Gernot Ernst,
Ute Laur-Ernst
Die Stadt Berlin in der Druckgrafik
Band I: 1570-1870
Kreuzberger Nächte sind
lang – und waren der Obrigkeit schon immer ein Dorn im Auge. Zum Beispiel im
»Düsteren Keller«: In der Schankwirtschaft am Fuße des Kreuzbergs traf sich
1810 »Turnvater« Jahn mit anderen verdächtigen Gesellen, von der Berliner
Polizei argwöhnisch überwacht. Auch während der 1848er Revolution war der
»Düstere Keller«, dessen Name nicht auf die Gesinnung seiner Gäste, sondern
auf die einstige Nutzung als Lehmgrube anspielt, als konspirativer Treffpunkt
verschrien. Die Schließung des Etablissements ließ nicht lange auf sich warten.
Auf Trouvaillen wie diese stößt, wer das knapp sieben Kilo schwere zweibändige
Werk Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570–1870 von Gernot Ernst
durchblättert. 4200 druckgraphische Blätter, auf denen Berlin oder Berliner
Motive – und sei es nur winzig klein im Hintergrund – dargestellt sind, hat
Gernot Ernst akribisch zusammengetragen. Hinzu kommt das von Ernsts Frau Ute
Laur-Ernst erarbeitete Stadtbildlexikon in Band II, das in 550 Stichworten und
28 Kapiteln, von »Akademische Einrichtungen« bis »Vorstädte, Vororte/Dörfer«,
eine veritable Kulturgeschichte Berlins bis zur Reichsgründung bietet.
Konkurrenzfähig selbst im Wikipedia-Zeitalter.
Berlin gehört zu den Orten, die erst spät und zaghaft in die Kunstgeschichte
eingetreten sind. Ganz vereinzelt tauchen in den 1570er und 1590er Jahren erste
Berlin-Ansichten auf, gestochen von durchreisenden Künstlern und in
Süddeutschland oder den Niederlanden verlegt, und dann passiert bis Mitte des
17. Jahrhunderts auf künstlerischem Gebiet nicht mehr viel. Nach dem Ende des
Dreißigjährigen Krieges hatte Berlin nur noch siebentausend Einwohner, es
existierte keine höfische, geschweige denn eine bürgerliche Infrastruktur.
Umso erstaunlicher ist der künstlerische und ökonomische Aufstieg der Berliner
Druckgraphik in den darauffolgenden 150 Jahren. Bereits um 1700 zeigt sich ein
erster Höhepunkt mit den Stichen des Architekten Jean Baptiste Broebes oder der
Künstlerdynastie Biesendorf. Sie dokumentieren das durch die Bautätigkeit unter
König Friedrich I. veränderte Stadtbild oder antizipieren künftige
Großprojekte. Um 1755 erreicht die Einwohnerzahl Berlins die Marke von
Hunderttausend. Den Zeitgenossen Friedrichs des Großen galt das auf
orthogonalem Grundriss erweiterte Berlin als eine der schönsten, zumindest aber
als eine der modernsten Städte Europas. Plätze wie der Gendarmenmarkt oder das
Fragment gebliebene Forum Fridericianum Unter den Linden werden nun zu bevorzugten
Motiven der Stadtbildgraphik. In den stark verbreiteten Stichen von Johann Carl
Wilhelm Rosenberg oder Daniel Chodowiecki nahm aber auch die Darstellung des
Berliner Alltagslebens breiten Raum ein.Ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht
die Berlin-Graphik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts parallel zum
baukünstlerischen Wirken Karl Friedrich Schinkels, der ja auch ein
hervorragender Maler und Zeichner gewesen ist. Künstler wie der begnadete
Vedutenmaler Eduard Gaertner schaffen Vorlagen, die im neuen Medium der
Lithographie weite Verbreitung finden. Gaertner und Adolph Menzel entdecken
1848 die Stadt auch als Raum der politischen Aktion. Das Berlin der Kurfürsten
und Könige hatte Konkurrenz bekommen.
In den 1970er Jahren wies Irmgard Wirth, die einstige Direktorin des damaligen
Berlin-Museums, den Privatbanker und Graphiksammler Ernst auf das
Forschungsdesiderat zur Berliner Stadtbildgraphik hin. Das Vorgängerkompendium
Berlin in der graphischen Darstellung, 1937 von Werner Kiewitz publiziert,
brachte es lediglich auf 1150 Berlin-Blätter. Nach der Pensionierung hat sich
Ernst – mithilfe zahlreicher hilfsbereiter Geister in Sammlungen und Archiven
– selbst an die Erstellung einer Datenbank gemacht, die die Grundlage des Buchs
darstellt. Worauf er sich da einließ, wird der mittlerweile knapp 80-Jährige
selbst kaum geahnt haben. Und nun arbeitet er schon am Nachfolgewerk, das die
Berliner Druckgraphik bis zum Jahr 2000 erfassen soll.
2600 Blätter kann Ernst
konkreten Künstlern zuordnen, für die größtenteils erstmals ausführlichere
biographische Angaben zusammengetragen wurden. Tausend Blätter bleiben anonym,
hinzu kommen vierhundert Lithographien aus dem von Schinkel begründeten Architektonischen
Skizzenbuch und der Zeitschrift für Bauwesen sowie zweihundert
Gebrauchsgraphiken – Briefköpfe und dergleichen.
Natürlich bleibt auch hier vieles Interpretation: Warum zum Beispiel von dem
großartigen Zeichner und Karikaturisten Theodor Hosemann nur zehn Arbeiten
aufgeführt sind, wo doch fast jedes seiner Blätter auf Berlin und die Berliner
anspielt, zeigt die Grenzen der Systematik.
Dieses Buch setzt neue Standards, nicht nur für Sammler, Museumsleute,
Kunsthändler und sonstige Intensivnutzer, sondern für alle, die sich schnell,
kompetent, anschaulich – auch anhand der unzähligen abgebildeten Blätter – über
das historische Berlin informieren wollen. Man übertreibt nicht, Ernsts Opus
eine der wichtigsten Berlin-Publikationen der letzten Jahrzehnte zu nennen.
Die Erstauflage war umgehend vergriffen und in der zweiten konnten noch einige
Druck- und Flüchtigkeitsfehler behoben werden. Der relativ hohe Preis ist
angesichts des Umfangs, der hohen Abbildungsdichte und der von den Autoren
investierten Arbeit völlig angemessen.
Michael Zajonz, in: © Kunst und Auktionen 2010, Nr. 15 (13. August 2010)
Berlin ist bekannt dafür,
dass es Spuren der Geschichte deutlicher zeigt als andere Städte. Fassaden mit
Einschusslöchern, unverputzte Brandmauern, innerstädtische Brachflächen,
allerlei Leerstand wie Um- oder noch besser: Zwischengenutztes zeugen vom
überstandenen Schrecken. Die Atmosphäre der Vorläufigkeit, die Freude an
Narben, Wunden, Unvollendetem, die Lust am Brüchigen, Bröckelnden wurden in der
Clubkultur, durch Film und Architekten wie David Chipperfield zelebriert,
ästhetisch aufgewertet und popularisiert. Das ist der Geist der Gegenwart, der
jeder Moment wert scheint, verewigt zu werden.
All das aber betrifft im wesentlichen die Rasereien des 20. Jahrhunderts, das
man in Berlin in der Tat vorzüglich studieren, von seinen verheißungsvollen wie
seinen abstoßenden Seiten mit nur mäßiger Anstrengungen kennenlernen kann.
Gegenüber seiner älteren Geschichte dagegen ist die Stadt oft ignorant.
Planungen und Neubauten der Nachkriegszeit haben urbane Zusammenhänge gründlich
zerstört, Traditionsstränge sind zerrissen.
Wie stark die Gegenbewegung inzwischen geworden ist, spürt man am Ingrimm der
lokalen Architekturdebatten, in denen keine Injurie verpönt scheint. Das
Stadtmuseum ist in den vergangenen zwei, drei Jahren endlich aus seinem Schlaf
erwacht, präsentiert in der Nikolaikirche das frische Bild eines barocken,
frommen Berlin. Über das historische Viertel zwischen Schloss- und
Alexanderplatz wird wenigstens gestritten. Soll man hier DDR-Erbe respektieren
oder alte Straßenzüge rekonstruieren? Wiedergewonnene Schönheit kann man etwa
vor der Bauakademie aus Plasteplanen bewundern: Dort ist, bestückt mit den
Denkmälern der preußischen Praktiker Schinkel, Beuth und Thaer, ein herrlicher,
trotz aller Touristen meist stiller Platz erstanden. Er gleicht einer
begehbaren Vedute inmitten aufgerissener Straßen, eine Andeutung, wie viel
möglich wäre, wenn man es denn nur wollte, statt den ewig gleichen Versprechen
der ewig schäbigen Investorenarchitektur zu glauben.
In dieser Situation, in der die Stadt um ein neues Bild ihrer selbst ringt, ist
das voluminöse Ansichtenwerk »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570 – 1870«
hoch willkommen. Als die zwei Bände Ende November 2009 zum ersten Mal
erschienen, waren sie trotz der etwa sieben Kilo Gewicht und des prohibitorisch
hohen Preises unverzüglich vergriffen. In diesen Tagen wird die zweite,
durchgesehene Auflage ausgeliefert – und man könnte darauf wetten, dass dieses
Werk für die Berliner, die alten wie die zugezogenen, bald so wichtig werden
wird wie Fritz Löfflers »Das alte Dresden« für die Dresdner und ihre
Träumereien.
Der Bankier Gernot Ernst stieß als Sammler auf das Thema. Bei Nachfragen wieder
verwies man ihn immer wieder auf das Handbuch »Berlin in der graphischen Darstellung«,
das Werner Kiewitz 1937 herausgegeben hatte. Dieses aber war unvollständig und
vielfach überholt. Gernot Ernst nahm, wohl halb nur wissend, worauf er sich
einließ, die Herausforderung an: Kiewitz kannte 1150 Blätter, Ernst weist nun
4200 nach, auf denen – in welcher Form auch immer – das Stadtbild dargestellt
ist. Herrscherporträts mit Ausblicken in die Stadt sind ebenso aufgenommen wie
Firmenbriefpapier, wenn darauf Fabrikgebäude zu sehen sind. 2600 Werke kann
Ernst 570 Künstlern zuordnen. Die anderen bleiben – vorerst – anonym. Ein
Großteil der Kupfer- oder Stahlstiche, Radierungen, Holzschnitte, Lithographien
ist in den beiden Bänden abgebildet, eine beigegebene DVD bringt weitere
Ansichten.
Das ist ein Werk der Superlative, aber man sollte es nicht in erster Linie
unter sportiven Gesichtspunkten betrachten. Die gewaltige Leistung überzeugt,
weil sie eine Schatzkammer der Kulturgeschichte eröffnet. Der erste Band ist
nach Künstlern geordnet, der zweite thematisch. Da ist vieles zu entdecken, etwa
ein »Berliner Lebens- und Vergnügungs-Plan« aus dem Jahr 1875: »Der Frühling
möge hold Dir blüh'n, /Der Sommer bringe Landparthie'n! / Im Herbst sei froh
bei Bier und Wein, / Im Winter rieht zum Tantz Dich ein!«
Jeder mag auf diesem Plan nun seinen Weg von Moabit nach Treptow finden, mag
entscheiden, ob er beim Victoria-Theater oder im Kriegsministerium vorbei
schauen oder lieber ins Damenbad will. Der Plan lässt sich dank des zweiten
Bandes, den Ute Laur-Ernst erarbeitet hat, aufs schönste vertiefen. Da kann man
nachschlagen, wie es wo aussah. Das »Stadtbildlexikon« erfasst in 550
Stichworten akademische Einrichtungen und Vergnügungsorte, Plätze, Kasernen,
Gesandtschaften, Schlösser, Waisenhäuser und Parks.
Formuliert wird knapp und deutlich, mit Ausblicken in die Gegenwart: »Heute«,
heißt es da über den unter Friedrich Wilhelm I. angelegten Wilhelmsplatz,
»armseliger, verbauter Platz am alten Ort, jetzt Zietenplatz genannt«.
Dieses Stadtbildlexikon gleicht einem Handbuch des Verschwundenen, es lädt auch
ein, den eigenen, individuellen Stadtplan historisch informiert nachzuzeichnen.
Um Biographien und Lebenswelten, etwa die Kleists, der Humboldts oder Fontanes
zu verstehen, ist das Lexikon die beste Veranschaulichungshilfe. Man versteht
beim Blättern, warum Besucher um 1800, als Berlin für Neugierige und Reisende
attraktiv wurde, sich wunderten über die Leere der breiten Straßen und das
geringe Alter der meisten Bauten. Der Aufstieg der Stadt hatte spät begonnen
und war lange unsicher erschienen. Die erste zeichnerische Darstellung von
Berlin/Cölln stammt aus dem Jahr 1536/37. Sie ist das Werk eines unbekannten
Zeichners, der den Herzog Ottheinrich von Pfalz-Neuburg auf der Reise von
Neuburg über Prag nach Krakau und zurück über Berlin begleitet und dabei auf
Blättern 70 Ortschaften festgehalten hatte. Die erste eigenständige
druckgrafische Gesamtansicht ist ein kolorierter Kupferstich Merians aus dem
Jahr 1652. Die weitaus meisten Darstellungen kommen aus den Jahren zwischen den
Befreiungskriegen und der 48er Revolution.
Die Dynamik der Stadtentwicklung ist auf den Bildern kaum zu erkennen. Nach dem
Dreißigjährigen Krieg, der in Brandenburg besonders verheerend gewütet hatte,
im Jahr 1648 lebten hier noch 7000 Menschen, ein Häuflein in ärmlicher
Randlage. 1709 zählte man bereits 55000, 1755 100 000 Einwohner. Ende des 18.
Jahrhunderts war die Stadt eine Residenz- und Bürgerstadt von europäischem
Rang, ohne freilich Größe und urbane Dichte von London, Paris oder Neapel zu
erreichen.
Der Überblick in Stadtansichten endet um 1870. Berlin schickt sich an,
Millionenstadt zu werden. Industriealisierung und altpreußische Adelskultur,
Oper, Bürgertum und Schwoof, der Hof und die Händler existieren, meist
friedlich, nebeneinander. Schon wenige Jahre später beginnt der Umbau der
Stadt, die für die Massengesellschaft gerüstet und tauglich gemacht werden
muss. Die meisten baulichen Zeugen preußischer Geschichte fallen dann unter
Wilhelm II. Unter ihm wird das »ewige Werden« zum Markenzeichen, seine Jahre
prägen das neue Gesicht der Stadt und prägen sie in den Grundzügen bis heute.
Man kann dieses Lexikon der Künstler und Schauplätze auf sehr verschiedene Art
nutzen: Seine luzide Einführung hat Gernot Ernst sinnvollerweise nach den
Herrschern gegliedert, von denen jeder
das Stadtbild
charakteristisch veränderte. Man kann aber auch nach dramatischen Ereignissen
suchen: der Besetzung durch die Russen, 1760, dem Einmarsch der Franzosen,
1806, dem Barrikaden-Wirrwarr im März 1848, dem Einsturz des Münzturms, dem
Brand der Petri-Kirche und dem Brand des Schauspielhauses. Man kann Huldigungen
vergleichen und Theater, eine kleine Denkmalkunde entwickeln und nur staunen,
zu welch' festlichen Aufschwüngen das großstädtische Amüsiergewerbe in der Lage
war, als es sich noch an höfischen Festen orientierte. Unter den Künstler
findet man die großen, erwarteten Namen: Schinkel, Eduard Gaertner, Franz
Krueger, Adolph Menzel, daneben viele, von denen man höchstens zufällig einmal
etwas hörte. Sehr effektbewusste sind darunter. Es hat wenig Sinn, dem
Verlorenen nachzutrauern, aber kennen sollte man es. Diese Bände bieten
Stadtgeschichte als eine vergnüglichen Landpartie durch das Großdorf an der
Spree. Gernot Ernst arbeitet inzwischen am Folgeband, der die Jahre von der
Reichseinigung bis 2000 umfassen soll.
Jens Bisky, in: Süddeutsche Zeitung, 26.
April 2010
Dieses »Berliner
Bilderbuch« hat Gewicht und ist auch eine kleine Sensation: Der Doppelband »Die
Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570-1870« ist eine bibliophile Kostbarkeit und
gleichzeitig eine Fundgrube für jeden Liebhaber oder Kenner der Berliner
Stadtgeschichte. Sieben Kilo schwer und mit über 1500 Seiten will das »neue
Standardwerk«, wie der Berliner Lukas-Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte
seine Neuerscheinung stolz ankündigt, erstmals so umfassend die Werke der
grafischen Künstler ihrer Zeit mit den von ihnen geschaffenen Berlin-Ansichten
vorstellen, samt einem informativen Künstlerlexikon mit 560 Kurzbiografien der
Zeichner, Stecher und Lithografen. Künstler als Zeitzeugen sozusagen, die
allerdings ihre Werke selbst oft nicht datierten und deren Lebensdaten daher
für diesen Band genau recherchiert wurden. Ein zweiter Band bis zum Jahr 2000
ist geplant.
Seit Friedrich Nicolai (1786) sei das Wissen über die Arbeit dieser künstlerischen
Stadtchronisten nicht mehr systematisch festgehalten worden, heißt es im
Vorwort des Doppelbandes. Berlin-Grafiken aus unterschiedlichen Epochen also
auch als unschätzbare Zeitdokumente. Wer sich in diese Arbeit der Sammler
Gernot Ernst und Ute Laur-Ernst vertieft, geht auf eine spannende Zeitreise und
erlebt mit 4200 Grafiken und ausführlichen Erläuterungen eine lebendige
Stadtgeschichte auch aus kultureller und wirtschaftlich-sozialer Sicht. Die
jetzt präsentierten Arbeiten stammen aus der brandenburgisch-preußischen
Epoche, in der sich Berlin auf den Weg machte, sich von einer kurfürstlichen
Residenzstadt langsam auch zu einem politischen Zentrum – 1871 wurde Berlin
schließlich Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches – und beachteten
europäischen Kulturzentrum zu »mausern«.
Dass Berlin vor allem auch immer eine Stadt der Veränderung war, dokumentieren
viele der hierfestgehaltenen Stadtansichten aus früheren Jahren. Da gibt es die
Stüler-Zeichnung über »den neuen Dom in Berlin« von 1865 gegenüber dem Schloss
als Entwurf, der nie realisiert wurde. Stattdessen wurde anstelle des –
immerhin von Schinkel – umgebauten Vorgängerbaus an der Schwelle zum 20.
Jahrhundert ein wilhelminischer Prunkbau als Hofkirche der Hohenzollern
errichtet, die auf den Wiederaufbau des benachbarten Schlosses als
städtebauliches Pendant noch eine Weile warten muss. Von 1862 stammt der
Aquarell-Blick von Eduard Gaertner in die monumentale Säulenhalle mit dem
Pharao in der Ägyptischen Abteilung des Neuen Museums, das nach den Kriegszerstörungen
im vergangenen Oktober auf der Berliner Museumsinsel gerade erst wiedereröffnet
worden ist.
Die Bilder zeigen das Auf und Ab vieler bedeutender Berliner Häuser wie zum
Beispiel das Palais des Prinzen Heinrich Unter den Linden (die Stadtresidenz des
Bruders Friedrich des Großen), in dem 1809/10 die Berliner Universität
gegründet wurde, die seit 1949 Humboldt-Universität heißt. Aber natürlich geht
es auch um viel »profanere« Stadtbilder, um das »Innenleben« der Metropole –
wer wohnte wo, und was geschah in den abgebildeten Häusern? Reizvoll ist auch
die »Suchbildfrage«, ob der jeweilige Künstler wirklich die in Stein gemauerte
Architektur abgebildet oder eher das idealisierte Wunschbild eines Ortes
erfunden und dabei womöglich auch noch alte Vorbilder »abgekupfert« hat.
Der Doppelband ist
natürlich auch ein fundierter Quellenschatz für Architekten, Denkmalschützer
und Stadthistoriker zum Beispiel auch bei Stadtrekonstruktionsprojekten in der
alten neuen deutschen Hauptstadt. Beigetragen haben dazu auch die Schätze der
Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit ihrer Staatsbibliothek und ihrem
Kupferstichkabinett und ein Mann wie der Berliner Verleger Dieter Beuermann,
dem früheren Eigentümer der Berliner Nicolaischen Verlagsbuchhandlung und damit
auch ein ausgewiesener Kenner der Materie dieses opulenten Druckgrafik-Bandes.
Wilfried Mommert, in: Die Berliner Literaturkritik, 14.12.2009
Vor gut 350 Jahren war
Berlin ein durch den Dreißig-jährigen Krieg ruiniertes Nest. Ohne Universität,
ohne kulturelle Leuchttürme und ohne sonstige Glanzlichter, Berlin aber war
Residenzstadt, wenn auch keine besonders wichtige, die mit Friedrich Wilhelm
einen Kurfürsten beherbergte, der eisern entschlossen war, sowohl seine durch
den langen Krieg ausgeblutete Mark als auch Berlin aus der Bedeutungslosigkeit
zu reißen. Nur 200 Jahre brauchten er und seine Nachfolger, um aus Preußen eine
Großmacht, den ersten unter den deutschen Staaten zu machen und Berlin zur
wichtigsten, größten Metropole Deutschlands auszubauen.
Der Aufstieg dieser Stadt ist oft und ausführlich besprochen worden. Gcrnot
Ernst hat die Berlin-Literatur nun um ein weiteres Werk bereichert, das
allerdings den Rahmen der üblichen Hauptstadt-Lektüre sprengt. Sein Verleger
Frank Böttcher, Inhaber des Lukas Verlages, nennt das Mammut-Projekt ein
Jahrhundert-Buch. Mit »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik« legt Ernst zusammen
mit seiner Frau Ute Laur-Ernsl einen sieben Kilogramm schweren Doppelband vor.
der so ausführlich wie noch nie den Bestand der Berlin-Drucke zusammenfasst.
Verlag und Autor haben damit offenbar den Nerv der Leser getroffen. Trotz des
stattlichen Preises war die erste Auflage des Standardwerkes nach nur drei
Wochen vergriffen. Zurzeit wird die zweite vorbereitet, die ab Anfang März zu
bekommen ist. Bis Ende des Jahres kann sie zum Subskriptionspreis von 190 statt
später 240 Euro vorgemerkt werden.
Dem Ehepaar Ernst ist mit dem Doppclband ein wirklichkeitsnahes Bild gelungen,
wie sich Berlin und das Leben dort zwischen 1570 und 1870 verändern, wie aus
der mittelalterlichen Stadt eine Metropole wächst und die sich ans Wasser
duckenden Fischerhütten den Palais’ des aufstrebenden Bürgertums
weichen. Berlin wird als Ort porträtiert, der ständigen Veränderungen
unterworfen ist, der nie zur Ruhe kommen darf, der mit der industriellen
Revolution immer neue Stadtteile ausschwitzt und die ländliche Idylle um sich
aufsaugt mit einem unstillbaren Hunger nach Raum.
Der Aufstieg Berlins folgt aber keiner Route, auf der es immer nur unbeirrt
nach oben geht. Berlin ist, auch das verschweigen die Drucke nicht, oft eine
verstümmelte, verbaute, vernachlässigte Schönheit gewesen. Der Glanz, der sich
mit der ausufernden Bautätigkeit König Friedrichs I. und mit den von ihm
gegründeten Akademien der Künste und der Wissenschaften über die Stadt legt,
währt kaum über seinen Tod hinaus. Sein Sohn Friedrich Wilhelm I. macht aus dem
schöngeistigen Spreeathen eine Kaserne, in die unter Friedrich II.
aufklärerischer Wind hineinweht, der Künstler wie Daniel Chodowiecki oder
Antoine Pesne beflügelt.
Sie und die Kollegen, die vor und nach ihnen kommen, haben in ihren
Lithografien, Kupfer- und Stahlstichen das alte Berlin für die Ewigkeit
eingefroren, ohne dabei auf ihre persönliche Handschrift zu verzichten, wie die
holländischen Meister, die die Spree gern aufschäumen und mit vielen Schiffen garnieren,
als hätten sie vor einer Stadt am Meer gesessen. Der vielleicht schönste dieser
maritimen Drucke ist Michael Maderstegs Stich der Liburnica, der Yacht
Friedrich I., die der Holländer für den Preußenkönig entwirft.
Andere Künstler fühlen sich von den imposanten Kulissen Berlins angezogen oder,
wie Christian Gottfried Matthes, von den Dörfern vor der Stadt, von der
Einsamkeit in Pankow, Lichtenberg oder Tempelhof. Die Stecher haben festgehalten,
wie das Denkmal für Friedrich II., das heute noch Unter den Linden steht,
eingeweiht wird. Sie zeigen die Berliner, wie sie unter den Zelten im
Tiergarten oder über den Weihnachtsmarkt bummeln, wie sie mit ihren Droschken
am Schauspielhaus vorfahren, wie sie 1848 auf die Barrikaden gehen und wie die
Stadt in diesen blutigen Kämpfen ihre Unschuld verliert.
Wenige Grafiker waren dabei so eng mit Berlin verwachsen wie der Hofmaler
Benjamin Calau, von dem alle über 200 Werke in dem von Gernot Ernst als Künsllerlexikon
angelegten ersten Band aufgelistet sind. Darin finden sich auch bekannte Namen
wie Schinkel, Rauch, Schadow, Stüler und Schlüter – alles nicht nur begabte
Zeichner, sondern auch begnadete Architekten. Denn die Druckgrafik war immer
auch Gebrauchskunst, wurde benutzt für architektonische Entwürfe, für Plakate
und Mitteilungsblätter. Trotzdem erstickt Ernsts Darstellung nicht unter der
Fülle und dem Facettenreichtum des Materials. Die Aufteilung in zwei Bände, in
ein Künstler- und ein Stadlbildlexikon, das von den akademischen Einrichtungen
bis zu den Vergnügungsorten der Berliner reicht, hilft, diese Vielfalt zu
systematisieren.
Auf Systematik, auf die Ordnung der Dinge legt Gernot Ernst den größten Wert.
Sie war schließlich auch der Grund, weshalb er dieses Großprojekt in Angriff
genommen hatte. Er haderte mit einer gewissen Unordnung in der Überlieferung
der Berliner Druckgrafik. Schon in den 1970er-Jahren stieß sich der
Sammler daran, dass sich für einige seiner Drucke
keine zuverlässigen Angaben zu der Datierung und den Künstlern finden ließen.
Selbst Irmgard Wirth, die damalige Leiterin des Berlin Museums, konnte nicht
immer weiterhelfen und verwies auf Werner Kiewitz' Handbuch »Berlin in der
Druckgrafik« von 1937. Andere Literatur zu dem Thema gab es nicht. Aber dieser
Band hatte Lücken. 30 Jahre ließ Gernot Ernst den Plan in sich reifen, Kiewitz'
Werk fortzuschreiben. Als er im Ruhestand war, hat er damit begonnen. Mit 67
Jahren ließ er sich von Uwe Rudolph zeigen, wie man mit einem Laptop umgeht,
Der Informatiker entwickelte für ihn eine Datenbank zu Systematisicrung der
Bestände der Berlin-Drucke. 4000 hat Ernst in seinem Buch erfasst. Dreimal mehr
als Kiewilz.
Vor vier Jahren haben er und seine Frau damit begonnen, aus dem geordneten
Material ein Buch zu machen. »Dazu braucht man Organisation, Disziplin und
Engagement«, sagt der Ex-Unternehmer. Er weiß nicht, ob er das alles noch
einmal aufbringen und die Geschichte der Berliner Druckgrafik nach 1870
fortschreiben kann. »Ich bin jetzt 78«, gibt er zu Bedenken.
Uwe Stiehler, in: Märkische Oderzeitung, 12./13. Dezember 2009
Gleich sieben Kilo bringen
die beiden Bände auf die Waage; noch gewichtiger aber ist ihr Inhalt: Gernot
Ernst und Ute Laur-Ernst bündeln in ihrer Dokumentation »Die Stadt Berlin in
der Druckgrafik 1570-1870« jahrzehntelange Forschungen über ein nur auf den
ersten Blick abseitiges Thema. Ihr Buch hat beste Chancen auf den inoffiziellen
Titel »Wichtigstes Berlin-Buch des Jahres«. Im ersten Band ordnet Gernot Ernst
mehr als 4200 Grafiken, darunter praktisch alle in unzähligen Bildbänden
gedruckte Motive, aber noch viel mehr vergessene Werke der Gebrauchskunst,
ihren Schöpfern zu. Man kann hier zahllose Entdeckungen machen. Die eigentliche
Sensation aber ist der zweite Band, ein Stadtbildlexikon für
Berlin in den drei Jahrhunderten seines Aufstiegs von der Provinzsiedlung zur
Hauptstadt des Deutschen Reichs, in dem Ute Laur-Ernst anhand von 550 meist
knappen Gebäude-Porträts die Historie der Stadt erzählt. Für Berlin-Fans eine Fundgrube,
trotz des enormen, aber eben doch angemessenen Preises.
Sven-Felix Kellerhoff, in: Berliner
Morgenpost und in: WELT, 24. November 2009
Über
Berlins Vergangenheit wird heftig diskutiert, wenn auch nicht immer kenntnisreich.
Wo die ursprüngliche Mitte der Stadt lag, ist auf dem Stadtplan seit
Jahrzehnten nicht mehr aufzufinden. Aber auch diejenigen, die sich die Rückkehr
zur Geschichte auf die Fahnen geschrieben haben, tappen oft im Dunkeln.
Bemühungen, den alten Stadtgrundriss sichtbar zu machen, stoßen auf
Unverständnis. Außer dem Hohenzollernschloss scheint es nichts Berlinisches
mehr zu geben, das aus versunkenen Zeiten zumindest als Bild zu uns
herüberreicht.
In dieser Situation einer eher diffusen Geschichtserinnerung kommt das
gewichtige Werk wie gerufen: »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570 – 1870«
sind die beiden Bände überschrieben, die nicht weniger als 4200 Beispiele
berolinischer Grafik enthalten. Gernot Ernst, ein Amateur im besten Sinne des Wortes,
ein Liebhaber der grafischen Künste neben seinem Hauptberuf als Unternehmer,
trug sich seit Jahrzehnten mit dem Gedanken, die bis dahin einzige Übersicht
über Berliner Grafik aus dem Jahr 1937 endlich auf zeitgemäßen Stand zu
bringen.
Mit Unterstützung modernster Datenbanken und hilfreicher Geister in allen
wichtigen Archiven und Museen konnte Ernst endlich sein großes Vorhaben
realisieren. Über die Kosten eines solchen im Grunde unbezahlbaren Unternehmens
schweigt er sich hörbar aus: »Ohne eigenes finanzielles Engagement und hohe
persönliche Motivation lässt es sich nicht realisieren.« Es bleibt die Frage,
warum in siebzig Jahren keine öffentliche Einrichtung sich zu diesem Projekt
eines ideellen Gesamtkatalogs hat durchringen können.
Nun sind die 4200 Grafiken durchaus nicht fokussiert auf die Ansicht der Stadt.
Sie bilden kein Panorama Berlins durch drei Jahrhunderte hindurch; überhaupt
rangiert der Anteil von Stadtansichten erst nach denjenigen der Porträts und
der Ereignisdarstellungen. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
der letzten Blütezeit der Grafik vor der Erfindung der Fotografie, nehmen die
Stadtveduten wirklich breiten Raum ein, ohne jedoch den Anteil der damals
hochbeliebten Stichreproduktionen berühmter Gemälde quantitativ zu verdrängen.
In älteren Zeiten dominieren prachtvolle Gesamtansichten, die die Herrlichkeit
der brandenburgisch-preußischen Hauptstadt demonstrieren sollten, zumal nach
der Erhebung Preußens zum Königreich im Jahr 1701, mit der der überaus
anspruchsvolle Bau des Schlüter’schen Schlosses korrespondiert. So gibt
Jean-Baptiste Broebes, Professor für Architektur an der Akademie, 1733 eine
Ansicht des »Königlichen Platzes«. Wäre darauf nicht das Zeughaus zu
entziffern, man wüsste nicht, welches Architekturcapriccio man vor sich hätte,
stimmt doch nahezu nichts mit dem realen Schloss damaliger oder späterer Tage
überein.
Der Betrachter sei also gewarnt, die Blätter zum Nennwert zu nehmen. Erst im
19. Jahrhundert zählt topografische Genauigkeit zu den Tugenden. Vielfach
lässt sich verfolgen, wie grandios das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten
auf der Langen Brücke gewirkt haben muss, vor der Folie des Stadtschlosses, das
seit 1845 von Stülers Kuppel bekrönt wurde. Diese Perspektive spielt im
gegenwärtigen Streit ums Schloss keine Rolle; und auch ein solcher
Perspektivwechsel ist von Interesse, zeigt er doch die sich wandelnde Bedeutung
einzelner Stadträume. Die Lange Brücke ist seit der Verlängerung der
Linden-Achse über die Spree hinweg, der heutigen Karl-Liebknecht- Straße, ihrer
einstigen Rolle als wichtigster Flussübergang beraubt.
Der zweite Band, bearbeitet von Ute Laur-Ernst, ist dann die wahre Fundgrube
für den Berlinbegeisterten. 550 topografische Stichworte sind zu Themen
gebündelt, wie »Banken, Börse, Münze« oder »Stadttore, Stadtmauer«. Hier wird
das Übergewicht des 19. Jahrhunderts evident – eine Epoche, in der das
Bewusstsein der Geschichtlichkeit alles überwog. Auch das Neue wirkt auf diesen
Veduten bereits wie längst Vergangenes. Wilhelm Loeillot beispielsweise, von
dem allein 105 Grafiken verzeichnet werden, zeigt das nagelneue Neue Museum von
der Burgstraße mit Blick über die Friedrichsbrücke hinweg – und dem
aufschlussreichen Detail eines rauchenden Schornsteins am Ufer der
Museumsinsel. Kultur und Manufakturwesen koexistierten einige Jahrzehnte, ehe
im 20. Jahrhundert auch die letzten Spuren – Schinkels Salzamt auf der
Kupfergrabenseite – beseitigt wurden.
Ist der erste Band den Grafikern in chronologischer Ordnung gewidmet, so steckt
der zweite voll unausschöpflicher Detailinformationen zu jedem Bauwerk, zu
jeder Ecke der Stadt, so sie denn jemals zu bildlicher Darstellung gelangten.
Übrigens ist bei vielen Blättern als »Standort«, sprich Eigentumsangabe,
vermerkt: »Berlin-Sammler«. Nach der Lektüre dieses Werks kann man die
Leidenschaft der Anonymi nur allzu gut verstehen.
Bernhard Schulz, in: Tagesspiegel am 22.
November 2009
Wer hat schon einmal vom Orpheum gehört? In der Alten
Jakobstraße, einer heute wenig anheimelnden Gegend, befand sich in der Mitte
des 19. Jahrhunderts das beliebte Tanzhaus. Es war ein prachtvoller
Ballsaal, wo die Berliner ihrer Partylaune frönten. Eine einzige bekannte
Abbildung gibt es von dem 1877 geschlossenen Etablissement. Bislang hätte man
sie allenfalls durch Zufall finden können, jetzt ist sie in Gernot und Laura
Ernsts wunderbarem Buch, das soeben erschien und am Montag der Öffentlichkeit
vorgestellt wird, bequem und auf Anhieb erreichbar.
Oder kennt jemand das Viktoria-Theater in der
Münzstraße? 1881 fand hier noch die Berliner Erstaufführung von Richard Wagners
»Ring« statt, aber schon zehn Jahre später wurde es abgerissen. Berlin ist eine
Stadt im ständigen Wandel, das war schon immer so. Was hier heute erstaunt und
erfreut, wird wenige Jahrzehnte später bedenkenlos wieder zerstört. Tradition
kann so nicht entstehen. Daher war schon vor dem Ersten Weltkrieg das alte
Berlin zu großen Teilen dem Bauboom der Gründerzeit zum Opfer gefallen. Niemand
konnte sich in den Zwanzigern noch vorstellen, wie 1815 der Alexanderplatz
ausgesehen hatte: eine beschauliche, fast provinziell anmutende Ansammlung
halbhoher Häuser. Dort lag das Königsstädtische Theater, das später ein Lokal
von Aschinger wurde.
Erst recht werden selbst eingefleischte Berliner kaum ahnen, wie das
berüchtigte Rollbergviertel, die Bronx von Neukölln, einmal aussah. Ein
Kupferstich von 1802 zeigt das Dorf Rixdorf, eine kleine Ansiedlung verstreuter
Häuser, im Hintergrund die idyllischen Rollberge. Dort, wo sich heute türkische
und arabische Jugendgangs bekriegen, konnte man höchstens auf einem Kuhfladen
ausrutschen. Wie alle europäischen Metropolen explodierte Berlin im
19. Jahrhundert, wurde zum ausufernden steinernen Meer, das gnadenlos das
Stadt-und Landbild des Barocks und des Biedermeiers verschlang.
Will vielleicht noch jemand wissen, wie man im Berlin der Fontane-Zeit
logierte? Kein Problem, im Kapitel »Hotels, Gasthöfe« sind sie aufgeführt und
vor allem auch abgebildet: das Hotel de Russie, wo Goethe und Schiller
unterkamen, das Hotel de Rome (gab es also damals schon), das Hotel de Londres
– was elegant sein wollte, musste französisch klingen. Und die Ursprünge des
Berliner Taxiwesens? Die sind ebenso leicht gefunden, unter »Droschkenanstalt«,
die der Pferdehändler Mortgen 1814 mit Königsprivileg gründete. Die ersten
dreißig Kutschen kamen aus Warschau, weil die Berliner Stellmacher nicht so
viele liefern konnten. Damit fuhr man dann in Gersons Warenlager am Werderschen
Markt, das erste Luxuskaufhaus der Stadt. Oder man ließ sich zu Welpers
Badehaus an der Museumsinsel bringen, einem innovativen, 1802 eröffnete
Wellness-Tempel, der Schule machte und 1830 schon dreißig Nachahmer zählte.
Alle diese Wege einer verlorenen Welt können wir jetzt in dem Doppelband
nachverfolgen.
Heute träumt Berlin am liebsten von den vermeintlich so goldenen Zwanzigern,
zunehmend auch vom Historismus der Kaiserzeit. Aus diesen Epochen gibt es
zahllose Fotografien, auch Filmaufnahmen, die das Zerstörte in unserer
Vorstellung wiedererwecken können. Die Zeit vor dem Aufschwung der Fotografie,
die in Deutschland ungefähr mit der Gründung des Kaiserreichs 1871
zusammenfällt, ist in druckgrafischen Ansichten überliefert. Manches etwa aus
der Zeit Friedrichs des Großen oder der Schinkel-Epoche ist hinlänglich
bekannt. Wie viele solcher Stadtbilder es aber aus dem alten Berlin noch gibt,
davon hatten wir alle bislang keine Ahnung. Nun sind sie dem Vergessen
entrissen, und es ist keine Übertreibung, das Buch von Gernot und Ute Ernst als
eine der wichtigsten Berlin-Publikationen der letzten Jahrzehnte zu rühmen.
Gernot Ernst hat alle nur irgendwie erreichbaren druckgrafischen Ansichten vom
16. Jahrhundert bis 1870 aufgespürt, geordnet, erforscht und zu einem
schier unerschöpflichen Bilder- und Geschichtsbuch aufbereitet. Der heute
78-jährige Bankier kam als Sammler der Berliner Druckgrafik zu dem Thema. Schon
in den späten Siebzigern hatte ihm Irmgard Wirth, die damalige Direktorin des
Berlin-Museums, erklärt, dass man über die Berliner Stadtansichten nur das
wisse, was Werner Kiewitz 1937 in seinem schmalen Band »Berlin in der
grafischen Darstellung« versammelt hatte. Das hat Ernst nie vergessen und als
er die Zeit dafür fand, machte er sich an die Herkulesarbeit.
Das Ergebnis seiner Bemühungen ist gewaltig. Während Kiewitz 1150 Blätter
kannte, weist Ernst jetzt 4200 Holzschnitte, Kupfer-und Stahlstiche,
Radierungen und Lithografien nach, auf denen das Berliner Stadtbild nur
irgendwie dargestellt ist. 2600 Werke kann er 570 Künstlern zuordnen, die er
mit allen Grafiken in einem monumentalen Künstlerlexikon aufführt. Zudem gibt
es 1000 anonyme Blätter sowie 400 Veduten in Sammelwerken, Zeitschriften und
als Gebrauchsgrafik. Alles nimmt der Autor als Bildquelle ernst: Ereignisbilder
wie zum Einmarsch Napoleons oder dem Barrikadenkampf 1848, Karikaturen oder
Souveniralben. Ein Großteil der Stadtbilder ist in den zwei Bänden abgedruckt.
Das erklärt den Preis, der leider ein Makel des Buchs ist.
Für viele der Künstler konnte Ernst überhaupt erstmals Lebensdaten ermitteln;
dafür durchkämmte er Kirchenbücher, Adressbücher und die Schülerlisten der
Akademie. Ganze Künstlerdynastien sind dabei zum Vorschein gekommen, etwa die
Familie Biesendorf, die im 17. und frühen 18. Jahrhundert im Dienste der
Kurfürsten und Könige stand. Vor einigen Jahren stieg auch Ernsts Ehefrau Ute,
von Haus aus Psychologin, in das Projekt ein und erarbeitete ein
»Stadtbildlexikon«.
Auf mehr als 400 Seiten erzählt sie die Geschichten aller Stadtviertel, Plätze
und Gebäude, die auf den Grafiken dargestellt sind. Vom königlichen Schloss bis
zum Bürgerhaus, vom ersten Bahnhof bis zu den Vergnügungsstätten, das Diorama
als Vorform des Kinos, die vielen untergegangenen Kirchen und Synagogen,
Hospitäler und Armenhäuser; Brücken, Theater und die Dörfer vor den Toren – das
alles bietet dieser gewaltige Stadtspaziergang jetzt in Buchform. Durch
Register und Verweise lassen sich alle Abbildungen eines Ortes schnell finden,
ebenso die Gesamtproduktion eines Künstlers oder die Bewohner, die in den
dargestellten Bauten lebten.
Dieses Buch kommt zur rechten Zeit, denn es setzt jeder falschen Nostalgie die
echten Bilder entgegen. Das Schloss soll rekonstruiert werden, ohne dass die
selbsternannten Borussen wirklich seine historische Gestalt kennen. Schon
träumen Nostalgiker davon, die alte Stadt wiederzuerwecken. Wie dieses
untergegangene Berlin überhaupt aussah, das können wir jetzt erstmals bis ins
Detail sehen. Gernot Ernst will übrigens weiterarbeiten. Bis ins Jahr 2000 hat
er die druckgrafischen Stadtbilder schon gesammelt.
Sebastian Preuss, in: Berliner Zeitung,
21./22. November 2009