Gernot Ernst, Ute Laur-Ernst

Die Stadt Berlin in der Druckgrafik

Band I: 1570-1870

 

 

 

Kreuzberger Nächte sind lang – und waren der Obrigkeit schon immer ein Dorn im Auge. Zum Beispiel im »Düsteren Keller«: In der Schank­wirtschaft am Fuße des Kreuzbergs traf sich 1810 »Turnvater« Jahn mit anderen verdächtigen Gesellen, von der Berliner Polizei argwöh­nisch überwacht. Auch während der 1848er Revolution war der »Düstere Kel­ler«, dessen Name nicht auf die Gesinnung seiner Gäste, sondern auf die eins­tige Nutzung als Lehmgrube anspielt, als konspirativer Treffpunkt verschrien. Die Schließung des Etablissements ließ nicht lange auf sich warten.
Auf Trouvaillen wie diese stößt, wer das knapp sieben Kilo schwere zwei­bändige Werk Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570–1870 von Gernot Ernst durchblättert. 4200 druckgraphische Blätter, auf denen Berlin oder Berliner Motive – und sei es nur winzig klein im Hintergrund – dargestellt sind, hat Gernot Ernst akribisch zusammengetragen. Hinzu kommt das von Ernsts Frau Ute Laur-Ernst erarbeitete Stadtbildlexikon in Band II, das in 550 Stichworten und 28 Kapiteln, von »Akademische Einrichtungen« bis »Vorstädte, Vororte/Dörfer«, eine veritable Kulturgeschichte Berlins bis zur Reichsgründung bie­tet. Konkurrenzfähig selbst im Wikipedia-Zeitalter.
Berlin gehört zu den Orten, die erst spät und zaghaft in die Kunstgeschichte eingetreten sind. Ganz vereinzelt tauchen in den 1570er und 1590er Jahren erste Berlin-Ansichten auf, gestochen von durchreisenden Künstlern und in Süddeutschland oder den Niederlanden verlegt, und dann passiert bis Mitte des 17. Jahrhunderts auf künstlerischem Gebiet nicht mehr viel. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges hatte Berlin nur noch siebentausend Ein­wohner, es existierte keine höfische, geschweige denn eine bürgerliche Infra­struktur. Umso erstaunlicher ist der künstlerische und ökonomische Aufstieg der Berliner Druckgraphik in den darauffolgenden 150 Jahren. Bereits um 1700 zeigt sich ein erster Höhepunkt mit den Stichen des Architekten Jean Baptiste Broebes oder der Künstlerdynastie Biesendorf. Sie dokumentieren das durch die Bautätigkeit unter König Friedrich I. veränderte Stadtbild oder antizipieren künftige Großprojekte. Um 1755 erreicht die Einwohnerzahl Berlins die Marke von Hunderttausend. Den Zeitgenossen Friedrichs des Großen galt das auf orthogonalem Grundriss erweiterte Berlin als eine der schönsten, zumindest aber als eine der modernsten Städte Europas. Plätze wie der Gen­darmenmarkt oder das Fragment gebliebene Forum Fridericianum Unter den Linden werden nun zu bevorzugten Motiven der Stadtbildgraphik. In den stark verbreiteten Stichen von Johann Carl Wilhelm Rosenberg oder Daniel Chodowiecki nahm aber auch die Darstellung des Berliner Alltagslebens breiten Raum ein.Ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht die Berlin-Graphik im ers­ten Drittel des 19. Jahrhunderts parallel zum baukünstlerischen Wirken Karl Friedrich Schinkels, der ja auch ein hervorragender Maler und Zeichner ge­wesen ist. Künstler wie der begnadete Vedutenmaler Eduard Gaertner schaf­fen Vorlagen, die im neuen Medium der Lithographie weite Verbreitung fin­den. Gaertner und Adolph Menzel entdecken 1848 die Stadt auch als Raum der politischen Aktion. Das Berlin der Kurfürsten und Könige hatte Konkur­renz bekommen.
In den 1970er Jahren wies Irmgard Wirth, die einstige Direktorin des dama­ligen Berlin-Museums, den Privatbanker und Graphiksammler Ernst auf das Forschungsdesiderat zur Berliner Stadtbildgraphik hin. Das Vorgängerkom­pendium Berlin in der graphischen Darstellung, 1937 von Werner Kiewitz publi­ziert, brachte es lediglich auf 1150 Berlin-Blätter. Nach der Pensionierung hat sich Ernst – mithilfe zahlreicher hilfsbereiter Geister in Sammlungen und Ar­chiven – selbst an die Erstellung einer Datenbank gemacht, die die Grundlage des Buchs darstellt. Worauf er sich da einließ, wird der mittlerweile knapp 80-Jährige selbst kaum geahnt haben. Und nun arbeitet er schon am Nachfolgewerk, das die Berliner Druckgraphik bis zum Jahr 2000 erfassen soll.

2600 Blätter kann Ernst konkreten Künstlern zuordnen, für die größtenteils erstmals ausführlichere biographische Angaben zusammengetragen wurden. Tausend Blätter bleiben anonym, hinzu kommen vierhundert Lithographien aus dem von Schinkel begründeten Architektonischen Skizzenbuch und der Zeitschrift für Bauwesen sowie zweihundert Gebrauchsgraphiken – Briefköpfe und dergleichen.
Natürlich bleibt auch hier vieles Interpretation: Warum zum Beispiel von dem großartigen Zeichner und Karikaturisten Theodor Hose­mann nur zehn Arbeiten aufgeführt sind, wo doch fast jedes seiner Blätter auf Berlin und die Berliner anspielt, zeigt die Grenzen der Systematik.
Dieses Buch setzt neue Standards, nicht nur für Sammler, Museumsleute, Kunsthändler und sonstige Intensivnutzer, sondern für alle, die sich schnell, kompetent, anschaulich – auch anhand der unzähligen abgebildeten Blätter – über das historische Berlin informieren wollen. Man übertreibt nicht, Ernsts Opus eine der wichtigsten Berlin-Publikationen der letzten Jahrzehnte zu nen­nen. Die Erstauflage war umgehend vergriffen und in der zweiten konnten noch einige Druck- und Flüchtigkeitsfehler behoben werden. Der relativ hohe Preis ist angesichts des Umfangs, der hohen Abbildungsdichte und der von den Autoren investierten Arbeit völlig angemessen.
Michael Zajonz, in: © Kunst und Auktionen 2010, Nr. 15 (13. August 2010)

 

 

Berlin ist bekannt dafür, dass es Spuren der Geschichte deutlicher zeigt als andere Städte. Fassaden mit Einschusslöchern, unverputzte Brandmauern, innerstädtische Brachflächen, allerlei Leerstand wie Um- oder noch besser: Zwischengenutztes zeugen vom überstandenen Schrecken. Die Atmosphäre der Vorläufigkeit, die Freude an Narben, Wunden, Unvollendetem, die Lust am Brüchigen, Bröckelnden wurden in der Clubkultur, durch Film und Architekten wie David Chipperfield zelebriert, ästhetisch aufgewertet und popularisiert. Das ist der Geist der Gegenwart, der jeder Moment wert scheint, verewigt zu werden.
All das aber betrifft im wesentlichen die Rasereien des 20. Jahrhunderts, das man in Berlin in der Tat vorzüglich studieren, von seinen verheißungsvollen wie seinen abstoßenden Seiten mit nur mäßiger Anstrengungen kennenlernen kann. Gegenüber seiner älteren Geschichte dagegen ist die Stadt oft ignorant. Planungen und Neubauten der Nachkriegszeit haben urbane Zusammenhänge gründlich zerstört, Traditionsstränge sind zerrissen.
Wie stark die Gegenbewegung inzwischen geworden ist, spürt man am Ingrimm der lokalen Architekturdebatten, in denen keine Injurie verpönt scheint. Das Stadtmuseum ist in den vergangenen zwei, drei Jahren endlich aus seinem Schlaf erwacht, präsentiert in der Nikolaikirche das frische Bild eines barocken, frommen Berlin. Über das historische Viertel zwischen Schloss- und Alexanderplatz wird wenigstens gestritten. Soll man hier DDR-Erbe respektieren oder alte Straßenzüge rekonstruieren? Wiederge­wonnene Schönheit kann man etwa vor der Bauakademie aus Plasteplanen bewundern: Dort ist, bestückt mit den Denkmälern der preußischen Praktiker Schinkel, Beuth und Thaer, ein herrlicher, trotz aller Touristen meist stiller Platz erstanden. Er gleicht einer begehbaren Vedute inmitten aufgerissener Straßen, eine Andeutung, wie viel möglich wäre, wenn man es denn nur wollte, statt den ewig gleichen Versprechen der ewig schäbigen Investorenarchitektur zu glauben.
In dieser Situation, in der die Stadt um ein neues Bild ihrer selbst ringt, ist das voluminöse Ansichtenwerk »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570 – 1870« hoch willkommen. Als die zwei Bände Ende November 2009 zum ersten Mal erschienen, waren sie trotz der etwa sieben Kilo Gewicht und des prohibitorisch hohen Preises unverzüglich vergriffen. In diesen Tagen wird die zweite, durchgesehene Auflage ausgeliefert – und man könnte darauf wetten, dass dieses Werk für die Berliner, die alten wie die zugezogenen, bald so wichtig werden wird wie Fritz Löfflers »Das alte Dresden« für die Dresdner und ihre Träumereien.
Der Bankier Gernot Ernst stieß als Sammler auf das Thema. Bei Nachfragen wieder verwies man ihn immer wieder auf das Handbuch »Berlin in der graphischen Darstellung«, das Werner Kiewitz 1937 herausgegeben hatte. Dieses aber war unvollständig und vielfach überholt. Gernot Ernst nahm, wohl halb nur wissend, worauf er sich einließ, die Herausforderung an: Kiewitz kannte 1150 Blätter, Ernst weist nun 4200 nach, auf denen – in welcher Form auch immer – das Stadtbild dargestellt ist. Herrscherporträts mit Ausblicken in die Stadt sind ebenso aufgenommen wie Firmenbriefpapier, wenn darauf Fabrikgebäude zu sehen sind. 2600 Werke kann Ernst 570 Künstlern zuordnen. Die anderen bleiben – vorerst – anonym. Ein Großteil der Kupfer- oder Stahlstiche, Radierungen, Holzschnitte, Lithographien ist in den beiden Bänden abgebildet, eine beigegebene DVD bringt weitere Ansichten.
Das ist ein Werk der Superlative, aber man sollte es nicht in erster Linie unter sportiven Gesichtspunkten betrachten. Die gewaltige Leistung überzeugt, weil sie eine Schatzkammer der Kulturgeschichte eröffnet. Der erste Band ist nach Künstlern geordnet, der zweite thematisch. Da ist vieles zu entdecken, etwa ein »Berliner Lebens- und Vergnügungs-Plan« aus dem Jahr 1875: »Der Frühling möge hold Dir blüh'n, /Der Sommer brin­ge Landparthie'n! / Im Herbst sei froh bei Bier und Wein, / Im Winter rieht zum Tantz Dich ein!«
Jeder mag auf diesem Plan nun seinen Weg von Moabit nach Treptow finden, mag entscheiden, ob er beim Victoria-Theater oder im Kriegsministerium vorbei schauen oder lieber ins Damenbad will. Der Plan lässt sich dank des zweiten Bandes, den Ute Laur-Ernst erarbeitet hat, aufs schönste vertiefen. Da kann man nachschlagen, wie es wo aussah. Das »Stadtbildlexikon« erfasst in 550 Stichworten akademische Einrichtungen und Vergnügungsorte, Plätze, Kasernen, Gesandtschaften, Schlösser, Waisenhäuser und Parks.
Formuliert wird knapp und deutlich, mit Ausblicken in die Gegenwart: »Heute«, heißt es da über den unter Friedrich Wilhelm I. angelegten Wilhelmsplatz, »armseliger, verbauter Platz am alten Ort, jetzt Zietenplatz genannt«.
Dieses Stadtbildlexikon gleicht einem Handbuch des Verschwundenen, es lädt auch ein, den eigenen, individuellen Stadtplan historisch informiert nachzuzeichnen. Um Biographien und Lebenswelten, etwa die Kleists, der Humboldts oder Fontanes zu verstehen, ist das Lexikon die beste Veranschaulichungshilfe. Man versteht beim Blättern, warum Besucher um 1800, als Berlin für Neugierige und Reisende attraktiv wurde, sich wunderten über die Leere der breiten Straßen und das geringe Alter der meisten Bauten. Der Aufstieg der Stadt hatte spät begonnen und war lange unsicher erschienen. Die erste zeichnerische Darstellung von Berlin/Cölln stammt aus dem Jahr 1536/37. Sie ist das Werk eines unbekannten Zeichners, der den Herzog Ottheinrich von Pfalz-Neuburg auf der Reise von Neuburg über Prag nach Krakau und zurück über Berlin begleitet und dabei auf Blättern 70 Ortschaften festgehalten hatte. Die erste eigenständige druckgrafische Gesamtansicht ist ein kolorierter Kupferstich Merians aus dem Jahr 1652. Die weitaus meisten Darstellungen kommen aus den Jahren zwischen den Befreiungskriegen und der 48er Revolution.
Die Dynamik der Stadtentwicklung ist auf den Bildern kaum zu erkennen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, der in Brandenburg besonders verheerend gewütet hatte, im Jahr 1648 lebten hier noch 7000 Menschen, ein Häuflein in ärmlicher Randlage. 1709 zählte man bereits 55000, 1755 100 000 Einwohner. Ende des 18. Jahrhunderts war die Stadt eine Residenz- und Bürgerstadt von europäischem Rang, ohne freilich Größe und urbane Dichte von London, Paris oder Neapel zu erreichen.
Der Überblick in Stadtansichten endet um 1870. Berlin schickt sich an, Millionenstadt zu werden. Industriealisierung und altpreußische Adelskultur, Oper, Bürgertum und Schwoof, der Hof und die Händler existieren, meist friedlich, nebeneinander. Schon wenige Jahre später beginnt der Umbau der Stadt, die für die Massengesellschaft gerüstet und tauglich gemacht werden muss. Die meisten baulichen Zeugen preußischer Geschichte fallen dann unter Wilhelm II. Unter ihm wird das »ewige Werden« zum Markenzeichen, seine Jahre prägen das neue Gesicht der Stadt und prägen sie in den Grundzügen bis heute.
Man kann dieses Lexikon der Künstler und Schauplätze auf sehr verschiedene Art nutzen: Seine luzide Einführung hat Gernot Ernst sinnvollerweise nach den Herrschern gegliedert, von denen jeder

das Stadtbild charakteristisch veränderte. Man kann aber auch nach dramatischen Ereignissen suchen: der Besetzung durch die Russen, 1760, dem Einmarsch der Franzosen, 1806, dem Barrikaden-Wirrwarr im März 1848, dem Einsturz des Münzturms, dem Brand der Petri-Kirche und dem Brand des Schauspielhauses. Man kann Huldigungen vergleichen und Theater, eine kleine Denkmalkunde entwickeln und nur staunen, zu welch' festlichen Aufschwüngen das großstädtische Amüsiergewerbe in der Lage war, als es sich noch an höfischen Festen orientierte. Unter den Künstler findet man die großen, erwarteten Namen: Schinkel, Eduard Gaertner, Franz Krueger, Adolph Menzel, daneben viele, von denen man höchstens zufällig einmal etwas hörte. Sehr effektbewusste sind darunter. Es hat wenig Sinn, dem Verlorenen nachzutrauern, aber kennen sollte man es. Diese Bände bieten Stadtgeschichte als eine vergnüglichen Landpartie durch das Großdorf an der Spree. Gernot Ernst arbeitet inzwischen am Folgeband, der die Jahre von der Reichseinigung bis 2000 umfassen soll.
Jens Bisky, in: Süddeutsche Zeitung, 26. April 2010

 

 

Dieses »Berliner Bilderbuch« hat Gewicht und ist auch eine kleine Sensation: Der Doppelband »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570-1870« ist eine bibliophile Kostbarkeit und gleichzeitig eine Fundgrube für jeden Liebhaber oder Kenner der Berliner Stadtgeschichte. Sieben Kilo schwer und mit über 1500 Seiten will das »neue Standardwerk«, wie der Berliner Lukas-Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte seine Neuerscheinung stolz ankündigt, erstmals so umfassend die Werke der grafischen Künstler ihrer Zeit mit den von ihnen geschaffenen Berlin-Ansichten vorstellen, samt einem informativen Künstlerlexikon mit 560 Kurzbiografien der Zeichner, Stecher und Lithografen. Künstler als Zeitzeugen sozusagen, die allerdings ihre Werke selbst oft nicht datierten und deren Lebensdaten daher für diesen Band genau recherchiert wurden. Ein zweiter Band bis zum Jahr 2000 ist geplant.
Seit Friedrich Nicolai (1786) sei das Wissen über die Arbeit dieser künstlerischen Stadtchronisten nicht mehr systematisch festgehalten worden, heißt es im Vorwort des Doppelbandes. Berlin-Grafiken aus unterschiedlichen Epochen also auch als unschätzbare Zeitdokumente. Wer sich in diese Arbeit der Sammler Gernot Ernst und Ute Laur-Ernst vertieft, geht auf eine spannende Zeitreise und erlebt mit 4200 Grafiken und ausführlichen Erläuterungen eine lebendige Stadtgeschichte auch aus kultureller und wirtschaftlich-sozialer Sicht. Die jetzt präsentierten Arbeiten stammen aus der brandenburgisch-preußischen Epoche, in der sich Berlin auf den Weg machte, sich von einer kurfürstlichen Residenzstadt langsam auch zu einem politischen Zentrum – 1871 wurde Berlin schließlich Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches – und beachteten europäischen Kulturzentrum zu »mausern«.
Dass Berlin vor allem auch immer eine Stadt der Veränderung war, dokumentieren viele der hierfestgehaltenen Stadtansichten aus früheren Jahren. Da gibt es die Stüler-Zeichnung über »den neuen Dom in Berlin« von 1865 gegenüber dem Schloss als Entwurf, der nie realisiert wurde. Stattdessen wurde anstelle des – immerhin von Schinkel – umgebauten Vorgängerbaus an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ein wilhelminischer Prunkbau als Hofkirche der Hohenzollern errichtet, die auf den Wiederaufbau des benachbarten Schlosses als städtebauliches Pendant noch eine Weile warten muss. Von 1862 stammt der Aquarell-Blick von Eduard Gaertner in die monumentale Säulenhalle mit dem Pharao in der Ägyptischen Abteilung des Neuen Museums, das nach den Kriegszerstörungen im vergangenen Oktober auf der Berliner Museumsinsel gerade erst wiedereröffnet worden ist.
Die Bilder zeigen das Auf und Ab vieler bedeutender Berliner Häuser wie zum Beispiel das Palais des Prinzen Heinrich Unter den Linden (die Stadtresidenz des Bruders Friedrich des Großen), in dem 1809/10 die Berliner Universität gegründet wurde, die seit 1949 Humboldt-Universität heißt. Aber natürlich geht es auch um viel »profanere« Stadtbilder, um das »Innenleben« der Metropole – wer wohnte wo, und was geschah in den abgebildeten Häusern? Reizvoll ist auch die »Suchbildfrage«, ob der jeweilige Künstler wirklich die in Stein gemauerte Architektur abgebildet oder eher das idealisierte Wunschbild eines Ortes erfunden und dabei womöglich auch noch alte Vorbilder »abgekupfert« hat.

Der Doppelband ist natürlich auch ein fundierter Quellenschatz für Architekten, Denkmalschützer und Stadthistoriker zum Beispiel auch bei Stadtrekonstruktionsprojekten in der alten neuen deutschen Hauptstadt. Beigetragen haben dazu auch die Schätze der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit ihrer Staatsbibliothek und ihrem Kupferstichkabinett und ein Mann wie der Berliner Verleger Dieter Beuermann, dem früheren Eigentümer der Berliner Nicolaischen Verlagsbuchhandlung und damit auch ein ausgewiesener Kenner der Materie dieses opulenten Druckgrafik-Bandes.
Wilfried Mommert, in: Die Berliner Literaturkritik, 14.12.2009

 

 

Vor gut 350 Jahren war Berlin ein durch den Dreißig-jährigen Krieg ruiniertes Nest. Ohne Universität, ohne kulturelle Leuchttürme und ohne sonstige Glanzlichter, Berlin aber war Residenzstadt, wenn auch keine besonders wichtige, die mit Friedrich Wilhelm einen Kurfürsten beherbergte, der eisern entschlossen war, sowohl seine durch den langen Krieg ausgeblutete Mark als auch Berlin aus der Bedeutungslosigkeit zu reißen. Nur 200 Jahre brauchten er und seine Nachfolger, um aus Preußen eine Großmacht, den ersten unter den deutschen Staaten zu machen und Berlin zur wichtigsten, größten Metropole Deutschlands auszubauen.
Der Aufstieg dieser Stadt ist oft und ausführlich besprochen worden. Gcrnot Ernst hat die Berlin-Literatur nun um ein weiteres Werk bereichert, das allerdings den Rahmen der üblichen Hauptstadt-Lektüre sprengt. Sein Verleger Frank Böttcher, Inhaber des Lukas Verlages, nennt das Mammut-Projekt ein Jahrhundert-Buch. Mit »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik« legt Ernst zusammen mit seiner Frau Ute Laur-Ernsl einen sieben Kilogramm schweren Doppelband vor. der so ausführlich wie noch nie den Bestand der Berlin-Drucke zusammenfasst. Verlag und Autor haben damit offenbar den Nerv der Leser getroffen. Trotz des stattlichen Preises war die erste Auflage des Standardwerkes nach nur drei Wochen vergriffen. Zurzeit wird die zweite vorbereitet, die ab Anfang März zu bekommen ist. Bis Ende des Jahres kann sie zum Subskriptionspreis von 190 statt später 240 Euro vorgemerkt werden.
Dem Ehepaar Ernst ist mit dem Doppclband ein wirklichkeitsnahes Bild gelungen, wie sich Berlin und das Leben dort zwischen 1570 und 1870 verändern, wie aus der mittelalterlichen Stadt eine Metropole wächst und die sich ans Wasser duckenden Fischerhütten den Palais’ des aufstrebenden Bürgertums weichen. Berlin wird als Ort porträtiert, der ständigen Veränderungen unterworfen ist, der nie zur Ruhe kommen darf, der mit der industriellen Revolution immer neue Stadtteile ausschwitzt und die ländliche Idylle um sich aufsaugt mit einem unstillbaren Hunger nach Raum.
Der Aufstieg Berlins folgt aber keiner Route, auf der es immer nur unbeirrt nach oben geht. Berlin ist, auch das verschweigen die Drucke nicht, oft eine verstümmelte, verbaute, vernachlässigte Schönheit gewesen. Der Glanz, der sich mit der ausufernden Bautätigkeit König Friedrichs I. und mit den von ihm gegründeten Akademien der Künste und der Wissenschaften über die Stadt legt, währt kaum über seinen Tod hinaus. Sein Sohn Friedrich Wilhelm I. macht aus dem schöngeistigen Spreeathen eine Kaserne, in die unter Friedrich II. aufklärerischer Wind hineinweht, der Künstler wie Daniel Chodowiecki oder Antoine Pesne beflügelt.
Sie und die Kollegen, die vor und nach ihnen kommen, haben in ihren Lithografien, Kupfer- und Stahlstichen das alte Berlin für die Ewigkeit eingefroren, ohne dabei auf ihre persönliche Handschrift zu verzichten, wie die holländischen Meister, die die Spree gern aufschäumen und mit vielen Schiffen garnieren, als hätten sie vor einer Stadt am Meer gesessen. Der vielleicht schönste dieser maritimen Drucke ist Michael Maderstegs Stich der Liburnica, der Yacht Friedrich I., die der Holländer für den Preußenkönig entwirft.
Andere Künstler fühlen sich von den imposanten Kulissen Berlins angezogen oder, wie Christian Gottfried Matthes, von den Dörfern vor der Stadt, von der Einsamkeit in Pankow, Lichtenberg oder Tempelhof. Die Stecher haben festgehalten, wie das Denkmal für Friedrich II., das heute noch Unter den Linden steht, eingeweiht wird. Sie zeigen die Berliner, wie sie unter den Zelten im Tiergarten oder über den Weihnachtsmarkt bummeln, wie sie mit ihren Droschken am Schauspielhaus vorfahren, wie sie 1848 auf die Barrikaden gehen und wie die Stadt in diesen blutigen Kämpfen ihre Unschuld verliert.
Wenige Grafiker waren dabei so eng mit Berlin verwachsen wie der Hofmaler Benjamin Calau, von dem alle über 200 Werke in dem von Gernot Ernst als Künsllerlexikon angelegten ersten Band aufgelistet sind. Darin finden sich auch bekannte Namen wie Schinkel, Rauch, Schadow, Stüler und Schlüter – alles nicht nur begabte Zeichner, sondern auch begnadete Architekten. Denn die Druckgrafik war immer auch Gebrauchskunst, wurde benutzt für architektonische Entwürfe, für Plakate und Mitteilungsblätter. Trotzdem erstickt Ernsts Darstellung nicht unter der Fülle und dem Facettenreichtum des Materials. Die Aufteilung in zwei Bände, in ein Künstler- und ein Stadlbildlexikon, das von den akademischen Einrichtungen bis zu den Vergnügungsorten der Berliner reicht, hilft, diese Vielfalt zu systematisieren.
Auf Systematik, auf die Ordnung der Dinge legt Gernot Ernst den größten Wert. Sie war schließlich auch der Grund, weshalb er dieses Großprojekt in Angriff genommen hatte. Er haderte mit einer gewissen Unordnung in der Überlieferung der Berliner Druckgrafik. Schon in den 1970er-Jahren stieß sich der
Sammler daran, dass sich für einige seiner Drucke keine zuverlässigen Angaben zu der Datierung und den Künstlern finden ließen. Selbst Irmgard Wirth, die damalige Leiterin des Berlin Museums, konnte nicht immer weiterhelfen und verwies auf Werner Kiewitz' Handbuch »Berlin in der Druckgrafik« von 1937. Andere Literatur zu dem Thema gab es nicht. Aber dieser Band hatte Lücken. 30 Jahre ließ Gernot Ernst den Plan in sich reifen, Kiewitz' Werk fortzuschreiben. Als er im Ruhestand war, hat er damit begonnen. Mit 67 Jahren ließ er sich von Uwe Rudolph zeigen, wie man mit einem Laptop umgeht, Der Informatiker entwickelte für ihn eine Datenbank zu Systematisicrung der Bestände der Berlin-Drucke. 4000 hat Ernst in seinem Buch erfasst. Dreimal mehr als Kiewilz.
Vor vier Jahren haben er und seine Frau damit begonnen, aus dem geordneten Material ein Buch zu machen. »Dazu braucht man Organisation, Disziplin und Engagement«, sagt der Ex-Unternehmer. Er weiß nicht, ob er das alles noch einmal aufbringen und die Geschichte der Berliner Druckgrafik nach 1870 fortschreiben kann. »Ich bin jetzt 78«, gibt er zu Bedenken.

Uwe Stiehler, in: Märkische Oderzeitung, 12./13. Dezember 2009

 

 

Gleich sieben Kilo bringen die beiden Bände auf die Waage; noch gewichtiger aber ist ihr Inhalt: Gernot Ernst und Ute Laur-Ernst bündeln in ihrer Dokumentation »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570-1870« jahrzehntelange Forschungen über ein nur auf den ersten Blick abseitiges Thema. Ihr Buch hat beste Chancen auf den inoffiziellen Titel »Wichtigstes Berlin-Buch des Jahres«. Im ersten Band ordnet Gernot Ernst mehr als 4200 Grafiken, darunter praktisch alle in unzähligen Bildbänden gedruckte Motive, aber noch viel mehr vergessene Werke der Gebrauchskunst, ihren Schöpfern zu. Man kann hier zahllose Entdeckungen machen. Die eigentliche Sensation aber ist der zweite Band, ein Stadtbildlexikon für Berlin in den drei Jahrhunderten seines Aufstiegs von der Provinzsiedlung zur Hauptstadt des Deutschen Reichs, in dem Ute Laur-Ernst anhand von 550 meist knappen Gebäude-Porträts die Historie der Stadt erzählt. Für Berlin-Fans eine Fundgrube, trotz des enormen, aber eben doch angemessenen Preises.
Sven-Felix Kellerhoff, in: Berliner Morgenpost und in: WELT, 24. November 2009

 

 

Über Berlins Vergangenheit wird heftig diskutiert, wenn auch nicht immer kenntnisreich. Wo die ursprüngliche Mitte der Stadt lag, ist auf dem Stadtplan seit Jahrzehnten nicht mehr aufzufinden. Aber auch diejenigen, die sich die Rückkehr zur Geschichte auf die Fahnen geschrieben haben, tappen oft im Dunkeln. Bemühungen, den alten Stadtgrundriss sichtbar zu machen, stoßen auf Unverständnis. Außer dem Hohenzollernschloss scheint es nichts Berlinisches mehr zu geben, das aus versunkenen Zeiten zumindest als Bild zu uns herüberreicht.
In dieser Situation einer eher diffusen Geschichtserinnerung kommt das gewichtige Werk wie gerufen: »Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570 – 1870« sind die beiden Bände überschrieben, die nicht weniger als 4200 Beispiele berolinischer Grafik enthalten. Gernot Ernst, ein Amateur im besten Sinne des Wortes, ein Liebhaber der grafischen Künste neben seinem Hauptberuf als Unternehmer, trug sich seit Jahrzehnten mit dem Gedanken, die bis dahin einzige Übersicht über Berliner Grafik aus dem Jahr 1937 endlich auf zeitgemäßen Stand zu bringen.
Mit Unterstützung modernster Datenbanken und hilfreicher Geister in allen wichtigen Archiven und Museen konnte Ernst endlich sein großes Vorhaben realisieren. Über die Kosten eines solchen im Grunde unbezahlbaren Unternehmens schweigt er sich hörbar aus: »Ohne eigenes finanzielles Engagement und hohe persönliche Motivation lässt es sich nicht realisieren.« Es bleibt die Frage, warum in siebzig Jahren keine öffentliche Einrichtung sich zu diesem Projekt eines ideellen Gesamtkatalogs hat durchringen können.
Nun sind die 4200 Grafiken durchaus nicht fokussiert auf die Ansicht der Stadt. Sie bilden kein Panorama Berlins durch drei Jahrhunderte hindurch; überhaupt rangiert der Anteil von Stadtansichten erst nach denjenigen der Porträts und der Ereignisdarstellungen. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der letzten Blütezeit der Grafik vor der Erfindung der Fotografie, nehmen die Stadtveduten wirklich breiten Raum ein, ohne jedoch den Anteil der damals hochbeliebten Stichreproduktionen berühmter Gemälde quantitativ zu verdrängen.
In älteren Zeiten dominieren prachtvolle Gesamtansichten, die die Herrlichkeit der brandenburgisch-preußischen Hauptstadt demonstrieren sollten, zumal nach der Erhebung Preußens zum Königreich im Jahr 1701, mit der der überaus anspruchsvolle Bau des Schlüter’schen Schlosses korrespondiert. So gibt Jean-Baptiste Broebes, Professor für Architektur an der Akademie, 1733 eine Ansicht des »Königlichen Platzes«. Wäre darauf nicht das Zeughaus zu entziffern, man wüsste nicht, welches Architekturcapriccio man vor sich hätte, stimmt doch nahezu nichts mit dem realen Schloss damaliger oder späterer Tage überein.
Der Betrachter sei also gewarnt, die Blätter zum Nennwert zu nehmen. Erst im 19. Jahrhundert zählt topografische Genauigkeit zu den Tugenden. Vielfach lässt sich verfolgen, wie grandios das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten auf der Langen Brücke gewirkt haben muss, vor der Folie des Stadtschlosses, das seit 1845 von Stülers Kuppel bekrönt wurde. Diese Perspektive spielt im gegenwärtigen Streit ums Schloss keine Rolle; und auch ein solcher Perspektivwechsel ist von Interesse, zeigt er doch die sich wandelnde Bedeutung einzelner Stadträume. Die Lange Brücke ist seit der Verlängerung der Linden-Achse über die Spree hinweg, der heutigen Karl-Liebknecht- Straße, ihrer einstigen Rolle als wichtigster Flussübergang beraubt.
Der zweite Band, bearbeitet von Ute Laur-Ernst, ist dann die wahre Fundgrube für den Berlinbegeisterten. 550 topografische Stichworte sind zu Themen gebündelt, wie »Banken, Börse, Münze« oder »Stadttore, Stadtmauer«. Hier wird das Übergewicht des 19. Jahrhunderts evident – eine Epoche, in der das Bewusstsein der Geschichtlichkeit alles überwog. Auch das Neue wirkt auf diesen Veduten bereits wie längst Vergangenes. Wilhelm Loeillot beispielsweise, von dem allein 105 Grafiken verzeichnet werden, zeigt das nagelneue Neue Museum von der Burgstraße mit Blick über die Friedrichsbrücke hinweg – und dem aufschlussreichen Detail eines rauchenden Schornsteins am Ufer der Museumsinsel. Kultur und Manufakturwesen koexistierten einige Jahrzehnte, ehe im 20. Jahrhundert auch die letzten Spuren – Schinkels Salzamt auf der Kupfergrabenseite – beseitigt wurden.
Ist der erste Band den Grafikern in chronologischer Ordnung gewidmet, so steckt der zweite voll unausschöpflicher Detailinformationen zu jedem Bauwerk, zu jeder Ecke der Stadt, so sie denn jemals zu bildlicher Darstellung gelangten. Übrigens ist bei vielen Blättern als »Standort«, sprich Eigentumsangabe, vermerkt: »Berlin-Sammler«. Nach der Lektüre dieses Werks kann man die Leidenschaft der Anonymi nur allzu gut verstehen.
Bernhard Schulz, in: Tagesspiegel am 22. November 2009

 

 

Wer hat schon einmal vom Orpheum gehört? In der Alten Jakobstraße, einer heute wenig anheimelnden Gegend, befand sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts das beliebte Tanzhaus. Es war ein prachtvoller Ballsaal, wo die Berliner ihrer Partylaune frönten. Eine einzige bekannte Abbildung gibt es von dem 1877 geschlossenen Etablissement. Bislang hätte man sie allenfalls durch Zufall finden können, jetzt ist sie in Gernot und Laura Ernsts wunderbarem Buch, das soeben erschien und am Montag der Öffentlichkeit vorgestellt wird, bequem und auf Anhieb erreichbar.
Oder kennt jemand das Viktoria-Theater in der Münzstraße? 1881 fand hier noch die Berliner Erstaufführung von Richard Wagners »Ring« statt, aber schon zehn Jahre später wurde es abgerissen. Berlin ist eine Stadt im ständigen Wandel, das war schon immer so. Was hier heute erstaunt und erfreut, wird wenige Jahrzehnte später bedenkenlos wieder zerstört. Tradition kann so nicht entstehen. Daher war schon vor dem Ersten Weltkrieg das alte Berlin zu großen Teilen dem Bauboom der Gründerzeit zum Opfer gefallen. Niemand konnte sich in den Zwanzigern noch vorstellen, wie 1815 der Alexanderplatz ausgesehen hatte: eine beschauliche, fast provinziell anmutende Ansammlung halbhoher Häuser. Dort lag das Königsstädtische Theater, das später ein Lokal von Aschinger wurde.
Erst recht werden selbst eingefleischte Berliner kaum ahnen, wie das berüchtigte Rollbergviertel, die Bronx von Neukölln, einmal aussah. Ein Kupferstich von 1802 zeigt das Dorf Rixdorf, eine kleine Ansiedlung verstreuter Häuser, im Hintergrund die idyllischen Rollberge. Dort, wo sich heute türkische und arabische Jugendgangs bekriegen, konnte man höchstens auf einem Kuhfladen ausrutschen. Wie alle europäischen Metropolen explodierte Berlin im 19. Jahrhundert, wurde zum ausufernden steinernen Meer, das gnadenlos das Stadt-und Landbild des Barocks und des Biedermeiers verschlang.
Will vielleicht noch jemand wissen, wie man im Berlin der Fontane-Zeit logierte? Kein Problem, im Kapitel »Hotels, Gasthöfe« sind sie aufgeführt und vor allem auch abgebildet: das Hotel de Russie, wo Goethe und Schiller unterkamen, das Hotel de Rome (gab es also damals schon), das Hotel de Londres – was elegant sein wollte, musste französisch klingen. Und die Ursprünge des Berliner Taxiwesens? Die sind ebenso leicht gefunden, unter »Droschkenanstalt«, die der Pferdehändler Mortgen 1814 mit Königsprivileg gründete. Die ersten dreißig Kutschen kamen aus Warschau, weil die Berliner Stellmacher nicht so viele liefern konnten. Damit fuhr man dann in Gersons Warenlager am Werderschen Markt, das erste Luxuskaufhaus der Stadt. Oder man ließ sich zu Welpers Badehaus an der Museumsinsel bringen, einem innovativen, 1802 eröffnete Wellness-Tempel, der Schule machte und 1830 schon dreißig Nachahmer zählte. Alle diese Wege einer verlorenen Welt können wir jetzt in dem Doppelband nachverfolgen.
Heute träumt Berlin am liebsten von den vermeintlich so goldenen Zwanzigern, zunehmend auch vom Historismus der Kaiserzeit. Aus diesen Epochen gibt es zahllose Fotografien, auch Filmaufnahmen, die das Zerstörte in unserer Vorstellung wiedererwecken können. Die Zeit vor dem Aufschwung der Fotografie, die in Deutschland ungefähr mit der Gründung des Kaiserreichs 1871 zusammenfällt, ist in druckgrafischen Ansichten überliefert. Manches etwa aus der Zeit Friedrichs des Großen oder der Schinkel-Epoche ist hinlänglich bekannt. Wie viele solcher Stadtbilder es aber aus dem alten Berlin noch gibt, davon hatten wir alle bislang keine Ahnung. Nun sind sie dem Vergessen entrissen, und es ist keine Übertreibung, das Buch von Gernot und Ute Ernst als eine der wichtigsten Berlin-Publikationen der letzten Jahrzehnte zu rühmen.
Gernot Ernst hat alle nur irgendwie erreichbaren druckgrafischen Ansichten vom 16. Jahrhundert bis 1870 aufgespürt, geordnet, erforscht und zu einem schier unerschöpflichen Bilder- und Geschichtsbuch aufbereitet. Der heute 78-jährige Bankier kam als Sammler der Berliner Druckgrafik zu dem Thema. Schon in den späten Siebzigern hatte ihm Irmgard Wirth, die damalige Direktorin des Berlin-Museums, erklärt, dass man über die Berliner Stadtansichten nur das wisse, was Werner Kiewitz 1937 in seinem schmalen Band »Berlin in der grafischen Darstellung« versammelt hatte. Das hat Ernst nie vergessen und als er die Zeit dafür fand, machte er sich an die Herkulesarbeit.
Das Ergebnis seiner Bemühungen ist gewaltig. Während Kiewitz 1150 Blätter kannte, weist Ernst jetzt 4200 Holzschnitte, Kupfer-und Stahlstiche, Radierungen und Lithografien nach, auf denen das Berliner Stadtbild nur irgendwie dargestellt ist. 2600 Werke kann er 570 Künstlern zuordnen, die er mit allen Grafiken in einem monumentalen Künstlerlexikon aufführt. Zudem gibt es 1000 anonyme Blätter sowie 400 Veduten in Sammelwerken, Zeitschriften und als Gebrauchsgrafik. Alles nimmt der Autor als Bildquelle ernst: Ereignisbilder wie zum Einmarsch Napoleons oder dem Barrikadenkampf 1848, Karikaturen oder Souveniralben. Ein Großteil der Stadtbilder ist in den zwei Bänden abgedruckt. Das erklärt den Preis, der leider ein Makel des Buchs ist.
Für viele der Künstler konnte Ernst überhaupt erstmals Lebensdaten ermitteln; dafür durchkämmte er Kirchenbücher, Adressbücher und die Schülerlisten der Akademie. Ganze Künstlerdynastien sind dabei zum Vorschein gekommen, etwa die Familie Biesendorf, die im 17. und frühen 18. Jahrhundert im Dienste der Kurfürsten und Könige stand. Vor einigen Jahren stieg auch Ernsts Ehefrau Ute, von Haus aus Psychologin, in das Projekt ein und erarbeitete ein »Stadtbildlexikon«.
Auf mehr als 400 Seiten erzählt sie die Geschichten aller Stadtviertel, Plätze und Gebäude, die auf den Grafiken dargestellt sind. Vom königlichen Schloss bis zum Bürgerhaus, vom ersten Bahnhof bis zu den Vergnügungsstätten, das Diorama als Vorform des Kinos, die vielen untergegangenen Kirchen und Synagogen, Hospitäler und Armenhäuser; Brücken, Theater und die Dörfer vor den Toren – das alles bietet dieser gewaltige Stadtspaziergang jetzt in Buchform. Durch Register und Verweise lassen sich alle Abbildungen eines Ortes schnell finden, ebenso die Gesamtproduktion eines Künstlers oder die Bewohner, die in den dargestellten Bauten lebten.
Dieses Buch kommt zur rechten Zeit, denn es setzt jeder falschen Nostalgie die echten Bilder entgegen. Das Schloss soll rekonstruiert werden, ohne dass die selbsternannten Borussen wirklich seine historische Gestalt kennen. Schon träumen Nostalgiker davon, die alte Stadt wiederzuerwecken. Wie dieses untergegangene Berlin überhaupt aussah, das können wir jetzt erstmals bis ins Detail sehen. Gernot Ernst will übrigens weiterarbeiten. Bis ins Jahr 2000 hat er die druckgrafischen Stadtbilder schon gesammelt.
Sebastian Preuss, in: Berliner Zeitung, 21./22. November 2009