Babette Stadie
Die Macht der Warheit
Reinhold Schneiders »Gedenkwort zum 20. Juli« in Reaktionen von Hinterbliebenen des Widerstands

Zu Recht stellt Peter Steinbach in seiner Einführung Reinhold Schneider als einen der wichtigsten katholischen Autoren der 1940er und 1950er Jahre vor. Heute weitgehend vergessen, übte der Freiburger Schriftsteller damals einen erheblichen Einfluss aus und wurde vor allem in NS-kritischen Kreisen viel gelesen. Was Schneider schrieb, war allerdings nicht vordergründig politisch, und auch wenn er historische Themen anfasste, dann ging es ihm nicht um Geschichtsforschung, sondern eher um Geschichtsdeutung.
Im Frühsommer 1947 trat das Stuttgarter Kultusministerium an ihn heran und bat ihn um die Rede bei einer Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer des Widerstandes gegen Hitler. Schneider sagte zu, aber aus ungeklärten Umständen (»Unstimmigkeiten innerhalb der Regierung selbst«, schreibt Schneider an die Gräfin Hardenberg) fand die Veranstaltung nicht statt. Leider schweigt Steinbach in seiner umfangreichen Einführung dazu ebenso wie die Herausgeberin, Babette Stadie, in ihrer ansonsten hervorragenden, wiewohl knappen »Entstehungs- und Wirkungsgeschichte«.
Jedenfalls gab Schneider das Manuskript seiner bereits fertigen Rede zunächst als Typoskript in Umlauf. Später ließ er es bei zwei verschiedenen Verlagen (in Stuttgart in der amerikanischen Zone ebenso wie bei Herder im französisch besetzten Freiburg) drucken. Auf Bitten der Gräfin Hardenberg, die von Nörten-Hardenberg aus das »Hilfswerk 20. Juli« mitbegründet hatte und leitete, stellte Schneider reichlich 100 signierte Exemplare für die Angehörigen der ermordeten Widerständler zur Verfügung und spendete auch den größten Teil seines Honorars für die erste Auflage dem Hilfswerk.
Viele der so Beschenkten dankten ihm in persönlichen Briefen, und diese haben sich im umfangreichen Nachlass Schneiders in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe erhalten. In dem hier vorliegenden Bändchen sind sie faksimiliert und transkribiert abgedruckt.
Die Briefe geben einen Eindruck von der Lebenswirklichkeit der Familien, die nach Kriegsende noch lange um die Anerkennung der Leistung ihres Vaters oder Bruders kämpfen mussten. Freya Moltke schreibt aus dem südafrikanischen Exil, Emmi Bonhoeffer beschreibt ihre Situation als »ohne Civilisation, aber mit Kultur. Wir haben zu viert ein Zimmer (ich mit 3 Kindern), Strohsäcke, aber ein Klavier, [...] Kohl im Topf aber Reinhold Schneider im Kopf, Möbel verloren, aber Geige gerettet.«
Warum Elisabeth Leuschner in einem kurzen und nichtssagenden Zweizeiler antwortete (»Ich habe mit großem Interesse Ihre Worte gelesen.«), bleibt offen. Alle anderen aber äußern sich überaus dankbar für die Worte, die Schneider für den Widerstand ihrer Männer, Brüder oder Söhne gefunden hat. Die Witwe von Fritz Elsas etwa schreibt, fast ebenso kurz, aber sehr viel herzlicher: »Es ist wundervoll, wenn ein Mensch Empfindungen u. Gefühle u. Gedanken so ausdrücken kann wie Sie es tun. Dies und meinen Dank wollte ich sagen.«
In einer sehr gefälligen und wissenschaftlichen Kriterien entsprechenden Edition liegen diese Briefe jetzt vor. Worin liegt ihr Wert? Zum einen sind es erschütternde Zeitzeugnisse. Zum anderen verdeutlichen sie aber auch, wie wenig Anerkennung der Widerstand so kurz nach dem Kriegsende in der öffentlichen Wahrnehmung fand, wie schwer es die deutsche Gesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit den Angehörigen und Hinterbliebenen machte. Anders als Steinbach den Leser glauben machen möchte, war es ja eben nicht die Adenauer-Ära, in der diese Missachtung ihren Höhepunkt fand – im Gegenteil, die Gesetzgebung, mit der die materielle Absicherung der Opfer erreicht wurde, geht ebenso auf die Jahre nach 1949 zurück wie der Remer-Prozess in Braunschweig 1952 (bei dem immerhin Adenauers Innenminister Robert Lehr als Geschädigter auftrat!) und die bedeutende Rede von Bundespräsident Theodor Heuss 1954 in Berlin.
In den Jahren 1947 und 1948 aber, da waren die Angehörigen dankbar für jeden, der den Mut hatte, öffentlich die Wahrheit über die Ermordeten zu sagen. »Die Wahrheit«, das war bei Reinhold Schneider aber ebenso wie für die Witwen und Mütter nicht das Ergebnis historisch-kritischer Forschung, sondern die moralische Grundwahrheit, dass dieser Widerstand gegen das Verbrechen ethisch gerechtfertigt, ja vielleicht sogar der einzige ethisch zu rechtfertigende Weg gewesen war.
Von daher ist es wenig hilfreich, wenn Steinbach wieder einmal meint, solche Geschichtsdeutung gegen die Ergebnisse späterer historisch-kritischer Geschichtswissenschaft ins Spiel bringen zu müssen. Reinhold Schneider und die Mitglieder des »Hilfswerks« haben noch nicht so viel über den Widerstand gewusst, wie es die Forschung heute auszubreiten weiß. Sonst hätten sie sicher nicht völlig unkritisch Arthur Nebe, den Gestapo-Beamten, mit auf die Liste der Ermordeten gesetzt, einen Nebe, von dem wir heute wissen, dass er als Leiter der Einsatzgruppe B im Rücken der Heeresgruppe Mitte für den Mord an mehreren zehntausend Juden die ganz persönliche Verantwortung trug. Das Mehr-Wissen um die komplexen Zusammenhänge der verschiedenen Gruppen und Strömungen, um ihre Interaktion und Kooperation, das verdanken wir doch gerade jahrzehntelanger wissenschaftlicher Arbeit.

Den Widerstand zu historisieren, nach Beweggründen und Motiven, Zielen, Absichten, Gesellschaftsbild und Verfassungsplänen, nach Absichten zur Kriegsbeendigung und nachrichtendienstlicher Betätigung zu fragen, ist eben kein Verbrechen am Andenken der Ermordeten, sondern ist Suche nach Wahrheit, wenn auch auf einer anderen, eben auf der wissenschaftlichen Ebene. Und gerade von der »Macht der Wahrheit« handelt doch dieses Buch ...
Der Band sollte zugleich Anstoß sein. Wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie die wenigen Überlebenden der Verschwörung und die Angehörigen der Ermordeten die Nachkriegszeit überlebt haben. Wir wissen zu wenig über die verdienstvolle Tätigkeit des »Hilfswerks 20. Juli«, sowohl in ihrer materiellen Dimension als auch in ihrem Bemühen, das Geschichtsbild über den Widerstand zu prägen. Welche Netzwerke sind da entstanden, welche gegenseitige Unterstützung auch im beruflichen Bereich wurde da geleistet? Welche anderen Anstrengungen wurden unternommen, um auf die öffentliche Meinung einzuwirken? Gab es unter den Überlebenden die gleichen Spannungen wie unter den politisch ja durchaus uneinigen Verschwörern selbst? Hat die Witwe des Gewerkschaftsführers Leuschner deswegen so kurz angebunden reagiert? Warum genau wurde die Veranstaltung in Stuttgart abgesagt? Das sind Fragen, die einer Beantwortung noch harren, auf die aber dieses sehr wichtige Buch verdienstvoll hinweist.
Winfried Heinemann, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 68 (2009), Heft 1.

 

[…]Theodor Heuss trat als einer der Ersten, noch lange bevor er dann zum ersten Bundespräsidenten erkoren wurde, mit einer ehrenvollen Würdigung von Geist und Tat des 20. Juli hervor; seine spätere Rede zum zehnten Jahrestag des Umsturzes setzte den bis heute gültigen Maßstab für die offizielle Anerkennung des Vermächtnisses des Widerstandes durch die zweite deutsche Demokratie. Als eine Zeitzeugin, die vor allem über den im Widerstand umgekommenen Grafen Heinrich Lehndorff ganz am Rande der Verschwörung gestanden hatte und von deren Motivation aus eigener Anschauung berichten konnte, war auch früh Marion Gräfin Dönhoff an die Öffentlichkeit gelangt, um den hingerichteten Freunden ein ehrendes Andenken darzubringen und zugleich der in Schutt und Asche versunkenen Nation mit dem Hinweis auf vorbildliche Ausnahmemenschen wieder zu einem kleinen Hoffnungsschimmer zu verhelfen. Dass dann Gräfin Dönhoffs Darstellung des 20. Juli im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zu einer Ehrenrettung des preußischen Adels und zu einer Überzeichnung von dessen Rolle im deutschen Widerstand geführt habe, ist nun immer häufiger als Einwand voller teilweise ressentimentgeladener Vorwürfe zu hören.
In der Tat schützte vor oder nach 1933 auch Adel nicht vor Torheit oder Schlimmerem. Wie jetzt Nachgeborene mit Schaudern den Gotha mit der Mitgliederkartei der NSDAP abgleichen und sich über die große Anzahl »blaublütiger« Prominenz in den braunen oder sogar schwarzen Kohorten entsetzen, grenzt freilich an eine ziemlich unhistorische Naivität. Die Wiederentdeckung historischer Fakten mag ihren guten Teil zur Durchbrechung des schließlich allzu penetranten Adelsmythos à la Dönhoff beitragen, der im Übrigen den Verschwörern des 20. Juli selbst völlig deplatziert hätte erscheinen müssen. Dies ändert indes nichts an der Respekt erheischenden Tatsache, dass auch eine Minderheit der Aristokratie schließlich den Opfergang angetreten und mit ihrem Leben Zeugnis für das »andere Deutschland« abgelegt hatte.
Wider das Vergessen
Anders als Heuss oder Gräfin Dönhoff ist Reinhold Schneider, der einstmals berühmte katholische Schriftsteller und Dichter aus dem deutschen Südwesten, als einer der ersten Künder von Wesen und Beweggründen des 20. Juli völlig aus dem Bewusstsein der Gegenwart verschwunden. Sein Gedenkwort zum 20. Juli gehörte indes ebenfalls zu den wegbereitenden Veröffentlichungen der unmittelbaren Nachkriegszeit für ein besseres Verständnis der gescheiterten Selbstbefreiung der Deutschen. Der ursprünglich für eine nicht gehaltene Rede in Stuttgart verfasste Text wurde 1946/47 veröffentlicht und fand großen Nachhall, von dem allerdings heute praktisch nichts mehr zu verspüren ist, obwohl die Schrift noch einmal drei Jahrzehnte darauf erneut publiziert wurde. Babette Stadie, die Leiterin des Reinhold-Schneider-Archivs der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe, hat nun den Versuch unternommen, Schneiders Schrift und zugleich seinen Text über Die Toten des 20. Juli von 1949 in Erinnerung zu rufen. Unter dem Titel Die Macht der Wahrheit kommen jedoch vor allem unzählige Hinterbliebene der Männer des 20. Juli mit Briefen an Reinhold Schneider in Reaktion auf seine einfühlsame Ergründung und Darlegung von Motivation und Bedeutung des Attentats und Staatsstreichversuchs zu Wort.
Fünfzig Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, der selbst nie im Widerstand war, wohl aber beispielsweise Helmuth James Graf von Moltke vom »Kreisauer Kreis« begegnete, ersteht so ein lebendiger Eindruck nicht nur von Schneiders Interpreten- und Künderrolle, sondern auch von dem durch seine Leistung hervorgebrachten Echo unter den Angehörigen der umgebrachten Widerstandskämpfer. Sie kargten alle nicht mit Dankbarkeit und Lob für die bewundernswerte Intuition und Darstellung des Schriftstellers. Diese Zeugnisse von Leid und Trauer, aber auch von Genugtuung über die einsetzende historische Anerkennung nun mehr als zwei Generationen danach zu lesen stellt eine ergreifende Erfahrung dar. In einer breiten Einführung sucht der Mannheimer Zeithistoriker Peter Steinbach, unter anderem auch Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, den Rahmen zu setzen mit einer Schilderung von Schneiders Werdegang, seiner in standfester Distanz zum Nationalsozialismus prekären Existenz unter der Diktatur und seines nach dem Krieg radikalen Pazifismus. Dessen Illusionen führte ihn auf Abwege, bis hin zur heftigen Ablehnung der Wiederbewaffnung und zu Veröffentlichungen im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland«, was teilweise zum Entschwinden seines Nachruhms beigetragen haben dürfte.
Schuld versus Gewissen
Erstaunlicherweise bekannte Reinhold Schneider in seinem Gedenkwort zum 20. Juli, dass er Tyrannenmord weiterhin für nicht erlaubt halte. Zwar verschloss er sich keineswegs der Not der Verschwörer auf ihrer verzweifelten Suche nach dem geeigneten Mittel, den Diktator zu stürzen und dem Unheil Einhalt zu gebieten. Der Attentäter und seine Weggefährten »mussten sich freimachen von Vorstellungen, die für heilig galten, die Tradition einer engen missverstandenen Vaterlandsliebe war gegen sie«, anerkannte auch Schneider. Doch wie er gleichwohl meinte, dass sie dennoch Schuld auf sich geladen hätten, weil auch Unschuldige durch das Attentat ums Leben kamen, ist im Blick darauf, dass es einen teuflischen Massenmörder zu beseitigen galt, nicht leicht nach-zuvollziehen. Gewiss sprach auch Stauffenberg vom Attentat als der »schmutzigen Arbeit« und von der Aussicht, vielleicht als »Verräter in die deutsche Geschichte einzugehen«. Doch hat er, der nicht zum Verräter vor seinem eigenen Gewissen werden wollte, deshalb wirklich Schuld auf sich geladen? Ein anderer Weg als der Tyrannenmord blieb ihm nicht; ohne seinen Versuch gäbe es auch nicht Reinhold Schneiders Gedenkwort.[…]
Christian Müller in: »Die Politische Meinung«, Februar 2009

Der deutsche Schriftsteller Reinhold Schneider dürfte den meisten Lesern völlig unbekannt sein, doch gibt es tatsächlich eine Art Verwandtschaft zur Pfadfinderbewegung und auch zum Spurbuchverlag. In den letzten Kriegsjahren hatten seine Werke und Texte einen großen Einfluss auf die katholischen Christen, auch auf die katholische DPSG Pfadfinderbewegung. Dabei erschien ein Teil seiner Werke und Texte im Alsatia Verlag in Colmar, dem Vorgängerverlag des Spurbuchverlages. Alsatia veröffentlichte die Spurbücher in deutscher Sprache. Der damalige Verleger Joseph Rosse konnte für die gefragten Texte des wehrhaften Schriftstellers immer genug Papier beschaffen, veröffentlichte aber diese Werke ohne Jahresangabe – sie wurden gegenüber den Machthabern als bereits früher gedruckte Bücher deklariert.
Auf jeden Fall fanden die Texte reisenden Absatz und verbreiteten sich rasant in ganz Deutschland bis in das Heer hinein. Reinhold Schneider war eine Art Gewissen und Mahner zugleich. Er hatte selbst Kontakt zum Widerstand. Das nun vorliegende Buch schildert seine Lebensgeschichte, sein schriftstellerisches Schaffen in Kurzform und vor allem die moralische Bedeutung seiner Gedichte, die scheinbar zeitlos ohne Bezug zur Tagespolitik geschrieben worden waren. Als einer der ersten Schriftsteller Deutschlands überhaupt würdigte er in seinem bereits 1946 verfassten »Gedenkwort zum 20. Juli« die Leistungen und Motive des Widerstandes ge­gen Hitler. Seine damalige Stellungnahme, die übrigens nie gehalten wurde, abertausendfache Verbreitung fand, besitzt heute Allgemeingültigkeit. Damals war sie für viele provozierend. Der Pazifist Schneider hatte aus heutiger Betrachtungsweise einen großen Wurf gelandet. Er zählt auf Grund der geistigen Schwere seiner zu Unrecht zu den vergessenen Schriftstellern. Wer seine Kenntnis rund um die zeitgeschichtliche Auffassung von Widerstand und der damit verbunden  moralischen Diskussion erweitern möchte, dem sei dieses Buch empfohlen. Einfühlsam und sprachlich eindrucksvoll geschrieben und beschrieben. Eine anspruchsvolle Lektüre!
scouting, 03–08

Weil Reinhard Schneider 1946 seine Rede auf die Männer des 20. Juli nicht halten konnte, veröffentlichte er sie. Erst jetzt erscheinen die Reaktionen als Buch.
Widerstand bewegt sich immer auf einem schmalen Grat zwischen tiefen Abgründen – einerseits Landes- und andererseits Hochverrat. »Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab der deutschen Wehrmachtsführung auszurotten», verkündete Adolf Hitler in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1944 in einer reichsweit ausgestrahlten Ansprache. Man hätte erwarten können, dass diese Ansicht mit dem katastrophalen Untergang des Dritten Reiches und dem allgemeinen Wissen über seine Verbrechen rasch verschwunden wäre. Dass also die Deutschen mehrheitlich anerkannt hätten, dass Stauffenberg, Tresckow und ihre Freunde politisch-moralisch berechtigt waren, ein Attentat zu verüben und den Staatsstreich zu versuchen.
Doch das Gegenteil trat ein: Auch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Männer des 20. Juli vorwiegend als »Verräter«. 1951 ergab eine repräsentative Umfrage, dass 51 Prozent der Deutschen ihre Tat total oder überwiegend ablehnten. Die Stimmung war also kaum geeignet, dem Andenken der Verschwörer gegen Hitler den angemessenen Platz in der deutschen Öffentlichkeit zu geben.
Das musste auch der seinerzeit sehr populäre Schriftsteller Reinhold Schneider feststellen. Er sollte eigentlich am 20. Juli 1946 die Hauptrede beim offiziellen Gedenkakt des damaligen Landes Württemberg-Baden halten – doch dann kam die Feier nicht zustande, infolge von Unstimmigkeiten innerhalb der Regierung selbst, wie es hieß.
Schneider gab seinen fertigen Text zuerst als Typoskript bei einigen Bekannten in Umlauf, dann ließ er es als Büchlein erschienen, das er vor allem an Witwen von hingerichteten Verschwörern des 20. Juli 1944 verschickte. Viele reagierten mit Dankesbriefen, die jetzt, zum 64. Jahrestag des Attentats, als Buch erschienen sind.
»Welche Bedeutung der 20. Juli aber im Hinblick auf unser Land hat«, ist offensichtlich heute wie vor sechs Jahrzehnten nicht ganz einfach zu erkennen, wie Ingrid von Oertzen am 9. Juni 1947 an Schneider schrieb. Ihr Mann war ein enger Mitarbeiter Henning von Tresckows gewesen und nahm sich kurz vor seiner Festnahme mit einer Handgranate das Leben. Zutreffend nannte die Witwe das Attentat den »letzten Versuch unseres Volkes, den erzwungenen Widerspruch von Denken und Handeln, von Gewissen und Gehorsam zu brechen«.
Sehr persönlich berichtete Ariane von Plettenberg in ihrem Brief an Schneider von den »ganzen schweren Gewissensqualen und Kämpfe, die meinen Mann Tag und Nacht beschäftigten, dieses bewusst Schuldigwerdenmüssen um der Wiederherstellung des Rufes willen, diese grauenvolle Verstrickung von Gut und Böse, unter der er so litt, und dann doch dieses sich zur Tat Durchkämpfen mit der sicheren Ahnung, dass das alles zu spät war und doch getan werden musste«. Ihr Mann Kurt von Plettenberg hatte zum engeren Freundeskreis um Claus von Stauffenberg gehört und stürzte sich nach seiner Verhaftung aus dem dritten Stock der Gestapo-Zentrale, um nicht unter der Folter weitere Mitwisser der Verschwörung verraten zu müssen.
Zu den weniger bekannten, gleichwohl aber zentralen Figuren der Staatsstreichvorbereitung gehörte Erwin Planck, der Sohn des Nobelpreisträgers Max Planck. Er wurde im Januar 1945 hingerichtet, unter anderem weil er den Entwurf eines »Staatsgrundgesetzes« für die Zeit nach Hitler mit entworfen hatte. »Ich glaube, Sie haben im Namen der Meisten dieses Kreises, die nicht mehr am Leben sind, gesprochen«, schrieb seine Witwe Nelly Planck an Schneider: »Ich weiß von meinem Mann, dass er, sooft wir von dem Umsturz des damaligen Regimes sprachen, immer wieder betont hat, dass man sein eigenes Leben als Sühne hingeben müsse für all das angerichtete Unrecht.«
Die Briefedition, die der Widerstandshistoriker Peter Steinbach eingeleitet hat und die auch das Typoskript von Schneiders Ansprache sowie den Erstdruck als Faksimiles enthält, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Motive der Verschwörer, gespiegelt in sehr zeitnahen Äußerungen ihrer engsten Angehörigen. Alle Briefe stammen aus einer Zeit, als die Männer des 20. Juli 1944 noch überwiegend negativ wahrgenommen wurden. Die Erinnerung an den Mut der Verschwörer »traf gewiss nicht den Geist der Zeit«, wie Steinbach zu Recht feststellt. Auf den Punkt formuliert schrieb schon am 21. Juli 1947 Erika von Tresckow an Reinhold Schneider: »Sie haben den Mut gehabt, das Entscheidende und das Wesentliche über jene Opfer des 20. Juli 44 und das Geschehen selbst zu sagen. Es wird noch viel darüber diskutiert und geschrieben werden, – viel zu viel –, aber Sie haben die Dinge an der Wurzel gepackt und sind ihnen bis auf den Grund gegangen!«
Der kleine Berliner Lukas-Verlag, der sich schon mit Bücher zum Beispiel über Emmi Bonhoeffer, Hans-Ulrich von Oertzen und Hans Alexander von Voß um die Erinnerung an weniger bekannte, aber keineswegs unwichtige Figuren des Widerstand gegen Hitler verdient gemacht hat, ergänzt das Bild des Widerstandes gegen Hitler und vor allem seiner Aneignung in Westdeutschland mit den Briefen an Reinhold Schneider um eine wichtige Facette. Die Entdeckung zeigt zugleich, dass immer noch Schätze in Archiven und Bibliotheken ruhen, die entdeckt und gehoben werden müssen.
Sven Felix Kellerdorf in: Die Welt, 19.07.2008.

Es ist eine, buchstäblich genommen, schmale Schrift, die Reinhold Schneider im Juni 1949 herausbrachte, aber es ist ein Text, der zumindest bei denen, die er unmittelbar ansprach und die noch lebten, direkt ins Herz traf. Eine derer, die sich zu Recht gemeint fühlten, beschrieb in einem Brief an den Autor ihre Lebensumstände: »Wir haben zu viert ein Zimmer (ich mit 3 Kindern), Strohsäcke, aber ein Klavier, Pumpe im Hof, aber Dachgarten am Zimmer mit Blumen, Kohl im Topf, aber Reinhold Schneider im Kopf, Möbel verloren, aber Geige gerettet, keinen Herd, keine Tassen, keine Konservenbüchsen, aber gute Bekanntschaft mit dem Buch Hiob etc., Flecken an der Wand, aber darüber das Bild meines Mannes…«. Das Portrait, von dem da die Rede ist, zeigt Klaus Bonhoeffer, der sich über Jahre aktiv im Widerstand gegen Adolf Hitler und das NS-Regime betätigt hatte. Er war bekannt, befreundet und verwandt (sein Bruder war Dietrich Bonhoeffer) mit den Männern, die Deutschland gleichsam in letzter Minute vor dem Schlimmsten bewahren wollten: Ihnen hat Schneider damals, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine Schrift »Die Toten des 20. Juli« gewidmet.
Der Essay steht im Mittelpunkt einer Publikation, die offiziell an diesem Sonntag – also auf den Tag genau 64 Jahre nach dem Attentat auf Hitler – in den Buchhandel kommt.
Erarbeitet wurde der Band von Babette Stadie anhand von Dokumenten, die das Reinhold-Schneider-Archiv der Badischen Landesbibliothek (BLB) in Karlsruhe bewahrt. Stadie beschreibt in einem Aufsatz die Vorgeschichte zu Schneiders Text, und erwähnt nicht zuletzt die Sonette »Allein den Betern« (1936) und »Der Antichrist« (1938), die offenbar viele heimliche Leser fanden. Darauf weist allein schon die Tatsache hin, dass sie handschriftlich oder per Schreibmaschine vervielfältigt wurden, um auf diese Weise auch an die Front oder in Gefängnisse und Konzentrationslager zu gelangen. »Schneider wurde rasch zum vielleicht wichtigsten Exponenten einer selbstbewusst demonstrierten inneren Emigration«, erklärt der Historiker Peter Steinbach in einem umfassenden Vorwort, wobei er allerdings nicht die Auffassung des Wiener Geschichtswissenschaftlers, Publizisten und Schriftstellers Friedrich Heer teilt, Schneider sei »zur einzigen Stimme des deutschen Widerstands im Deutschen Reich im Raum der Poesie« geworden.
Wie groß die Resonanz war, die der Sohn eines Baden-Badener Hoteliers mit seinen Texten auslöste, zeigen die zahlreichen Briefe, die Reinhold Schneider von seinen Lesern erhielt – nicht erst nach seiner Schrift über »Die Toten des 20. Juli«, aber dann eben gerade auch von den Frauen der Widerständler: »Welches Leid haben sie getragen und verschwiegen, welche Bewährung haben sie geleistet, mochten sie nun wissen oder nur ahnen, helfen oder warnen, hoffen oder verzweifeln!« heißt es in Schneiders Schrift. Erika Canaris, Witwe von Admiral Wilhelm Canaris (am 5. April zusammen mit Dietrich Bonhoeffer und Hans Oster nackt erhängt), bescheinigte dem Autor: »Es ist viel zum und über den 20. Juli gesagt und geschrieben worden, nichts aber hat das Wesentliche so erfasst« Andere wie Erika von Tresckow, deren Mann Henning von Tresckow bereits 1943 ein Attentat gegen Hitler versucht hatte und der sich am 21. Juli 1944 mit einer Handgranate das Leben nahm, sprachen von Trost und Befreiung durch Schneiders Text. Denn auch das wird in der höchst bemerkenswerten Dokumentation von Babette Stadie deutlich: Das besiegte Deutschland hatte Mühe, zu verstehen und anzuerkennen welch hohen Dienst die Männer des Widerstands unter äußeren und inneren Qualen ihrem Land geleistet haben.

Michael Hübl in: Badische Neueste Nachrichten, 19.07.2008.