Arnold Bartetzky, Marina Dmitrieva, Alfrun Kliems (Hg.)

Imagination des Urbanen

Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa

In ihrer Einleitung zitieren die Herausgeber Ausführungen von Heinz Paetzold: Es gebe »weder eine universale Geschichte der Stadt noch eine universale Geschichte der Urbani­tät.« In diesem Sinne versteht sich auch die hier vorgelegte Sammlung von Aufsätzen, her­vorgegangen aus einer Vortragsreihe und For­schungen an der Universität Leipzig, als ein Beitrag, eine westeuropäische Sicht auf die Dimensionen des Urbanen und Städtischen zu differenzieren. Dies wird auf drei Ebenen ge­leistet: Es werden die Städte im Osten Euro­pas vorgestellt und untersucht, es wird der Umgang mit sozialistischer Stadtplanung re­flektiert, und es wird der Zugang zur Entziffe­rung der Stadtlektüre nicht nur über Architek­tur und Städtebau, sondern auch über die Rol­le der Stadt in Literatur, Film und Musik ge­sucht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Jahren zwischen 1945 und 1989, aber auch die Zeit davor und danach wird betrachtet, weil ohne sie die Epoche des Sozialismus nicht hinreichend bewertet werden könnte. So wird et­wa deutlich, dass der Platz als Ort des Marktes und der diskursiven Öffentlichkeit im vor­modernen Russland so gut wie nicht existier­te. Der Umgang mit dem Alexanderplatz in Berlin, ein Buch Bohumi Hrablas über Prag, aber auch russische und ungarische Filme werden von den Autoren zu Deutungen heran­gezogen. Es breitet sich vor dem Leser im Ge­genüber von Inszenierungen der Macht und subversiven künstlerischen Strategien ein Tableau  aus   Glücksversprechung, Sinnsuche und  Desillusionierung aus. Aufschlussreich werden Wechsel im Umgang mit einer Moder­ne, die zur Geschichte geworden ist, nachvollzogen, wird gezeigt, wie symbolische Formen für neue, auch widersprüchliche Sinngebun­gen transformiert werden ­– einem einfachern Urteil über die gute oder die schlechte Stadt der Moderne wird der Boden entzogen. Urba­nität wird als soziale und ästhetische, als immer wieder neu erstellte Konstruktion sichtbar – und diese Konstruktion muss verstanden werden, wenn man den Umgang mit der Stadt im jeweiligen Kontext verstehen will. Und das gilt nicht nur für Mittel- und Osteuropa.

Christian Holt, in: deutsche bauzeitung, 09/2010

 

In dem vorliegenden Band werden 13 Beiträge aus Disziplinen der Literaturwissenschaften, Architekturgeschichte, Kunstgeschichte und Anthropologie vorgestellt, die auf dem Forschungsprojekt »Imaginationen des Urbanen in Ostmitteleuropa. Stadtplanung -– Visuelle Kultur-Dichtung« des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas der Universität Leipzig sowie einer angegliederten Vortragsreihe basieren. In dem Zeitfenster von 1945 bis heute werden Entwürfe und Vorstellungen von Urbanität im weitesten Sinne untersucht. Appliziert auf die unterschiedlichen Genres der Architektur und Stadtplanung, der Literatur, des Films und der bildenden Kunst, wird ein sehr weiter Bogen gespannt.
Dem komplexen Anspruch des Titels des Sammelbands entsprechend deckt Marina Dmitrieva in ihren Betrachtungen zu Visionen, Konzeptionen von Architekten und Stadtplanern sowie den Werken bildnerischer Künstler ein Phänomen auf, das wiederholt die Avantgarde fasziniert. Dmitrieva legt in ihrem Beitrag zu den »Vysotki« in Moskau die direkte Nähe der Hochhausutopien Stalins nach amerikanischem Vorbild zur gegenwärtigen Moskauer Baupolitik offen, die eben diesen lang verfemten Größenwahnsinn wieder aufgreift. Sehr detailliert und kenntnisreich geht sie auf die Ursprünge der stalinistischen Architektur ein, ohne dabei die Verbindungen zwischen bildender Kunst und realer Bautätigkeit auszulassen. Sinnvoll wäre vielleicht noch ein Hinweis auf Wiederaufbauplanungen anderer Städte gewesen, die direkt unter dem Einfluss dieser sowjetischen Stadtplanungen sowie Höhendominanten standen.
Mit dem Roten Platz als einem weiteren Moskauer Beispiel beschreibt Andreas Gurski die verschiedenen Wahrnehmungen des Ortes in unterschiedlichen politischen Zeitspannen. Anhand dreier Gemälde von Konstantin Juon, die innerhalb von zwanzig Jahren entstanden sind, zeigt Gurski geschickt die Entwicklung des Platzes als Versammlungsort zum politischen Machtzentrum auf, das allerdings im Alltag eine Leere darstellte und nur zu festlichen Anlässen eine geordnete Zurschaustellung und Machtrepräsentation offenbarte. Durch Bezüge zu den Agitatoren der Macht – Stalin, der den Roten Platz mied – fängt Gurski sehr eindrücklich die bestehenden Atmosphären ein und führt in die heutige Neueroberung eines ehemals verbotenen Territoriums durch die Bevölkerung über. Ebenso weist er auf das Exempel des Roten Platzes für viele Stadträume des sowjetischen Machtbereiches hin.
Einer davon ist der Alexanderplatz. Paul Sigel fasst dessen Entwicklung vom Paradeplatz über die Funktion als Verkehrsknotenpunkt zum Zentrum von Ostberlin durch den Bau des »Haus des Lehrers« von Hermann Henselmann und dem in nächster Nähe positionierten Fernsehturm äußerst differenziert zusammen. Zur Wendezeit folgt der Abstieg zum »Unort«, gleichzeitig Beginn der durch Idealvorstellungen geleiteten Stadtplanungspolitik der 1990er-Jahre. Das Bestehende bewusst ignorierend, werden amerikanische Leitbilder und weitere Landmarks präferiert, die das Image einer Weltmetropole ausstrahlen sollen. Diese Leitbilder werden nur in Teilen realisiert und werfen heute tiefe Schatten auf den von der Bevölkerung wiederentdeckten Platz, der nun kaum noch ein Ort historischer Bezüge darstellen kann. Zu Recht stellt Paul Sigel in Frage, ob die neuen Bauten Ursache der heutigen positiven Entwicklung des Platzes sind oder ob sie eine Begleiterscheinung des Zeitgeistes darstellen.
Am Beispiel der Planungen zum Wiederaufbau der Hauptstädte Warschau und Ost-Berlin nach sowjetischem Vorbild veranschaulicht Arnold Bartetzky eindrucksvoll sowohl Divergenzen als auch Dissonanzen in der Wiederaufbaupolitik der Nachkriegsjahre und der Vorbildfunktion der Sowjetunion verbunden mit der Rolle von Entscheidungsträgern wie Walter Ulbricht. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Forschung legt Bartetzky seinen Schwerpunkt auf die mediale Propaganda zur städtebaulichen Entwicklung der beiden Prestigeobjekte nach stalinistischem Vorbild. Die politische Vermarktung galt einerseits der staatlichen Legitimation, andererseits der Verankerung des realsozialistischen Gedankenguts in der Bevölkerung und ihrer Bindung an den Staat. Mit seinen propagandistisch ausgeschlachteten Wohnungsbau-, Konsum- und Kulturbauprogrammen suggerierte der Staat der Bevölkerung seine Versorgerrolle, sobald diese sich mit ihm identifizieren würde.
Xavier Galmiche untersucht in Bohumil Hrabals Montage »Diese Stadt steht in der Obhut ihrer Bewohner« Zitate, die Hrabal aus für Prag identitätsstiftenden Texten, Abhörprotokollen sowie Straßengesprächen fragmentarisch entnommen und neu verbunden hatte, sodass sie ein neues Bild erzeugten. Im Zusammenhang erhielten die Fragmente eine neue und andere Kraft. Es entstünden neue Bilder der Stadt, stetige und veränderte Atmosphären würden aufgefangen. Galmiche macht deutlich, dass die Wahrnehmung einer Stadt sich aus den verschiedensten Elementen zusammenfügt. Teile werden von Zeit zu Zeit überschrieben, wirken aber in Fragmenten noch über die Zeit hinweg weiter.
Zu einem anderen Ergebnis kommt Anne Cornelia Kenneweg, die die Ambivalenz und gegenseitige Bedingtheit des krisengeschüttelten Belgrads der 1990er-Jahre und seiner Bewohner in den Romanen und Manifesten von Vladimir Pištalos aufzeigt. In »Ich bin Belgrad« seien es die Protagonisten, die sich mit dem Ort ihrer Heimat identifizierten. Sie würden ihre eigene Wirkung erkennen, einen Ort zu prägen und verbänden diesen mit einem bestimmten Personenkreis. Losgelöst von der baulichen Umwelt, würde so jeder einzelne seinen eigenen Blick auf die Stadt, ihre Atmosphäre und Wirkung entwickeln.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass in allen Beiträgen die zentralen Themen Macht und Kontrolle durch bauliche Gestalt und Aufwertung sowie Wahrnehmung dieser manifestierten Umwelt vorherrschen. Reflektiert in Bild, Literatur und Film sind sie immer gekoppelt mit der sozialistischen Ideologie und deren bedrohlichen Auswirkungen bis in den Alltag hinein. Dies wird insbesondere in der Auseinandersetzung von Eva Binder zu Filmen in Moskau, bei der »die flüchtig eingefangene Hauptstadt Moskau ständig präsent« ist und Macht konnotiert, sowie in den von Gábor Gelencsér untersuchten ungarischen »Wohnungsfilme(n)« deutlich. Diese offenbaren, wie sehr der sozialistische Machtapparat seinen Einfluss auf den Alltag jedes einzelnen ausübt und dass sich diesem im urbanen Kontext keiner entziehen kann.
Der Titel des Sammelbandes offeriert eine Gesamtschau und noch mehr einen Vergleich der verschiedenen Stadtplanungstheorien und Konzepte in Mittel- und Osteuropa, die jedoch nicht erfolgen. Vielmehr erscheint diese Publikation lediglich als eine Ansammlung verschiedener, in einem sehr weit gefassten Rahmen thematisch passender Beiträge, die sich zudem leider nur bedingt aufeinander beziehen. Dies ist keineswegs eine Kritik an den einzelnen Beiträgen an sich, sondern an dem nicht vorhandenen dezidierteren Schwerpunkt der Publikation. Noch viel schwerer wiegt die fehlende Vermittlung der erfolgten Auswahl. Die Reihenfolge der verschiedenen Aufsätze ist nicht nachvollziehbar, es mangelt an jeglicher Einteilung nach inhaltlichen oder geographischen Zusammenhängen oder Genres. Dies ist äußerst bedauerlich, da Inhalte und durchaus bestehende thematische Beziehungen nur schwer erkennbar sind. Die Chance, die große Qualität einzelner Beiträge über den reinen Akt der Veröffentlichung hinaus herauszuarbeiten, ist leider vertan worden.
Christiane Fülscher, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5
URL: http://www.sehepunkte.de/2010/05/16050.html

 

 

Dieser Sammelband beruht auf Ergebnissen eines Projekts zu »Imaginationen des Urbanen in Ostmitteleuropa« des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig. Er beinhaltet 13 Beiträge zu ostmitteleuropäischen städtischen Räumen als Produkte planerischer oder diskursiver ebenso wie filmischer, literarischer und künstlerischer Konstruktion. Der Band erhebt so den Anspruch, einen Beitrag zu gleich zwei ob ihrer Vielschichtigkeit nahezu chronisch unbestimmten Themenfeldern zu leisten, nämlich zur Erfassung im konkret räumlichen Sinne als auch in Form sprachlich-visueller Verbildlichung dessen, was einen städtischen Ort »urban« macht.
Dazu verweist im Anschluss an die Einleitung des Bandes durch die Herausgeber zunächst Rudolf Jaworski auf die besonderen Qualitäten ostmitteleuropäischer Städte als Speicher des kollektiven Gedächtnisses. Diese Qualität sei jedoch nicht nur durch einen nachholenden Modernisierungsprozess, sondern auch durch Musealisierungserscheinungen bedroht, wenn historische Stadtkerne in einem Kontraste nivellierenden Restaurierungsprozess zu nur noch hübschen Stadtikonen umgestaltet werden.
Daran gedanklich anschließend regt Miroslav Marcelli in seinem philosophischen Essay zu Bratislava eine sanfte, Radikalkuren vermeidende Transformation der Stadträume an, die noch sozialistischen Machtanspruch demonstrieren. Die gerade durch radikale ideologische Brüche gekennzeichnete »Aufbau-Phase« des Sozialismus hält Jacek Friedrich fest anhand des theoretischen Architekturdiskurses zu »Moderne« und »Modernität« im Polen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der unter wachsendem politischem Druck durch antiavantgardistische Interpretationen beherrscht wurde. Dieser Diskurs stellte gewissermaßen das Prelude zu dem von Arnold Bartetzky beschriebenen Zeitraum des sozialistischen Städtebaus als »GlücksVerheißung« dar. Die nur kurze, aber aufgrund ihrer baulichen Ergebnisse und ihrer politischen Bedeutung bei der Werbung um Sympathie für das oktroyierte sozialistische System prägende Etappe propagandistischer Inszenierung des Baus von »Palästen für Arbeiter« in nationaler Bautradition wird unter Berücksichtigung von Wochenschauen und Zeitungsartikeln ebenso wie von Plakaten, Spielfilmen und Schlagern thematisiert. Die gewählten Beispiele Warschau und Berlin weisen die außerhalb der Sowjetunion bedeutendsten Ensembles stalinistischen Städtebaus auf. Eine andere Imagination des Urbanen – die Obsession sozialistischer Regime für Wolkenkratzer – thematisiert Marina Dmitrieva, indem sie einen Bogen von frühen sowjetrussischen Phantasien eines »Neuen Amerika« zu nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Hochhäusern in Moskau, Warschau und Bukarest spannt, wobei auch deren persiflier­tes Nachleben in Form postsozialistischer Wolkenkratzer reflektiert wird. Timea Koväcs hingegen zeigt am Beispiel von Budapest Stadtinszenierungen mittels nächtlicher Beleuchtung. Durch »Neonisierung« versuchte das sozialistische Regime in den 1970er Jahren, anknüpfend an die Zwischenkriegszeit, ein – die Mangelwirtschaft freilich kaum übertünchendes – Weltstadtbild zu kreieren.
Der städtische Platz als Kristallisationspunkt des Urbanen bildet den Untersuchungshinter­grund für Paul Sigels Beitrag über Projektio­nen und Spurensuche an einem der widerspruchsvollsten Berliner Plätze, dem Alexanderplatz. Dieses historisch schwer abgrenzbare stadträumliche Gebilde war bis in die zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein Gegenstand von nicht oder nur fragmentarisch realisierten Umgestaltungsphantasien, bis der Platz in der DDR der 1960er Jahre durch den Prestigebau des Fernsehturms massiv aufgewertet und zu einem sozialistischen »Weltstadtplatz« umgestaltet wurde, der bisherige Raumdimensionen sprengte. Als solcher erfuhr er nach 1989 eine Abwertung und wurde erneut zum Objekt von bis heute kaum realisierten weltstädtischen Projektionen.
Auch Andreas Guski thematisiert die Obsession sozialistischer Regime für die Schaffung öffentlicher, von individuellem Chaos gesäuberter Stadträume. Er beschreibt den Wandel von Agoraphobie zu Agoraphilie in der sowjetrussischen Stadt, durch den traditionelle Orte des Privaten zu »Gegenräumen« wurden.
Das Spannungsfeld zwischen offiziellen Stadtwelten und ihren Gegenwelten spiegelt sich auch in weiteren Beiträgen wider. Das vom tschechischen Underground geprägte Prag-Bild mit der Auseinandersetzung zwi­schen Zentrum und mythisierter Peripherie untersucht Alfrun Kliems anhand jeweils eines lyrischen (Dichter Egon Bondy), eines musikalischen (Rockband Extempore) und eines kinographischen (Verfilmung des Romans von Jächym Topol Andel Exil durch Vladimir Michälek) Beispiels. Er demonstriert so die Produktion von Stadtbildern, die weniger die »Goldene Stadt« selbst als ihren Underground mit seinen mystischen Szeneri­en widerspiegeln.
Ebenfalls am Beispiel Prag zeigt Xavier Galmiches Analyse des 1967 entstandenen Frühwerks Diese Stadt steht in der gemeinsamen Obhut ihrer Bewohner des Dichters Bohumil Hrabal, dass auch eine in avantgardistischer Montage erzeugte Erinnerung an eine multikulturelle Stadtvergangenheit mit sozialistischer Geschichtsinterpretation kollidieren konnte. Eva Binder demonstriert hingegen am Beispiel postsozialistischer Filme von Aleksej Balabanov, Petr Buslov und Timur Bekmambetov, wie Moskau und Sankt Petersburg zu Projektionsorten antiutopischer Gesellschaftsdiskurse werden, in denen mar-ginalisierte Gruppen und Individuen in kultu­rellen Spannungsfeldern zwischen Ost und West agieren.
Plattenbau-Wohnsiedlungen als filmische Projektionsfläche untersucht Gabor Gelencser am Beispiel ungarischer Werke, in denen narrative und visuelle Möglichkeiten dieses spezifischen urbanen Milieus zur Darstellung innerer Konflikte der Filmhelden genutzt werden. Einem offen ausgebrochenen Konflikt, d.h. der literarischen Verarbeitung des Krieges, der nicht nur zum Zerfall Jugoslawiens, sondern auch seiner Städte führte, widmet sich Anne Cornelia Kenneweg am Beispiel des Prosaschaffens von Vladimir Pistalo. Darin kristallisiert sich der Mangel zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben wie für die eigene Stadt auf Seiten der Stadtbewohner als Haupthinderungsgrund für ein friedliches Zusammenleben heraus. Dieser vorzüglich mit zahlreichen Abbildungen illustrierte, multidisziplinäre Band leistet einen wichtigen Beitrag zur Integrierung der ostmitteleuropäischen Städte in das Themenfeld »Europäische Stadt«. Aus westlicher Perspektive über Jahrzehnte hinter dem »Eisernen Vorhang« verschwunden und nach dem politischen Umbruch zu häufig als »noch in der Transformation« ignoriert, zeigt das entstandene bunte Kaleidoskop von Städten und Themen zum einen die Vielschichtigkeit der historischen wie aktuellen Entwicklungen der ostmitteleuropäischen Städte: statt grauer sozialistischer Einheit Brüche und Gegenwel­ten; statt postsozialistischem Weg zur „Normalität" viele Paradoxe und Fragezeichen. Zum anderen wird deutlich, dass diese Städte nicht nur westliche Imaginationen des Urba­nen rezipieren, sondern eigenständige Beiträ­ge zur Entwicklung der europäischen Polis im Spannungsfeld zwischen Agora und Peripherie, zwischen Authentizität und Musealisierung, zwischen stadtgesellschaftlichem Diskurs und Individualisierung beisteuern können.
Alexander Tolle, in: Osteuropa, 11/2009

 

 

Der Band enthält Beiträge aus den Bereichen Architektur, Stadtplanung, Technik, Film, Fotografie, Literatur, ja selbst Musik. Dass dies alles »unter einen Hut« gebracht werden kann, legt Rudolf Jaworski im Einleitungsbeitrag dar, der den Städten Ostmittel- und Osteuropas als kulturwissenschaftliches Untersuchungsobjekt besondere Bedeutung zuschreibt, da sie als »Speicher des kollektiven Gedächtnisses« neu entdeckt und gelesen werden können. Wenn die empirische Stadtforschung sich mit verfassungs-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen befasse, gehe es im kulturwissenschaftlichen Stadt-Diskurs nicht zuletzt um »identifikatorische Bedeutungsinhalte und Symbolwerte« und um Strategien der medialen Vermittlung. Städte speicherten Geschichte, der ländliche Bereich Traditionen.
Nach 1989 hat ein geballter Diskurs um das Nach-Mauerfall-Berlin begonnen. Der Beitrag von Paul Sigel analysiert die Ausverhandlungen über den neuen Berliner Alexanderplatz und kommt zum Schluss, dass die gleichzeitige Präsenz der verschiedenen Schichten des Musee imaginaire des Platzes nunmehr dessen historische Dichte visualisiere und ihn zum wirklich urbanen Herzstück der Stadt mache.
Der Rote Platz in Moskau und dessen Metamorphose in der Sowjetzeit wird von Andreas Guski unter Augenschein genommen. Der Beitrag beginnt mit Überlegungen zu Agoraphilie (»Platzlust«) und Agoraphobie (»Platzangst«); generell komme im ostslawischen Raum dem städtischen Platz eine geringere Bedeutung zu als in westeuropäischen Städten; der Markbereich lag außerhalb der Kremlmauern. Der Rote Platz vor dem Moskauer Kreml wurde ebenso wie der St. Petersburg Schlossplatz – symbolisches Machtzentrum des kaiserlichen Russland schlechthin (aber nicht Gegenstand der Untersuchung) – ab den Jahren 1919/1920 zur Bühne der Revolution, wurde erstmals in der Geschichte von den Massen bespielt. Mit dem Tod Lenins und der Errichtung seines Mausoleums 1924 und weiteren Ehrengräbern der Politprominenz vor der Kreml-Mauer erfuhr der Platz eine Art »Hierophanie« (Mircea Eliade), ein »Aufscheinen des Heiligen im Profanen«. In drei Gemälden von Konstantin Juon: Parade der Roten Armee (1923), Erster-Mai-Parade des Jahres 1929 (1930) und Parade auf dem Roten Platz am 7. November 1941 (1942), werde die Verwandlung des Platzes »vom karnevalistischen Ort politischer Manifestationen der Oktoberperiode zum heiligen Ort mit fest vorgeschriebenem Ritual« festgehalten. Es wird auf die Lyrik zum Roten Platz verwiesen. Andreas Guski möchte noch einen Punkt berühren: den Zentren der großen Städte waren Mietskasernen und Hinterhöfe als Erbe zugefallen, die zu jenem potemkinschen »Fassadismus« (Vladimir Papernyj) beitrugen, welcher die Kehrseite der öffentlichen Selbstdarstellung der Sowjetunion bildete, nämlich die eklatante Verwahrlosung der städtischen Innenhöfe, aber auch des Althausbestandes.
Jene markanten Gebäude aus der Stalin-Zeit, welche das Stadtbild Moskaus nach dem »Großen Vaterländischen Krieg« veränderten und prägten, wollten mit amerikanischen Wolkenkratzern konkurrieren. Deren Baugeschichte und die Auseinandersetzung mit dem urbanistischen Amerikanismus im jungen Sowjetstaat in den 1920er-Jahren wird im Beitrag von Marina Dmitrieva erzählt. Ein Blick wird auch auf das "neue Moskau" geworfen. Frappant eine Fotografie des so genannten Triumph-Palastes: 2005 fertig gestellt imitiert dieses Wohnhochhaus, das angeblich das höchste Hochhaus Europas sein soll, den Stil der Stalinarchitektur der 1950er-Jahre. Die wahren Dimensionen der Umgestaltung von Moskau im vergangenen Jahrzehnt werden wohl erst aus einer zeitlichen Distanz beschreibbar sein.
Die Propaganda, welche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den »sozialistischen Aufbau« in den total zerstörten Städte Berlin-Ost und Warschau instrumentalisierte, untersucht Arnold Bartetzky. Er kommt dabei zum Schluss, dass Stadtplanung mit Glücksverheißung gekoppelt war.
Im Fokus der Medien stand in Berlin das Großprojekte Stalinallee, in Warschau das Wohnsiedlungsprojekt an der Marszalkowska (MDM), die Altstadtrekonstruktion und der Kulturpalast (PKiN). Der reich bebilderte Beitrag verzichtet auf Zwischenüberschriften und vergleicht die polnische mediale Propaganda – die Materialbasis imponiert – mit der DDR-Propaganda und berichtet über städtebauliche Projekte und Konzepte von damals. Dem Verfasser des Beitrages geht es auch darum zu zeigen, dass das sozialistische Modell zwangsimportiert war, unabhängig davon, dass es, mit Blick auf den soeben erst besiegten Nationalsozialismus, im einen Fall eine Täter-Gesellschaft (Deutschland) im anderen Fall eine Opfer-Gesellschaft (Polen) betraf.
Einem Architekturdiskurs in Polen der Jahre 1945-1949 über den damaligen Modernitätsbegriff widmet Jacek Friedrich seinen Beitrag. Verwiesen wird auf das große Echo der 1948 veranstalteten »Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete in Breslau (WZO)« in der Fachzeitschrift »Architektura«. Einer der wichtigsten Texte jener Zeit von Maciej Nowicki konnte erst 1958, während der polnischen Tauwetter-Periode, erscheinen.
Der Beitrag von Miroslav Marcelli hebt sich von den anderen ab: Essayistisch angelegt mit starker Betonung des »ich« und »wir«, beginnt dieser mit philosophischen Überlegungen zur Stadt (Rousseau, Barthes), um auf die Städte der Slowakei zu sprechen zu kommen. Die Umgestaltung derer Stadtkerne nach 1945 folgte dem Ideal, dass »jeder Stein, jedes Stück Eisen, jede Blume [...] durch Umfang, Farbe, Form und Standort gehorsam zum großen Diskurs über den Sieg des Sozialismus« beizutragen habe. Der Autor möchte einen Reformismus propagieren, »der Raum eröffnet für spielerische, ungebundene und sogar subversive Kräfte«.
»Verbringen Sie die Nacht nicht schlafend!« betitelt Timea Koväcs ihren Beitrag über Beleuchtungskampagnen in Budapest; Ende der 1920er-Jahre wurde die Lichtreklame eingeführt und verlieh den Einkaufsmeilen der prachtvollen Stadt nun auch bei Nacht neuen Glanz. Wie in Wien, Prag und Berlin 1927 wurden auch in Budapest »Lichtwochen« veranstaltet, das Nachtleben boomte: 1970 wurde Budapest im Zuge des X. Parteitages einer großangelegten Neonisierungs-Kampagne unterzogen. Neonreklame sollte die sozialistische Konsumwelt attraktiver machen. So haben auch diese inzwischen verschwundenen PseudoWerbungen an den Geschäften und »presszok's« (Kaffeebars) zum Flair der sozialistischen Stadt gehört.
Im ungarischen Filmschaffen seit den 1970er Jahren wurde der sozialistische Wohnungsbau sowohl in Autorenfilmen thematisiert, als auch in originellen, als »Budapester Schule« bezeichneten Streifen (welche unter dem Überbegriff Dokumentarismus zusammengefasst wurden) , die fiktionale und dokumentarische Verfahren kombinierten. Diese Filme werden im Beitrag von Gabor Gelenczer auf anregende Art vorgestellt.
»Drehort Moskau« betitelt Eva Binder ihren Beitrag. Es geht ihr um Filme, in denen 'die Stadt' nicht einfach nur Schauplatz und Kulisse für die filmische Erzählung ist, sondern Teil der Inszenierung wird. Vorgestellt werden die Brat-Filme (1997, 2002) »Bumer« (2003) und »Nocnoj dozor« (2004).
Prag eignet sich keinesfalls dazu, als Verkörperung der sozialistischen Utopiebeschrieben zu werden: Zwei Beiträge in diesem Band nähern sich der Stadt daher in anderer Form. Als Folie wählt Alfrun Kliems das legendäre Buch von Angelo Maria Ripellino »Praga magica« (1973), welches ein kulturelles Gedächtnis evozierte, das verschüttet war, um aufzuzeigen, wie Künstler – Undergrounddichter, -musiker und Filmemacher – sich mit ihren Mitteln lyrische, akustische und »optische Zufahrtsstraßen in das Wesen der Stadt« geschaffen haben.
Von Xavier Galmiche wird am Montage-Text von Bohumil Hrabal »Diese Stadt steht in der gemeinsamen Obhut ihrer Bewohner« (1967) die Krise der avantgardistischen Vorstellung des städtischen Raumes aufgezeigt; begleitet wird diese Analyse von Fotografien von Miroslav Peterka, welche Laden- und Hinweisschilder als Motiv zeigen. Der abgedruckte Bericht zur Veröffentlichung der Zensurbehörde aus dem Jahr 1966 konzediert diesen Aufnahmen, ins satirischen Genre »Dikobraz« – eine tschechische Entsprechung der sowjetischen Satirezeitschrift »Krokododil« – zu passen.
Schließlich ist noch auf den Beitrag von Cornelia Kenneweg mit dem Titel »Von der Manufaktur der Träume zum Alptraum des Krieges« hinzuweisen. Er umfasst eine Analyse des Werkes des serbischen Schriftstellers Vladimir Pistalo und fokussiert auf dessen Belgrad-Imaginationen. Relikt oder Erbe: An der Kippe von lebendem "Funktionsgedächtnis" zu "unbewohnten Speichergedächtnis" (Jaworski nach Aleida Assmann, S. 20) unterliegt die Stadt des "real existierenden Sozialismus" einem Degradierungsprozess. Der vorliegende Band möchte diese einstige Urbanität architektursemiotisch und mediengeschichtlich verorten.
Gertraud Marinelli-König, in: Humanities – Sozial- und Kulturgeschichte, 2010

 

Seit jeher ist das Stadtbild mehr als bloß Gegenstand einer ästhetischen Wahrnehmung; es brachte stets auch symbolisch die Teilhabe der Bewohner am städtischen Gemeinwesen und damit ihre Identität zum Ausdruck. Dass in jüngster Zeit die kommunale Selbstdarstellung über marktschreierische Bilder erfolgt, die nur Event und wirtschaftliche Standorteignung in den Vordergrund stellen und eine selektive Auswahl aus dem treffen, was an einer Stadt sichtbar sein soll, wird zu Recht kritisiert. Gerade deshalb sollte man über den Tellerrand blicken: Wie wurde beispielsweise im östlichen Europa vor, im und nach dem Sozialismus Urbanität imaginiert und ästhetisch konstruiert?
Es geht um den Umgang mit realen Orten, doch mehr noch geht es um Akte der Vorstellung. Suchte Walter Ruttmann mit seinem Montagefilm »Symphonie einer Großstadt« die Physiologie einer Stadt in Physiognomie zu verwandeln, indem er die ebenso abstrakten wie alltäglichen Rituale der in ihr lebenden oder tätigen Menschen zu strengen Kompositionen verdichtete, so setzt der vorliegende Sammelband auf eine vergleichbare Montagetechnik, um die vielschichtige Rezeption von urbanen Situationen wiederzugeben. Seine Referenzen finden sich in Literatur, Film, Fotografie und bildender Kunst; er überblendet bislang getrennte Diskurse und schlägt einen Bogen von Deutschland bis Russland, vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Andreas Guski etwa spürt der Agoraphilie in der Sowjetkultur nach, Timea Kovacs den Licht-Bildern Budapests. Inwieweit Stadtplanung als Glücksverheißung fungiert, das ergründet Arnold Bartetzky am Beispiel des Warschauer und Ostberliner Wiederaufbaus. Und unversehens wird der Leser zum Flaneur.
Robert Kaltenbrunner, in: Süddeutsche Zeitung, 11.05.2009