach, bis
an die konfessionellen Grenzen auslotet und beansprucht. Auf diese Weise macht
er und macht der vorliegende Band eines der wertvollsten Stücke aus dem
kulturellen Erbe Deutschlands im 20. Jahrhundert lebendig. Die Herausgeber
des Buches, Rüdiger vonVoss und Gerhard Ringshausen, kommen selbst aus Familien des Widerstandes
gegen das NS-Regime. Sie haben Predigten zusammengestellt, die auf den
jährlichen Gedenkgottesdiensten im früheren Gefängnis Plötzensee und seiner Umgegend gehalten wurden, das heute eine Gedenkstätte ist.
Statt einer Dokumentation (die findet sich im Internetportal der Gedenkstätte: www.20-juli-44.de/veranstaltungen.php)
haben sie klug Predigten ausgewählt, die sich
geistlich und theologisch mit dem Widerstand auseinandersetzen.
Bethge etwa befasste sich vor 40 Jahren, 1969, mit
der bis heute umstrittenen Frage, ob Dietrich Bonhoeffer, der ja als
Angehöriger der Abwehr des Admirals Canaris den gewaltsamen Tod fand, als
Märtyrer gelten kann. Seit den Tagen der Alten Kirche
galt, dass ein Märtyrer infolge seiner unmittelbaren Bezeugung des Evangeliums
umgebracht worden ist. Bethge verwirft das
»impertinente Interesse« an der Abgrenzung des Evangeliums. Und hebt hervor,
wie die neuen Märtyrer – dass sie welche sind, daran
hegt er keinen Zweifel – sich durch ihre politische Einmischung von denen der
Alten Kirche unterscheiden: »Es handelt sich nicht mehr um einen heilig
heroischen, sondern den schuldbedeckten Zeugen für das Humanum,
der sich nicht fernhält von der Welt, sondern bei denen aushält, die
verantwortlich oder verloren in Hoffnungen und Bosheiten dieser Welt verwickelt
sind.«
Christliche Selbstbestätigung, sagt Bethge, »wird zum
Exhibitionismus und – wie deutlich ist das den Juden gegenüber – schwächt die
Aussage dieser Märtyrer«. Damit sei »ein neues
Alphabet für die Wahrheit des Evangeliums vorgelegt«,
nämlich das seiner Bewährung in der Welt und nicht abseits von der Welt in der
Sphäre des Glaubens. Diese Kontroverse über Heilige wartet noch auf ihre Diskussion. Das Interesse an den Blutzeugen ist in der evangelischen wie in der katholischen Kirche inzwischen neu
belebt worden, zumal das 20. Jahrhundert so viele Märtyrer gesehen hat wie
noch keines davor. Beide haben Märtyrerverzeichnisse vorgelegt, die von
unterschiedlichen Verständnissen geprägt sind. In seinem Vorwort unterstreicht
Bischof Wolfgang Huber, der Bonhoeffer-Experte und
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, »dass die
gottesdienstliche Gemeinschaft zu einem unaufgebbaren
Moment im Erinnern an die Männer und Frauen des Widerstands geworden ist«.
Vielleicht liegt es auch daran, dass die Politik in Deutschland in Trauer, etwa
nach Attentaten oder Unglücken, keine Staatsakte begeht, sondern die Kirchen
zum Gottesdienst rufen lässt.
Sein katholisches Gegenüber, Erzbischof Robert Zollitsch,
erinnert an die Mahnung des im KZ umgekommenen Paters Alfred Delp an den späteren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier: »Sorge dafür, dass unsere Kirchen in ihrer Uneinigkeit unserem gemeinsamen Herrn nicht mehr
Schande machen.« Erst 1961 gab es bei den Gedenkfeiern eine ökumenische
Andacht, erst 1968 einen gemeinsamen Gottesdienst. Den untersagte 1972 das
Berliner Generalvikariat, sodass die Feiernden in den
Folgejahren die Gemeinsamkeit neu erkämpfen mussten. Die Herausgeber erinnern
daran und halten damit neben dem Gedenken die noch uneingelösten Fragen wach,
die die Ermordeten aufgeworfen haben.
Wolfgang Thielmann in: Rheinischer Merkur,
Nr. 42, 2009.