Peter Böthig (Hg.), Peter Walther (Hg.)
Die Russen sind da
Kriegsalltag und Neubeginn 1945 in Tagebüchern aus Brandenburg
Brandenburg wurde gegen Ende des Zweiten Weltkrieges Schauplatz
der letzten Schlachten, die vor allem im Zusammenhang mit dem Kampf um Berlin
standen. Wer durch die Kleinstädte und Dörfer östlich von Berlin bis hin nach
Stettin, Küstrin und Cottbus fährt, bekommt immer noch einen Eindruck von den
Zerstörungen: Bis heute nicht geschlossene Lücken in der Bebauung der
Innenstädte, Marktplätze, an denen die zerstörten Bürgerhäuser durch triste
Plattenbauten ersetzt wurden, oder – wie im Falle Küstrins und Gubens – vollständig
vernichtete Stadtzentren, die nach 1945 auch nicht wieder aufgebaut wurden, wo
stattdessen nach der Trümmerbeseitigung nur die alten Straßen aus
Kopfsteinpflaster auf riesigen öden Flächen noch an den einstigen, in
Jahrhunderten gewachsenen Grundriss der Stadt erinnern.
Der stattliche Band zeigt nun sehr anschaulich, wie die Menschen in
Brandenburg die Endphase des Krieges 1944/45 und den Neubeginn erlebt haben.
Es geht vor allem darum, wie sich die großen politischen Entscheidungen im Leben
der Menschen widerspiegelten. Was hat die Menschen im Alltag bewegt? Was haben sie empfunden und gedacht? Wie gestaltete sich ihr Alltag überhaupt? Wie haben sie
die Politik wahrgenommen? Die Quellen bestehen aus Tagebucheinträgen, Briefen
und Notizen aus Privatbesitz; es handelt sich großenteils um Zufallsfunde bzw.
um Material, das erst auf mehrere Zeitungsaufrufe hin den Herausgebern zur
Sichtung und Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.
Die Dokumente geben abseits der großen Politik einen authentischen Einblick in
die Sorgen und Nöte der Menschen. Man erfährt, wie in den Dörfern und Städten
der brandenburgischen Provinz ums Überleben gekämpft wurde, wie nebenbei das
Kriegsende erwähnt wird, wie das Leben beispielsweise in Cottbus, das mit Flüchtlingen
aus Ostbrandenburg, Hinterpommern und Schlesien völlig überfüllt war, nur sehr
schwer wieder in einigermaßen geordnete Bahnen gelenkt werden konnte. Es sind
Berichte von der Hoffnungslosigkeit, anfangs auch vom Wissen um die eigene
Gefährdung, falls die Tagebücher den Nazis in die
Hände fallen sollten, ebenso von der Ahnung der drohenden Spaltung Deutschlands,
von der Furcht vor Übergriffen der Besatzungsmacht. Diese Texte wechseln sich
ab mit Schilderungen gelegentlich empfundener Freude, wenn es beispielsweise
gelungen ist, die Ernährung und damit das Überleben für die nächsten Tage zu
sichern.
Ergänzt wird der Band durch einen umfangreichen Bildteil, der ausnahmslos
bisher unveröffentlichte Farbfotografien aus Privatbesitz aus den Jahren 1939 bis
1948 enthält. Gerade in der Harmlosigkeit und Alltäglichkeit der Szenen im häuslichen Umfeld bilden die Aufnahmen einen
starken Kontrast zum Kriegsgeschehen. Darüber hinaus haben Bürger aber auch das
fotografiert, was die Propaganda so nie gezeigt hätte: das zum Schutz vor
Luftangriffen bunkerartig verstärkte Schloss Sanssouci in Potsdam und zerstörte
Häuser in den Kleinstädten.
Ein kurzes Geleitwort des Schriftstellers Günter de Bruyn,
eine das Kriegsende in Brandenburg skizzierende Einleitung der Herausgeber und
ein umfangreiches, die geschichtliche Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts
in den Blick nehmendes Nachwort des Publizisten und ehemaligen Herausgebers der
Märkischen Allgemeinen Zeitung, Alexander Gauland, ordnen die Epoche, aus der die Dokumente stammen,
in den größeren historischen Kontext ein. Da es immer weniger Zeitzeugen gibt,
sind Bücher wie dieses sehr wichtig. Ein Buch, das den Leser fesseln kann, aber
auch nachdenklich macht.
Frank Behne, in:
geschichte für heute. zeitschrift für
historisch-politische bildung, 4. Jahrgang (2012)
Selbst wenn bestimmte Geschichtsabschnitte gut dokumentiert und von
den Historikern gründlich erforscht sind und deshalb gut bekannt zu sein
scheinen, so wissen wir dennoch von den Erlebnissen, den Gedanken und Gefühlen
jener, die im Strudel der Ereignisse Handelnde oder Leidende waren, oft nur
wenig. Das gilt vor allem, wenn es um schlimme Zeiten geht, wie die
Katastrophe, in die 1945 in Brandenburg Millionen von Menschen gestürzt wurden.
Erklärlicherweise sind Tagebücher oder andere Aufzeichnungen aus diesem und den
folgenden Jahren, die erhalten blieben und auch publiziert wurden, sehr selten,
wie es auch die Literaturhinweise belegen. Schon aus diesem Grund ist der hier
vorliegende Band eine Veröffentlichung, der man viele Leser wünscht.
Das Brandenburgische Literaturbüro und das Kurt
Tucholsky Literaturmuseum starteten dafür im Frühjahr 2008 einen Aufruf in
Zeitungen, in Funk und Fernsehen mit der Bitte, entsprechende
Tagebuchaufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich wurden Anfragen an
Archive und andere Institutionen gerichtet. Die Suche ergab im Verlauf von zwei
Jahren erstaunliche 120 Tagebücher bzw. Briefsammlungen, aus denen 32
ausgewählt wurden. Einige davon stellte das Brandenburgische
Tagebucharchiv sowie das Archiv der Stiftung Haus Brandenburg zur Verfügung.
Ihre Verfasser -unter ihnen Hausfrauen, Gewerbetreibende,
Soldaten, Landarbeiter, KZ-Häftlinge, Inhaftierte in sowjetischen Speziallagern
– erlebten den Einmarsch der sowjetischen Truppen an sehr unterschiedlichen
Orten (drei jenseits von Oder und Neiße in Ostbrandenburg, andere vorwiegend
östlich und westlich von Berlin) und in sehr unterschiedlicher Weise. Auch der
Umfang der Niederschriften differiert sehr. Im Mittelpunkt stehen häufig die
zahlreichen Selbstmorde deutscher Familien beim Heranrücken der Roten Armee;
die Plünderungen, Willkürakte, Vergewaltigungen, Erschießungen deutscher
Soldaten oder Zivilisten sowie Brandschatzungen durch russische, aber auch
polnische Soldaten. Andere Schreiber erlebten hingegen ȟberraschende Akte von
Hilfsbereitschaft«.
Die Aufzeichnungen umfassen den Zeitraum vom 15. Februar
1944 bis 6. Oktober 1949, beschreiben also nicht nur das Kriegsende, sondern
auch die Jahre danach, mit ihrem Flüchtlingselend, mit Hunger, Wohnungsnot, dem
»radikalen Elitentausch«, der Bodenreform, dem
beginnenden Wiederaufbau usw. Die beiden Herausgeber Peter Böthig (Germanist,
Leiter des Kurt Tucholsky Literaturmuseums
in Rheinsberg) und Peter Walther (Germanist, Brandenburgisches
Literaturmuseum) entschieden sich für eine chronologische Wiedergabe nach
Kalendertagen, an denen ein oder mehrere Schreiber zeitgleich von ihren
Tageserlebnissen berichteten (z.B. 23. April 1945:
Kleingewerbetreibende aus Rathenow, Lehrerin aus Cottbus, KZ-Häftling aus
Sachsenhausen, Gaststätteninhaberin aus einem Ort bei Falkensee, ein namentlich
Unbekannter aus Nauen). Damit werden Vergleiche möglich, die ansonsten
nur schwierig zu bewältigen sein dürften. Durch das beigefügte »Verzeichnis der
Einträge nach Personen« kann man die Aufzeichnungen einer bestimmten Person
auch als Ganzes lesen. Soweit sie zu ermitteln waren,
sind zu den Tagebuchschreibern biographische Daten angegeben. Historiker,
Ortschronisten und Heimatforscher dürften das Ortsverzeichnis dankbar zur
Kenntnis nehmen.
Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Aufzeichnungen stets die subjektive
Sichtweise des jeweiligen Schreibers wiedergeben, können sie
aufschlussreiche Beiträge zur Ortsgeschichte sein. Das Nachwort »Restauration oder Neubeginn? Deutschland nach 1945« stammt von Alexander Gauland,
das Geleitwort von Günter de Bruyn. Ein überzeugender
Kunstgriff ist die Wiedergabe von Farbaufnahmen, die auf Agfacolor-DIA-Material
entstanden. Die Herausgeber weisen daraufhin, dass ihre
Überlieferung ebenso zufällig ist wie die der Texte, und: »In ihrer Farbigkeit
verbürgen die Fotos einen ähnlich authentischen Charakter wie die
Tagebuch-Aufzeichnungen durch die zeitliche Nähe zum Geschehen.«
Günter Nagel, in Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 2011
Der umfangreiche Sammelband mit Auszügen aus
Aufzeichnungen und Briefen 1944–1949, der unter dem Titel »Die Russen sind da«
von den beiden Germanisten Peter Böthig und Peter Walther erarbeitet wurde, ist
von anderem Zuschnitt. Man fragt sich, warum in den 66 Jahren nach Kriegsende oder
zumindest in den 22 Jahren seit dem Mauerfall noch niemand
nach derart unschätzbaren Zeugnissen über »Kriegsalltag und Neubeginn 1945«
(Untertitel) gesucht hat, und man wundert sich, dass nach so langer Zeit
überhaupt noch solche Texte auffindbar waren. Insofern ist dieses Buch, dem
ähnliche über Sachsen und Thüringen folgen sollten, ein einzigartiger
Glücksfall und ein Meisterwerk dazu! Das Geleitwort stammt von dem
Schriftsteller Günter de Bruyn (1926), der nach 1989
auch in Westdeutschland mit seinen autobiografischen
Büchern »Zwischenbilanz« (1992) und »Vierzig Jahre«
(1996) bekannt wurde.
In der klugen Einleitung sprechen die beiden Herausgeber, die die circa 120
Brief Sammlungen und Tagebücher ausgewertet haben, von der berechtigten Angst
der Deutschen, den Soldaten der Roten Armee und später der Besatzungsmacht
hilflos ausgeliefert zu sein: »In manchen Fällen
endete (die Begegnung) mit überraschenden Akten von Hilfsbereitschaft. Häufiger
aber war sie mit Plünderungen, Misshandlung, Verhaftung, Verschleppung,
zuweilen auch mit der Auslöschung ganzer Familien verbunden. Mädchen und Frauen
wurden, wenn es ihnen nicht immer wieder neu gelang,
sich zu verstecken, regelmäßig Opfer von Vergewaltigungen.«
Die Fülle der Texte ist in drei Abschnitte gegliedert, vielleicht etwas
überzogen, nach musikwissenschaftlichen Kriterien »Präludium«, »Cantus firmus«
und »Coda« benannt, deren erster auf den 15. Februar 1944 datiert ist und
deren letzter auf den 6. Oktober 1949, einen Tag
vor der Gründung der DDR. Anerkennenswert ist, dass das jenseits
von Oder und Lausitzer Neiße liegende Ost-Brandenburg, immerhin ein Drittel der
einst preußischen Provinz, einbezogen wurde. So findet man Texte aus Landsberg
an der Warthe, dem Geburtsort der Schriftstellerin Christa Wolf, aus Lebus an
der Oder und aus Woldenburg/Neumark.
Das Nachwort stammt von Alexander Gauland, der leider
nirgendwo vorgestellt wird und der vermutlich, wenn überhaupt, nur
Brandenburgern als einstiger Herausgeber der »Märkischen Allgemeinen
Zeitung« in Potsdam bekannt sein dürfte. Der Band schließt mit Anmerkungen, Verfasserbiografien und Literaturhinweisen.
Am ergiebigsten für den Historiker sind die Aufzeichnungen, die einen längeren
Zeitraum umfassten wie die des Buchdruckers Ernst Grencku
(1882–1947) aus Seddin bei Potsdam. Er war das Kind
einer noch vor dem Ersten Weltkrieg aus Polen nach Berlin eingewanderten
Familie und sah den Untergang des »Dritten Reiches« aus kritisch-distanzierter
Position: »Die deutsche Bestie beißt noch um sich, sie
ist angeschlagen, aber noch lange nicht kampfunfähig. Sicher ist ein großer
Teil kriegsmüde, aber nur deswegen, weil ihnen die
Mühen und Entbehrungen langsam auf die Nerven gehen. Keiner sieht das
grenzenlose Unrecht ein, welches dieses deutsche Räubervolk begangen hat und
weiter begeht. Also werden auch wir wenigen Menschen, die den Krieg und das
ungeheure Leid verabscheuen, noch vieles erdulden müssen.«
(15. Februar 1944) Ein Jahr später wurden seine
Voraussagen in schrecklicher Weise bestätigt: »Alle Landstraßen sind voll von
Trecks: unglückliche Menschen, welche ihr Heim und zugleich ihre Existenz
verloren haben, um vielleicht niemals dahin zurückkehren zu können, woher sie
kamen. Die Nemesis, die Vergeltun; für das furchtbare
Verbrechen, welche das deutsche Volk an der Menschheit begangen hat, findet mit
einer gerechten Sühne seinen Abschluss.«
Diese Einträge, die Grencku in kyrillischer Schrift
vornahm, um nicht entdeckt zu werden, werden durch zwei Extrembeispiele
ergänzt: durch Briefe Hans Münchebergs, seit 1940 Schüler der Nationalpolitischen
Erziehungsanstalt in Potsdam, der in jugendlicher Begeisterung auf den
»Endsieg« wartet, an seine Mutter in Templin. Und in scharfem Kontrast Bazu stehen die Briefe von KZ-Häftlingen, die in den
letzten Kriegswochen quer durch Deutschland getrieben wurden, wie der des
Rostocker Beamten Rudolf Sundermann, der am 21. Mai 1944 aus dem
Konzentrationslager Sachsenhausen an seine Tochter schrieb.
Diese Sammlung authentischer Texte ist mitunter spannend wie ein Kriminalroman,
besonders, wenn es sich um über Jahre fortlaufende Korrespondenzen oder
Tagebucheinträge handelt, sodass man als neugieriger
Leser bedauert, wenn ein Schreiber wie der Sozialdemokrat Ernst Grencku, der durch scharfe Bnalysen
und bissige Kommentare auffiel, 1947 plötzlich verstummte: »Alle
die Menschen, die sich heute so antifaschistisch gebärden, sind doch dieselben,
welche noch vor kurzer Zeit voll und ganz nationalsozialistisch dachten und
handelten, dieselben, welche meterlange Hitlerfahnen
aus den Fenster hingen und in den Spendenlisten mit wahnsinnig hohen Beträgen
verzeichnet waren. Die mich auf der Arbeitsstelle nur als ein böses Tier
betrachteten und vielfach auch so behandelten. Sofern nicht alle diese
sogenannten kleinen Nazis auch zur Rechenschaft
gezogen werden. ist alle Hoffnung auf eine wirklich
friedliche Entwicklung hier eine glatte Illusion.« (9. September 1945) So war ihm in den beiden Nachkriegsjahren, die Grencku noch zu leben hatte, immer wieder aufgefallen, wie
wenig die angeblich antifaschistische Sowjetmacht gegen die alten Nazis in
seiner Umgebung unternahm.
Es war die von Hoffnung erfüllte Übergangszeit vom Ende der einen Diktatur bis
zum Beginn der anderen. Überall herrschten Hunger und Hoffnungslosigkeit,
geplündert wurde Tag und Nacht, Frauen und Mädchen wurden massenweise
vergewaltigt, Männer wahllos verschleppt oder erschossen. Wo es keine Zeitungen
mehr gab, mussten unsinnige Gerüchte aufkommen wie: Die Russen zögen sich
hinter Oder und Neiße zurück und die Amerikaner rückten ein! Das Denken aus der
NS-Zeit war selbst bei jungen Leuten, die den Krieg miterlebt hatten, noch
stark ausgeprägt. So schrieb die 1925 geborene Hanneliese
Henow am 17. Mai 1945 aus Senzig bei Königswusterhausen in ihr
Tagebuch: »Außerdem muss man viele Stunden anstehen und sich von einem
Dorfpolizisten, diesmal einem ehemaligen Zuchthäusler, fortjagen lassen, wenn
man schon vor der Geschäftszeit ansteht.« Dass es sich bei dem »ehemaligen
Zuchthäusler« auch um einen politischen Häftling gehandelt haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn.
Aber es gab auch Beispiele für das konfliktfreie Überwechseln in andere
Ideologien: Die Brüder Klaus und Hans Müncheberg, 1927 und 1929 geboren, waren
als überzeugte Nationalsozialisten 1945 noch im Kampfeinsatz für den »Endsieg«
und wurden schwer verwundet. Das politische Umdenken erfolgte in den ersten
Nachkriegswochen. Sie wurden Mitglieder der Freien Deutschen Jugend, machten
Abitur, studierten und stiegen auf der Karriereleiter rasch nach oben. Von Anna
Seghers gefördert schrieb Hans 1972/74 für die
Erzählungen »Agathe Schweigert« (1965) und »Das
Schilfrohr« (1965) die Drehbücher der DEFA-Verfilmungen und veröffentlichte
nach dem Mauerfall seinen autobiografischen Roman
»Gelobt sei, was hart macht« (1991/2002). Klaus Müncheberg wurde
Wirtschaftsfunktionär und war seit 1959 Mitglied der Staatlichen
Plankommission. Beide Brüder schrieben im Herbst 1947 begeisterte Briefe über ihr neues Leben als FDJ-Funktionäre.
Willy Lorenz wurde als Landwirt am 22. Juni 1945 aus Lebus am Ostufer der
Oder vertrieben und ging nach Reitwein im Oderbruch, später nach Bückwitz
nordwestlich von Berlin, von wo aus er 1948/49 die Flugzeuge der »Luftbrücke«
sehen und hören konnte: »Die amerikanischen Flugzeuge
für Berlin fliegen Tag und Nacht, um Berlin mit Lebensmitteln zu versorgen. In
der Nacht fliegen sie über unsern Hof, von dem Lärm
der Motoren werde ich oftmals wach.« Bevor er 1956 nach Westdeutschland floh,
konnte er noch einmal über die Oder in die alte Heimat schauen: »Von Tante Bertchen habe ich ein
Fernglas mitgenommen und habe mir von einem hohen Berg neben dem Friedhof
meine alte Heimat angesehen. Durch das Glas konnte ich über die Oder fast alle
Gehöfte der Nachbarn erkennen und konnte auch ganz deutlich erkennen, dass
dort schon Polen ansässig waren.«
Jörg Bernhard Bilke,
in: Deutschland Archiv 44 (2011)
Sie haben
gelitten, gehofft – und sie haben geschrieben: auf
Kalenderblättern, Zetteln oder in ganzen Tagebüchern. Viele Menschen brachten
in den letzten Kriegstagen und der ersten Zeit danach ihre
ganz persönlichen Erlebnisse zu Papier – ungeschminkt und ohne Schnörkel,
verfasst in Straßengräben oder schnell mal zwischendurch in einer der wenigen
ruhigen Minuten in einer sonst so aufreibenden Zeit.
Peter Böthig und Peter Walther haben aus diesen Aufzeichnungen ein Buch
gemacht. Es heißt »Die Russen sind da, Kriegsalltag und Neubeginn 1945 in
Tagebüchern aus Brandenburg«. Klaus Büstrin – von Hause aus Journalist – und Jochen Röhricht – ein ehemaliger
Schauspieler – lasen am Donnerstagabend im Kapitelsaal des Klosters in
Heiligengrabe aus dem Werk.
Die Texte spiegeln Furcht und Hoffnung zugleich wider. Sie malen ein Bild, das
einerseits voller Leid, Tod und Grausamkeiten ist, gleichzeitig aber auch die
unbändige Freude über die wiedererlangten scheinbar banalen Dinge des Alltags
deutlich macht. Da werden »auf einer Strecke von sechs Kilometern zwölf Tote« gezählt, gleichzeitig wird aber auch berichtet, »dass
wir heute Stangenbohnen gelegt haben« oder »dass ich heute zum ersten Mal
wieder Spinat gegessen habe«.
Rund 120 Tagebücher liegen dem Buch zugrunde. Zusammengetragen wurden sie in etwa zwei Jahren. »Das war nicht leicht, denn wie
kommt man überhaupt an private Tagebücher aus dieser Zeit heran?«, beschrieb
Herausgeber Peter Walther die Anfänge. Veröffentlichungen in regionalen
Tageszeitungen – auch in der MAZ – halfen, die Sache ins Laufen zu bringen.
Außerdem mussten Menschen gefunden werden, die das Material aufarbeiteten und
lesbar machten – eine schwierige Aufgabe. »Denn die Texte waren zum Teil nur
noch schwer zu entziffern«, sagt Jochen Röhricht. In einem Fall waren sogar
deutsche Worte mit kyrillischen Buchstaben geschrieben worden, um die
Aufzeichnungen vor den Russen zu tarnen, berichtete Peter Walther.
Röhricht und Büstrin sorgten am Donnerstagabend
dafür, dass die Stimmung jener Zeit wieder auflebte – als die Menschen vor der
Entscheidung standen, vor den Russen zu fliehen oder zu bleiben, als das
tägliche Leben mehr einem Überleben glich, als es darum ging, seinen ganz
persönlichen Neubeginn irgendwie in den Griff zu bekommen.
Für die Lesung waren die Aufzeichnungen von vier Menschen herausgegriffen
worden: Helene Parpart (1888-1964), eine Lehrerin aus
Oehna bei Jüterbog; Elisabeth Buchholtz
(1870-1964), Pfarrersfrau aus Neuruppin; Robert Burmeister
aus Nauen und Reinhold Heinen
(1894-1969), Journalist, evakuiert aus dem KZ Sachsenhausen bei Wittenberge.
Es war vor allem die klare und knappe Sprache, die den Zuhörern am Donnerstag
auffiel. »Gestern bei Schmidts gewogen – 84 Pfund. So
wenig hatte ich nicht vermutet. Da wog wohl Mütterchen mit 96 Jahren mehr. Ich
aß eine Schinkenstulle bei Hanna und bei Bertholds zwei Birnen. Alles
ungewohnte und gewiß einzige Genüsse«, schreibt zum
Beispiel Elisabeth Buchholtz.
Björn Wagener,
in: Märkische Allgemeine am 21.05.2011
»Geschichte«, hat Voltaire gesagt, »ist die Lüge, auf die man sich
geeinigt hat.« Der Philosoph, der so scharfsinnig wie bissig sein konnte, hat
das Feld der Geschichtsschreibung selbst intensiv beackert. Mit seinen jede
übernatürliche Spekulation ausblendenden, kritisch hinterfragenden und über den
Horizont enger personen-zentrierter Chronologie
hinausreichenden Darstellungen ist er einer der Väter der modernen
Geschichtsschreibung. Er hat ihr den Weg
vorgezeichnet, sich nicht allein auf politische Verwerfungen zu stürzen,
sondern ein Bild zu zeichnen, in dem Lebensverhältnisse, Kultur,
Wissenschaft und Politik miteinander verschränkt werden. Zugleich aber hat er
sich eingestehen müssen, dass das Ergebnis immer die Farben des Verfassers
tragen wird. Die Wahrnehmung von Geschichte, das meint sein pointierter Satz,
ist stets subjektiv. Und vor allem in ideologisch aufgeheizten Zeiten sehr
anfällig dafür, besonders verzerrte Bilder zu liefern.
Als Paradebeispiel dafür kann die Aufarbeitung des Untergangs
Hitler-Deutschlands gelten. Da war vieles lange ein Tabu, die Verstrickung der
Wehrmacht in die schlimmsten Verbrechen des Dritten Reiches zum Beispiel oder
die Karrieren, die ehemalige SS- und Gestapo-Angehörige,
KZ-Wächter und Mitarbeiter des Volksgerichtshofs in der Bundesrepublik, aber
auch in der sich immer antifaschistisch gebenden DDR machten. Olaf Kappelt hat Jahrzehnte über dieses Kapitel ostdeutscher
Geschichte recherchiert. Sein »Braunbuch DDR« verschwand bis 1989 in Mielkes
Panzerschrank. Seine Studie über den Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten im
SED-Staat erschien erst 1997.
Genauso wurden die Übergriffe sowjetischer Soldaten und die furchtbaren Massenvergewaltigungen
deutscher Frauen lange totgeschwiegen. Als in den 1950er-Jahren ein Manuskript
einer anonymen Autorin auftauchte, in dem sie das Martyrium
schilderte, das die Berlinerinnen nach dem Einmarsch der Roten Armee über sich
ergehen lassen mussten, fand sich kein Verlag in der jungen Bundesrepublik,
der das Manuskript veröffentlichen wollte. In der DDR hatte es ohnehin keine
Chance. Nachdem es 1959 in der Schweiz erschienen war, blieb das Buch in beiden
deutschen Staaten ohne Echo. Erst als Hans Magnus Enzensberger vor acht Jahren
»Eine Frau in Berlin« herausgab, wurde der anonyme Bericht von einer breiten Öffentlichkeit
wahrgenommen – und löste sofort Diskussionen aus. Nun sind solche Mitteilungen
von Zeitzeugen zwar die reinste Subjektivität, aber dennoch für die
Nachgeborenen von unschätzbarem Wert, die sich anhand solcher Notizen ein eignes Bild der Vergangenheit und vom Alltag der Menschen
machen können und das ohne die Filter, die bereits Voltaire kritisiert hat.
Solche Quellen der Allgemeinheit zugänglich zu machen, das haben sich das
brandenburgische Literaurbüro in Potsdam und des
Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg mit dem Projekt »Zeitstimmen« zur
Aufgabe gemacht. Dafür sammeln und archivieren sie
Tagebücher von Brandenburgern, die auf der Internetseite www.zeitstimmen.de
veröffentlicht werden.
Diese privaten Aufzeichnungen umfassen einen Zeitraum von fast 200 Jahren. Es
beginnt mit den Notizen von Christiane Jacobi. Sie wurde um 1790 geboren, und
von ihr sind Mitteilungen aus dem Jahre 1813 erhalten,
die unter anderem
von den Auswirkungen der Befreiungskriege berichten,
von Offizieren, die sehr freundlich sind und die dem Volk auferlegten Lasten
sehr bedauern, um dann entschlossen zu requirieren, was Scheune und Boden
hergeben.
Freiwild für Plünderer zu sein, darüber beklagt sich zwei Jahrhunderte später
auch die Hornoer Pfarrerin Dagmar Wellenbrink-Dudat.
Sie erzählt von der Zeit, als die Homoer ihr Dorf verlassen mussten, bevor es wegen der
Braunkohleförderung abgebaggert wurde. Wie »Leichenfledderer«, schreibt sie,
seien die Menschen aus den umliegenden Regionen in das sterbende aber noch
immer bewohnte Horno eingefallen, um dort zu stehlen, was ihnen
irgend brauchbar erschien.
Für das Zeitstimmen-Projekt konnten nun auch etliche
Tagebücher zusammengetragen werden, die detailliert vom Alltag unmittelbar
vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs berichten. Sie sind nicht nur im
Internet zu finden, sondern jetzt in einem von Peter Böthig und Peter Walther
herausgegebenen Buch erschienen. »Die Russen sind da« heißt es. Die
Aufzeichnungen beginnen ein Jahr vor Kriegsende. Es ist die
Zeit als, solche in den »Nationalpolitischen
Erziehungsanstalten« zurechtgebogenen Jugendlichen wie Hans Müncheberg noch
euphorisch an Deutschland glaubten. Der Napola-Schüler
wird sich nach 1945 den Sowjets andienen, um einen Studienplatz zu bekommen und
sich später selbstkritisch mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen. Wer
1944 die Augen aufmacht, wie das der Seddiner Buchdrucker Erns
Grencku tut, sieht Deutschland sich selbst sein Grab
schaufeln. Vom »grenzenlosen Unrecht« des »deutschen Räu-bervolkes«
schreibt und sieht bereits die Rache voraus, die die Deutschen bald treffen
wird.
Fassungslos erleben sie mit, wie der Krieg, den sie in
die Welt hinausgetragen haben, nun zu ihnen zurückkehrt, wie die Neumark,
Cottbus oder Landsberg an der Warthe plötzlich zum Kriegsschauplatz und völlig
verwüstet werden, wie sich Flüchtlingsströme in das Land ergießen und die
Menschen sich aus Verzweiflung in Massenselbstmorde stürzen.
Das Ende des Krieges erscheint da nicht als ein Akt der Befreiung, sondern als
nahtloser Übergang vom Chaos zur Willkürherrschaft, mit der die russischen Soldaten
Brandenburg überziehen. Sie plündern und vergewaltigen und töten auch wahllos.
Sie werden besonders gefährlich und unberechenbar, wenn sie
betrunken sind, und das sind sie regelmäßig. Es gibt natürlich auch die
freundlicheren Russen, aber die Nachricht über sie
sind weit seltener.
Die Skepsis den Siegern gegenüber ist groß, genauso wie die zu dem neuen
System, das sie installieren, das nicht unbedingt von
unten gewollt, aber von oben durchgesetzt wird. Bei der Wahl 1946,
hält der Landwirt Willi Lorenz fest, ist es die CDU, die 65 Prozent der Stimmen
erreicht.
Es ist kein demokratischer Prozess, der der SED schließlich die Führungsrolle
überträgt, sondern ein diktatorischer Akt, der die Lethargie eines Volkes
ausnutzt, dass sich in erster Linie um sein Überleben
sorgt. Politik ist in dem zerstörten, ausgebluteten,
»von Korruption und Betrug« – so berichtet Grencku –
heimgesuchten Land zunächst zweitrangig. Als er sich die Frage stellt, wer in
der Sowjetzone künftig »die Oberhand« haben wird, notiert Willy Lorenz im Mai
1949: »Wir überlassen es dem Schicksal. Wir können ja
daran doch nichts ändern.« Am 6. Oktober 1949,
einen Tag vor der Gründung der DDR schreibt die Rathenowerin Hildegard Muschan in ihr Tagebuch: »Eine
Regierung ohne Volk, denn die 18 Millionen Deutsche werden nicht gefragt.«
Uwe Stiehler,
in: Märkische Oderzeitung, Brandenburger Blätter Nr. 216, 18. Februar 2011
Am 5. März schreibt Bäckermeister Erich Klietmann
aus Landsberg/Warthe:»Habe
mich reichlich mit allem versorgt. Habe Lieges schon
3 x mit Marmelade und Essiggurken ausgeholfen, wenn ich die Sachen alle für
mich behalten kann, habe ich keine Not zu fürchten. Fleisch u. Knochen haben
wir von Paula Giebels reichlich. Fleisch habe ich bis jetzt immer sehr
reichlich gehabt, esse gut und so viel ich kann.«
Ein unbekannter Unternehmer aus Cottbus ist unterdessen mit Fluchtgedanken
befasst. Am 6. März notiert er: »Wir wohnen noch
bei Dr. Fischer und haben es geschafft, alle Möbel soweit gut untergebracht.
Meine Angestellten sind alle weg, und die Stadt wird langsam richtig leer, doch
wir wollen erst gehen, wenn es sein muss. Vielleicht wird Cottbus doch
verschont und alles wird gut. Es gibt doch immer wieder Arbeit, da lässt sich
alles ertragen. Breslau wird umkämpft, Lauban, ach,
das schöne Schlesien ist wieder mal dran.«
Von einem unbekannten Soldaten, gefallen bei Klessin
im Oderbruch, liest man die Notiz vom 10. März: »Furchtbare
Kämpfe um den Ort! Ein Wunder, dass man noch lebt. Wir werden langsam weniger!«
Am 21. März greift auch der Tagebuchschreiber aus
Cottbus wieder zur Feder und gibt sich bedrückt: »Frühlingsanfang, ich habe
Weidenkätzchen, doch es will diesmal die Sonne in unserem Herzen nicht scheinen,
man lebt in Angst, ob wir raus müssen, wie oft die Bomber uns besuchen werden,
es ist schlimm um alles bestellt. Mutti hofft auch immer, nicht fort zu müssen,
es wäre traurig, zu den Flüchtlingen zählen zu müssen. Hilmar ist in
Boizenburg a. d. Elbe gelandet, von Marienburg Westpr. 800 km marschiert, ein grausames Leben. Man lebt
von Tag zu Tag und hofft, dass alles noch gut wird.«
Skepsis und Mutlosigkeit macht sich bei Ernst Grencku
breit, Buchdrucker in Seddin bei Potsdam. Am 1. April 1945 schreibt er: »Ostern! Im Osten steht die
Front noch immer an der Oder. Bald werden die Russen genügend Kriegsmaterial,
Treibstoff und Reserven gesammelt haben, um Brandenburg mit Berlin zu erobern.
Vielleicht dauert es noch einige Tage, aber dann ist es soweit, dass auch über
uns hier die Vernichtung hereinbricht. Und selbst wenn man diesen Endkampf
überleben würde, dann droht eine Hungersnot, welche ich und alle alten, nicht
mehr arbeitsfähigen Menschen nicht überstehen würden. Dann ist eben der Lebenstraum
ausgeträumt!«
Mit dem eigenen Schicksal hadernd, sinniert Erich Grencku
auch über die politische Zukunft: »Und doch geht
es wohl nicht anders. Deutschland als politischer Faktor muss nach seinem
zweimaligen Weltkriegs-
verbrechen
von der Erde verschwinden, damit der Weg für die Vereinigten Staaten Europas
frei wird. Genauso wie Japan, zum Segen und Frieden der friedliebenden Menschen.
(…)«
Und in pathetischem Ernst fährt er fort: »Ich will dieses Heft schließen
mit dem Wunsch: Möge die Sühne, welche das deutsche Volk und die deutschen
Menschen für ihre ungeheuerlichen Verbrechen an den eigenen
Volksgenossen und an Millionen Menschen anderer Völker (…) treffen muss und
wird, gerecht sein. Für jeden nach dem Grade seiner
Beteiligung und Förderung. Das gebe der gerechte Tod!«
Mitte April geht es dann aber sehr amtlich zu. Ein unbekannter Autor aus
Nauen schreibt: »Heute erschien der erste Maueranschlag, Tagesbefehl des
russischen Militärkommandos, Oberbefehlshaber der Bjelo-Russischen
Front, Marschall der SU, G. Schukow, Marschall-Stelle über Deutschland (…)
Tagesbefehl Truppen der Bjelo-Russischen Front
15.4.45 Nr. 5 im Felde:
1. Das ehemalige deutsche Gebiet der Provinzen Brandenburg und Pommern, das z. Z. von den Fronttruppen besetzt ist, ist frontnahes Gebiet.
2. Verwaltungsmacht in diesem Gebiet wird vom Militärkommando durch die Militärkommandanten
ausgeübt.
3. Durch die Militärkommandanten wird in jeder Stadt eine vollziehende Gewalt
bestimmt (Bürgermeister).
Aber es bleibt nicht bei amtlichen Mitteilungen. Hildegard Muschan, eine Kleingewerbetreibende aus Rathenow notiert
am 29. April 1945: »Die Schießerei ist unerträglich.
Mittags um halb 2 Uhr kommen viele Russen und treiben uns aus dem Haus.
3 Koffer konnte ich mitnehmen, der wertvolle Rucksack blieb zurück.« Und einen Tag später schreibt sie: »Wir sind im Buchenweg bei Albrechts. Die Nacht vom Sonntag
war furchtbar, 3 betrunkene Russen, 3 Schüsse fielen, Gott Lob passierte uns
nichts. Wir sind 16 Personen in einem Zimmer. Nichts zu essen. Man möchte
verzweifeln. Fritz schützt mich vor der Vergewaltigung. Ich klammere mich an
ihn.«
Am 8. Mai 1945, dem Tag des Kriegsendes, weiß
Helene Parpart, Lehrerin aus Oehna
bei Jüterbog, noch nichts von der neuen Nachrichtenlage. »Ein
Holländer erzählt, dass heute Nacht der Friede diktiert werde. Es gibt keinen
Strom, deshalb kein Wasser, kein Radio. 2 Frauen erzählen sich an der Pumpe: in Jüterbog haben sich ja so viele das Leben genommen. Ja,
sehr viele, aber das nützt einem ja auch nichts. Frauen, die von Cottbus nach
Zeitz unterwegs sind, wollen Quartier, ebenso Soldaten. Wir lehnen ab, denn es
gibt genug Scheunen und Strohmieten.«
Die Bedürfnisse des Alltags werden nach Kräften organisiert, und die Angst
vor den Russen geht über in ordnungspolitische Akte. Im Tagebuch der
Diakonissen im Luise-Henrietten-Stift Lehnin heißt
es am 25. Mai: »Ein russischer Oberleutnant kommt
und teilt uns mit, dass unser Land von ihm verwaltet wird. Wir hatten nach Harnacks Tod unser verpachtetes Land in eigene Verwaltung
genommen auf Anordnung des Bürgermeisters. Die Müch
von unseren Kühen muss jetzt in die Molkerei geliefert werden, da wir sonst
keine Butter erhalten. Wir bekommen dann aber auch Magermilch für alle Menschen.«
Und Helene Parpart, die Lehrerin aus Jüterbog,
hat auch einige Informationen über das politische Tagesgeschehen. Am 27. Mai schreibt sie: »Der Tag verläuft bei uns ruhig,
obgleich viele Russen unterwegs sind. In Jüterbog ist Tanz. Junge Mädels von
17 bis 25 werden zugelassen. Herr Nickel ist in Berlin gewesen. In Berlin
herrscht unter dem russischen Stadtkommandanten Ruhe. Es wird fleißig an der
Beseitigung der Trümmer gearbeitet. Täglich gibt es 300 g
Brot. Pgs (Parteigenossen –
d. Red.) kriegen Judenration. Das Geld gilt. Kinos,
Theater, Cafes sind auf. Eine Tasse Bohnenkaffee und
ein Buttercremetortenstück ist für 3,50 RM zu haben. Drei Zeitungen
erscheinen. Der Magistrat ist gebildet, Oberbürgermeister ein Dr. Werner, der
im Zuchthaus war. Rosenberg, Ley,
Backe sind gefangen.«
Ein unbekannter Zeitungsleser stellt sich unterdessen so seine Fragen und
gibt sich selbst Antworten. »Wenn
auch die Zeitung nicht viel aus dem Reich bringt, sondern nur alles im
russischen Sinne und Artikel über Russland, so ist doch immer etwas neues dabei. Wenn nun allerdings die geschilderten
russischen Verhältnisse in Wirklichkeit so sein sollten, dann sind wir von der Hitler-Regierung allerdings sehr stark beschwindelt
worden. In dieser Besetzungszeit seit dem 24. 4. hat es sich ja schon gezeigt,
dass die Angst vor der Roten Armee wirklich nicht nötig ist. Denn das Wenige,
was in den ersten Wochen vorgekommen ist, ist noch kein Grund, alles im Stich
zu lassen und die Flucht zu ergreifen.«
Die Todesfantasien Erich Grenckus,
dem Buchdrucker aus Seddin, haben sich als unbegründet
erwiesen. Lebensfroher ist er deshalb nicht geworden. Am 22.
Juni schreibt er: »Die Lage hat sich in den letzten zwei Wochen
nicht verändert. Die Gehässigkeit zwischen den Menschen ist nur noch größer
geworden. Ursache: Der schon in der Nähe auftauchende
brutale Kampf ums Dasein. Neuerdings tauchen wieder Gerüchte auf, dass dieses
Gebiet doch von den Amerikanern besetzt werden soll. Was besser sein könnte,
weiß man nicht. Für mich ist die Lage in Bezug auf meine Weiterexistenz gleich
hoffnungslos. Lebensmittel vollkommen unzureichend. Gemeinderat ist
umgebildet, lauter Nicht-Pg’s;
aber nicht die geringste Änderung erkennbar.«
Ein knappes Jahr später notiert Erich Grencku am 1. Mai 1946:
»Heute große Maifeier, russische Zone: neue SED genehmigt. Paris
Friedenskonferenz betr. fünf deutsche Vasallenstaaten: zuerst Italien. (…)
Persönlich: Elend! Heute kein Stück Fleisch, Butter, Zucker im Hause. Nur Brot
und Kartoffeln. In meiner Parteiangelegenheit rührt sich nichts.«
Harry Nutt, in: Berliner Zeitung Nr. 42, 19./20. Februar 2011
Selbst wenn
eine Welt untergeht, stirbt die Hoffnung zuletzt. »In Oehna
bleibt es ruhig«, notiert Helene Parpart am 20. April 1945 in ihr Tagebuch. Zwar fliegen »sehr schwere
Bomberverbände« über das Dorf bei Jüterbog, auch hört die 57-jährige Lehrerin
»starke Detonationen« und sorgt sich angesichts von Tieffliegern um ihre Verwandten.
Am selben Tag erlebt die junge Sekretärin Hanneliese Henow in Senzig, wenig südlich vom Berliner Ring bei Königs
Wusterhausen, wie die Rote Armee zum Sturm auf die Reichshauptstadt ansetzt: »Die östlichen Vororte von Berlin werden überrannt, und nun
beschießt feindliche Artillerie hauptsächlich Lichtenberg und Weißensee und von
Bernau her Pankow. Wir hören den Kanonendonner.«
Trotzdem versucht die gerade 20 Jahre junge Frau auch am folgenden Tag noch, zu
ihrer Arbeit in einer kleinen Fabrik zu gehen.
Helene Moldenhauer dagegen, eine 33-jährige
Kriegerwitwe mit zwei kleinen Söhnen, muss am selben Tag nördlich Berlins die
Flucht antreten: »Um halb elf Uhr unter
Tieffliegerbeschuss aus Bernau geflüchtet. Mit dem Auto (Wehrmacht) bis
Oranienburg. Dann weiter mit Fuhrwerk bis Germendorf, dort übernachtet zweimal
bei netten Leuten, im Bett geschlafen bei Frau Bürger«.
Drei Brandenburgerinnen, die alle denselben Tag beschreiben. Ein historisches
Datum, denn dieser sonnige, mäßig warme Frühlingstag war zugleich der letzte
Geburtstag des »Führers« Adolf Hitler und der Beginn des finalen sowjetischen
Sturmangriffs auf die zur »Festung« erklärten und sinnlos gegen eine vielfache
Übermacht verteidigten Reichshauptstadt Berlin. Von der Oder her waren
Panzerkolonnen der Roten Armee im Norden und im Süden Brandenburgs um Berlin
herum vorgestoßen. Zusammen mit der sowjetischen Hauptmacht, die sich auf dem
direkten Weg von Frankfurt (Oder) an die östliche Stadtgrenze vorgekämpft
hatte, sollten sie dem Dritten Reich den Garaus
machen.
Die militärische Strategie und der Vormarsch der Truppen sind bekannt, auch
viele Erlebnisse von Berlinern in diesen letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges.
Doch wie erlebten eigentlich die Brandenburger die entscheidenden Wochen
zwischen dem blutigen Ende des Dritten Reiches und dem Beginn einer neuen Zeit?
Wirklich als »Befreiung«, wie es die einzige zu DDR-Zeiten zulässige
Darstellung in Brandenburg festlegte? Als »Katastrophe« und »Untergang«, wie
Bernd Eichingers Film über das Ende in Berlin hieß? Oder hatten die Menschen,
die im Frühling und Sommer des Jahres 1945 um ihr
Überleben kämpften, vielleicht weder Zeit noch Geist, um über solche eher
philosophischen Fragen nachzusinnen?
Ein neues Projekt des Brandenburgischen Literaturbüros
Potsdam und des Kurt Tucholsky Literaturmuseums Rheinsberg gibt spannende
Antworten. Unter der Adresse www.zeitstimmen.de
ist seit wenigen Tagen das erste Portal für
historische Tagebücher im Internet aus Brandenburg seit 1813 zugänglich; der
Schwerpunkt des Materials liegt auf den Jahren 1944 bis 1949. Zum Start haben
Peter Böthig vom Tucholsky-Museum und Peter Walther
vom Literaturbüro deshalb zusätzlich einen Auswahlband herausgegeben, der vor
allem die sechs Monate zwischen Anfang April und Ende September 1945 behandelt,
also Kriegsende und Neubeginn.
Das Prinzip ist nicht neu. Als erster hat der
verstorbene Schriftsteller Walter Kempowski ab 1993
in den zehn voluminösen Bänden seiner Reihe »Das Echolot« den Versuch
unternommen, vergangene Wirklichkeit heutigen Lesern durch ein »kollektives Tagebuch«
deutlich zu machen. Der Unterschied zu den üblichen, auch in Brandenburg
zahlreichen Veröffentlichungen von individuellen Erinnerungen ist einfach:
Statt Tagebücher gewissermaßen »am Stück« zu veröffentlichen, ordnete Kempowski alle seine Quellen nach dem jeweiligen Datum. Er
beschränkte sich auf wenige kurze Zeiträume: Auf drei
Wochen im zweiten Halbjahr 1941 (»Barbarossa '41«), die ersten acht Wochen des
Jahres 1943 (»Das Echolot«), vier Wochen im Januar und Februar 1945 (»Fuga Furiosa«) und schließlich
die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges vom 20. April bis zum 8. Mai 1945
(»Abgesang '45«).
Doch es reicht nicht, die gesammelten Tagebucheinträge einfach chronologisch zu
ordnen; dieses relativ simple Verfahren führt noch nicht zu einer lesbaren Darstellung.
Die wichtigste Leistung von Kempowski war daher die
Komposition: Die jeweils ausgewählten Stücke mussten gemeinsam einen treffenden
Eindruck des Tages vermitteln, einer inneren Dramaturgie folgen und durften den
Leser nicht einfach mit Einzelerlebnissen überschütten. Nur wenn solche
Sammlungen, die es inzwischen in Anlehnung an Kempowskis
Idee reihenweise gibt, diesem Verfahren Kempowskis
folgen, können sie den heutigen Lesern Vergangenheit
nachvollziehbar machen.
In ihrem von der Bundesstiftung Aufarbeitung
geförderten Projekt haben Böthig und Walther Kempowskis
Idee ernst genommen - Auswahl und Anordnung der einzelnen in den Auswahlband
aufgenommenen Tagebucheinträge zusammen ergeben die besondere Wirkung. Das
vollständige Material, das durch weitere Schenkungen und Ankäufe auf
Flohmärkten stetig ergänzt werden soll, wird im Internet präsentiert,
erschlossen durch gleich mehrere Suchmöglichkeiten. Hier kann man sich
Erlebnisse an einzelnen Tagen anzeigen lassen, die Tagebücher bestimmter Personen
in ihrer ursprünglichen Ordnung lesen oder im Volltext
nach bestimmten Begriffen forschen. Das Online-Portal
ist ein mächtiges Instrument, um der Regionalgeschichte näher zu kommen - vor
allem, wenn es noch um viele weitere Quellen ergänzt werden kann, was die
Initiatoren hoffen. Schon jetzt aber erfüllt es den Anspruch, den der
Schriftsteller Günter de Bruyn formuliert hat:
»Diejenigen, die Geschichte machten und erlitten, sollen hier mit ihren Aufzeichnungen zu Wort kommen. So entsteht ein von den
Brandenburgern selbst geschriebenes Geschichtsbuch.«
Doch das gelingt eben nur, wenn die Komposition stimmt. Der Auswahlband zeigt,
wie es geht. Viele Tagebuchstimmen behandeln die Plünderungen durch die
vorrückenden Soldaten, auch die Sorge von Frauen vor Vergewaltigungen. Hanneliese Henow notierte etwa am
26. April 1945 über die russischen Soldaten in ihrem
Haus: »Immer, wenn sie die kleine Treppe herunter kamen, dachte ich: Jetzt,
jetzt kommen sie und holen dich! Dann atmete ich jedes Mal auf, wenn sie über den Blechabtreter in den Vorbau gingen.« Helene Moldenhauer entkam dem Schicksal ebenfalls: »Nachher, als sie angetrunken waren, da wollten sie was von uns wissen.
Ich und meine Schwägerin konnten entkommen, doch die Frau, wo wir wohnten,
musste jedoch dran glauben.«
Die Lehrerin Christel Parpart schrieb am 4. Mai 1945: »Vor allem, werde ich an meinem Körper
verschont bleiben? Der Oberleutnant von gestern gab mir den ,Vorgeschmack',
noch blieb mir die Jungfernschaft. Die Eltern bewachten heute Nacht die Treppe
und Oma mein Bett. Viermal gingen die Sowjets rauf und kehrten auf der Treppe
wieder um. Zweimal kamen sie in die Stube, ließen es
aber.« Dagegen notierten Frauen, die Opfer solcher Gewalt wurden, nur selten
etwas darüber, beließen es bei Andeutungen.
Bemerkenswert ist auch, wie Tagebücher von ganz normalen Menschen politische
Gerüchte dokumentieren. Schon am 28. Mai 1945 notierte
Hanneliese Henow etwa:
»Mister Churchill soll zurückgetreten sein und Amerika seine Gesandten aus
London zurückgezogen haben. Es heißt auch, die Russen würden sich an der Elbe
verschanzen, und sobald sich der Amerikaner rührt, würden sie
schießen.« Das Hörensagen griff der Realität des beginnenden Kalten Krieges
hier um mindestens sechs Monate voraus.
Im Sommer 1945 zeigte sich dann, dass trotz all der Belastungen, der
Plünderungen und der Leiden an den Folgen von Hitlers Krieg das Leben
weiterging - auch in Brandenburg. In den Tagebücher spiegelt sich auf Schritt
und Tritt die verzweifelte Situation; Marianne Vogt, 31 Jahre, aus Rehbrücke südlich von Potsdam brachte es auf den Punkt:
»Das eigene Leben und wie man es erhalten kann gilt,
sonst nichts.« Die 75-jährige Pfarrersfrau Elisabeth Buchholtz
aus Neuruppin genoss Anfang August ausnahmsweise eine »Schinkenstulle« und zwei
Birnen: »Ungewohnte und gewiss einzige Genüsse.« Die Normalität sah anders aus,
wie die täglichen Notizen des schon 72-jährigen Robert Burmeister
aus Nauen zeigen. Im Juni 1945 vermerkt er fast Tag
für Tag, dass »Personen über 60« täglich »einen halben Liter saure Magermilch«
zugeteilt bekamen. Sein Enkel immerhin, ein Junge namens Heinerle,
durfte sich an »einem halben Liter Vollmilch« laben. So knapp ist die
Zuteilung, dass Burmeisters ganze Familie in den Wald
und auf die Felder geht, um Beeren und Erbsen zu pflücken. In seinem Tagebuch
spiegelt sich die zunehmende Verzweifelung über die
Versorgungslage deutlich. Dagegen fasste die 18-jährige Gertrud Müller aus
Diedersdorf, einem Ortsteil von Großbeeren, schon wieder Hoffnung. Seit Wochen
musste sie helfen, die gröbsten Spuren des Krieges zu beseitigen,
Granattrichter zuschaufeln, eilig verscharrte Soldatenleichen einigermaßen
unter die Erde bringen und ähnliches. Dann, am 12. August 1945, einem Sonntag, erlebt sie eine große
Überraschung: »Ich bin von den Socken! Heute nicht gearbeitet, und doch gibt es
eine Tagesverpflegung! Oh, die Zeiten bessern sich!«
Sven Felix Kellerhoff,
in: Berliner Morgenpost am 13.02.2011
»Der
Krieg hat für Deutschland ein kritisches Stadium erreicht, dementsprechend sind
auch die Wachsamkeit und das Misstrauen der Nazis gestiegen. Es ist zu
gefährlich, dieses Heft in der Stube aufzubewahren«, notiert Ernst Grencku aus Seddin bei Potsdam am
15. Februar 1944 in sein Tagebuch. Der Buchdrucker
schreibt in deutscher Sprache, benutzt jedoch kyrillische Schriftzeichen. So
kann nicht jeder gleich entziffern, was in diesem Tagebuch steht. »Die deutsche
Bestie beißt noch um sich... «, vermerkt Grencku. »Keiner sieht das
grenzenlose Unrecht ein, welches dieses deutsche Räubervolk begangen hat und
weiter begeht. Also werden auch wir wenigen Menschen, die den Krieg und das
ungeheure Leid verabscheuen, noch vieles erdulden müssen.«
Die chronologisch geordneten Notizen von 36 Menschen versammelt das Buch »Die
Russen sind da«. Im Zentrum stehen die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs und
die ersten Tage danach. Grenckus Worte befinden sich
ganz vorn.
Der Buchdrucker sehnt die Ankunft der sowjetischen Truppen herbei – und sei es
um den Preis seines eigenen Untergangs. Als es dann soweit ist, ärgert ihn
maßlos, dass nur ein paar Nazibonzen für ihre
Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden und die vielen kleinen Faschisten
mit und ohne Parteibuch (seiner Meinung nach die große Mehrheit des deutschen
Volkes) ungeschoren davonkommen. Diese Menschen betätigen sich als Schieber
oder sitzen in der Verwaltung und fressen sich einen runden Bauch an, während
er Not leiden müsse. Akribisch notiert Ernst Grencku,
wie wenig Lebensmittel er und seine Frau erhalten. Er erwartet sein Ende. 1947
stirbt er.
Vom Nazi bis zum Widerstandskämpfer – im Buch ist
alles dabei. Hans Müncheberg macht eine Wandlung durch. Als Zögling
der faschistischen Erziehungsanstalt in Potsdam berichtet der Junge seiner
Mutter in Templin begeistert, wie er mit seinen Kameraden ballern darf. Nach
der Befreiung tritt er in die FDJ ein und schreibt seinem Vater 1948, er sei
jetzt Angestellter der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion.
Später wird Hans Müncheberg Dramaturg bei der DEFA und beim DDR-Fernsehen, er
verfasst zahlreiche Bücher.
Der Satz »Die Russen sind da« markiert den Moment der Befreiung vom Faschismus.
Doch viele Tagebuchschreiber sind deswegen keineswegs glücklich. Sie schimpfen
über Uhrendiebstähle und Vergewaltigungen, klagen
ahnungslos, nicht zu verstehen, womit Deutschland seine »Unterjochung« verdient
habe. Andere sind nicht so naiv. Sie wissen oder ahnen zumindest, wie SS und
Wehrmacht an der Ostfront und in ihrem Rücken
brandschatzten und mordeten. So heißt es zum Beispiel auch, der neue Kommandant
sei Jude und das bedeute sicher nichts Gutes nach allem, was den Juden von
Deutschland angetan wurde.
Ein namentlich nicht bekannter Tagebuchschreiber registriert in Nauen den geordneten Durchzug sowjetischer Infanteristen mit
sauberen Uniformen. Das Gerede von den russischen Horden erkennt er als
Propagandalüge.
Eine Familie in Cottbus erwägt den Selbstmord, doch Bekannte raten ab. Man
müsse nur ein oder zwei Wochen durchhalten. Der Russe
sei im Prinzip gutmütig, seine Wut verständlich. Es werde sicher bald besser.
Tatsächlich ist dann die Rede von freundlichen Soldaten, die den Kindern etwas
zustecken. Es entwickeln sich Freundschaften. Der Landwirt Willy Lorenz muss
seinen Hof in der Neumark aufgeben. Das Heimatdorf wird nun zu Polen gehören.
Nach einer Irrfahrt durch Brandenburg gerät Lorenz nach Bückwitz bei
Wusterhausen/Dosse. Dort erhält die Familie die
Chance für einen Neuanfang. Sie bekommt Land durch die Bodenreform. Willy
Lorenz arbeitet hart, verdingt sich zusätzlich bei einem alteingesessenen
Bauern. Es fehlen zunächst Ackergeräte und Vieh. Aber langsam geht es aufwärts.
Von jedem Weihnachtsfest sagt Lorenz, es sei schon besser gewesen als im Jahr
zuvor. Er spricht schließlich davon, man habe genug zu essen, sogar ein
reichliches Festmahl genossen.
Die Landwirte in Bückwitz küren Willy Lorenz zum Chef der örtlichen Vereinigung
der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). Das sorgt für zusätzlichen Stress, etwa,
wenn er unterwegs ist, um einen Traktor anzuschaffen. Aber Willy Lorenz hält
zunächst durch. Er möchte seinen Teil zum Wiederaufbau beitragen. Damit ist die
Geschichte aber nicht zu Ende. 1956 flieht die Familie in den Westen.
Immer wieder notieren die Tagebuchschreiber Gerüchte, wonach die sowjetischen
Streitkräfte bald hinter die Oder abziehen und durch britische oder
US-amerikanische Besatzungstruppen ersetzt werden. So subjektiv und oft auch
falsch einzelne Einschätzungen sind, insgesamt ergibt sich ein realistisches
Bild vom damaligen Alltag. Dadurch überzeugt dieses Buch.
Ganz zum Schluss kommt eine Eintragung von Hildegard Muschan
aus Rathenow vom 6. Oktober 1949. »Zu
heute hatte Friedel eine große Wäsche angesetzt. Ich half ihr
beim Spülen und Aufhängen und hatte reichlich damit zu tun. Das Wetter war
nicht gut und die Wäsche musste abends halbnass
abgenommen werden«, schreibt Muschan
einen Tag vor der Gründung der DDR. »In dem Ostsektor
von Berlin bereitet sich die Ostregierung vor, an der Spitze Grothewohl und Nuschke sowie
Pieck. Eine Regierung ohne Volk, denn die 18 Millionen Deutsche werden nicht
gefragt.« Der Mann der Ladeninhaberin wurde im
September 1945 verhaftet. Er starb 1947 im sowjetischen Speziallager in Ketschendorf.
Andreas Fritsche,
in: Neues Deutschland am 14.2.2011
»In Lehnin
ist Panik ausgebrochen, die Russen sind ganz dicht, alles flüchtet.« So ist es
im kollektiven Tagebuch der Diakonissen des Luise-Henrietten-Stifts
vom 23. April 1945 nachzulesen. Wenn Altoberin Ruth Sommermeyer heute durch die Jahrgänge der »täglichen
Notizen« ihrer Vorgängerinnen blättert, ist sie
fasziniert und angetan zugleich. Obwohl der Krieg Ende April 1945 bis ins
Kloster dringt, lassen sich die Diakonissen nicht von ihrer
Pflicht abbringen, das über sie hereinbrechende Chaos auf Papier zu verewigen.
»Es ist erstaunlich, wie es meinen Mitschwestern
gelang, trotz des Elends bei den Tatsachen zu bleiben und persönliche Emotionen
zurückzuhalten. Für mich sind diese Aufzeichnungen ein Geschenk der Geschichte«, sagt die 79-Jährige. Ruth Sommermeyer
kam 1968 nach Lehnin und stand dem Diakonissen-Mutterhaus
bis zum Eintritt in ihren Ruhestand 1997 als Oberin vor. Sie selbst führte noch
bis Anfang der 90er- Jahre das Tagebuch der
Diakonissen. Dann war es mit der 1917 begonnenen Tradition zu Ende. Seit damals
haben die Ordensschwestern in zahlreichen Diarien gute 4000 Seiten mit den
wichtigsten Ereignissen im Stift gefüllt.
Ein Bruchteil davon findet sich in dem gerade erschienen Band »Die Russen
kommen« wieder. Die Diakonissen gehören zu den
insgesamt 30 Autoren aus ganz Brandenburg, die über die schwere Zeit 1945
berichten. Und doch gibt es für Stefan Beier, Leiter
des Museums auf dem Lehniner Stiftsgelände, einen wichtigen Unterschied. »In der Regel sind Tagebücher von persönlichen Erlebnissen
geprägt. Bei den Notizen der Diakonissen handelt es sich um ein Zeugnis der
kollektiven Erinnerung mit einer deutlich geringeren emotionalen Komponente«,
findet Beier. Das macht die Aufzeichnungen aber nicht
weniger spannend. Man möchte nicht aufhören zu lesen, was zwischen dem 12. April und 22. September rund um die Klosterkirche passierte.
Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro und
Peter Böthig von der Rheinsberger Kurt-Tucholsky -Gedenkstätte haben das
kürzlich in Potsdam vorgestellte Buch herausgegeben. Aus 120 gesichteten
Tagebüchern wurde ein Teil ausgewählt: der begeisterte Napola-Schüler,
der eingekesselte Soldat, der KZ-Häftling aus Sachsenhausen, die Lehrerin und
eben auch die Diakonissen aus Lehnin.
Frank Bürstenbinder, in: Märkische Allgemeine am 9.2.2011
Tagebücher, Briefe und Fotos
sind in bedrohlichen Zeiten von besonderem Wert. Für die, die sie anfertigen, um sich unmittelbar zu erleichtern. Und für
Nachgeborene, die sich mit ihrer Hilfe ein
authentisches Bild verschaffen können.
Denn Filme, Zeitungen und Romane in den Fängen einer Diktatur verzerren in der
Regel die gesellschaftliche Wirklichkeit. Persönliche Aufzeichnungen aber, die
sich keiner äußeren und inneren Zensur unterwerfen, bringen direkt und
unverfälscht die Stimmungen, Redewendungen und Denkweisen ihrer
Zeit zur Sprache.
Alle Jubeljahre um den 8. Mai herum
brandet in Deutschland eine Diskussion auf, ob dieser Tag 1945 als Befreiung
oder Niederlage erlebt wurde. Die Einlassungen der Historiker sind oft
abgehoben und vereinnahmend, weil sie über die nicht
geschichtsträchtigen Momente des Alltags hinwegsehen und die Vielfalt der
Lebensperspektiven vernachlässigen.
Dieses Ungenügen hat den Romancier Walter Kempowski
(1929–2007) keine Ruhe gelassen. Er entwickelte eine neue Gattung der
literarischen Geschichtsschreibung, die
das Individuum nicht länger marginalisiert und bevormundet. Ungezählte
Schriftzeugnisse aus der Privat- und der öffentlichen Sphäre montierte Kempowski zu vielstimmigen Collagen, die er »Echolot«
nannte. Sein letztes »kollektives Tagebuch« publizierte er 2005 mit dem
Untertitel »Abgesang45«. Darin kommen in faszinierender Dichte neben Hunderten
unbekannten Persönlichkeiten (von Ostarbeiterin über Wehrmachtssoldat bis zum
Obergefreiten) auch viele Prominente zu Wort (etwa Hitler, Stalin, Ernst Jünger
oder Thomas Mann).
Unter dem Datum 30. April 1945 blendete Kempowski
auch 17 Zeilen von dem Potsdamer Schriftsteller Hermann Kasack (1896–1966) ein.
Als dessen »Aufzeichnungen über das Kriegsende in Potsdam« 1996 veröffentlicht
wurden, durfte man gespannt sein: Wie hatte dieser Vertreter der inneren
Emigration, der den Nazis nie gewogen war, den
Einmarsch der Russen erlebt? Die Antwort: voller Angst, aufs Schlimmste
gefasst, niedergedrückt.
Peter Böthig und Peter Walther, zwei promovierte Germanisten aus Brandenburg, haben
sich nun wiederum von Walter Kempowskis inspirieren
lassen und mit dem Buch »Die Russen sind da« eine Art Echolot für Brandenburg
herausgebracht. Durch Aufrufe in den Zeitungen (auch in der MAZ) und Stöbern in
vielen Archiven förderten sie etliche Tagebücher und
Briefkonvolute zu Tage. Unter Verzicht auf bereits veröffentlichte (prominente)
Stimmen – etwa die von Hermann Kasack – erstellten sie
ein kollektives Tagebuch, in dem eine Pfarrersfrau aus Neuruppin und ein
Kleingewerbetreibender aus Rathenow, eine Sekretärin aus Diedersdorf und ein
Unbekannter aus Xauen den Hergang des Kriegsendes und
den Neuanfang quasi mitstenografieren. Die über den
Kalender locker verstreuten Textbausteine ergeben eine »Geschichte von unten«,
denn auf das Einblenden von Dokumenten aus den Reihen der
nationalsozialistischen Entscheidungsträger verzichten Böthig und Walther.
Besonders eindrucksvoll – weil entschiedener und klarer als Hermann Kasack –
sind die Notizen von Ernst Grencku, eines 1882
geborenen Buchdruckers, der in Seddin lebte. Dem
sorgfältigen Anmerkungsapparat ist zu entnehmen, dass er sein Tagebuch »in
kyrillischer Schrift mit deutscher Lautung« führte, um als Chronist unentdeckt
zu bleiben: »Immer noch ist der große Teil der hiesigen Bevölkerung, soweit er
nicht direkte Verluste erlitten hat, kriegslustig und voller
Siegesbewusstheit«, notiert er im November ‚’44.
Von geradezu rührender Naivität sind die Briefe des 15-jährigen Napola-Schülers Hans Müncheberg (»Dein Hänschen«) an seine
Mutter in Templin: »Mir passte die Uniform ganz gut,
und ich kam mir ungeheuer fein vor. Gentlemanlike«,
schwärmt er und beschreibt enthusiastisch die Truppenübungen in Potsdam.
Angefügte Verse mit dunklen Todesmetaphern sprechen aber eine andere Sprache.
Am 4. Mai ’45 notiert Hannelies
Henow, eine Sekretärin aus Senzig: »Wir haben kein
Vaterland mehr! Niemand kann uns vor Raub und Vergewaltigung schützen.« Sie schildert auch, wie ängstlich sie
Hakenkreuzfahne und Hitler-Bücher verbrennt.
Ebenfalls am 4. Mai bemerkt Helene Parpart aus Oehna bei Jüterbog: »Keine Feinde im Hause und ganz ruhige
Nacht.« In die unheimliche Stille hinein erinnert die Lehrerin dann einen
Dialog der Dorffrauen an der Wasserpumpe: »In Jüterbog
haben sich ja so viele das Leben genommen.– Ja sehr viel, aber das nützt einem
ja auch nichts.« Am 5. Mai ’45 notiert Reinhold Heinen, ein frei gekommener
Häftling aus Sachsenhausen: »Überall weggeworfene Gegenstände… Natur lacht und
blüht.«
Wer mehr über das Erscheinungsbild der Siegerarmee oder über die Gerüchte, die damals
kursierten, erfahren will, findet in diesem Buch viele Quellen. Wie es unter
der roten Fahne weitergeht, wird auch schon angedeutet. Klaus Müncheberg, der
als 18-jähriger Soldat ein Bein verlor und 1947 als FDJ-Funktionär durchs Land
zieht, schreibt seinem Onkel: »Ich habe mich mündig erklären lassen, weil mir
sonst die politische Einstellung meines Vaters Schwierigkeiten bereiten würde.«
Karim Saab, in: Märkische
Allgemeine Zeitung 29./30. Januar 2011
Sie hat sich nicht versteckt, sie ist auch nicht geflohen.
Christel Kersten hat in dem kleinen Ort Cammer bei Belzig ihre
Stube saubergemacht. Dann hat sie sich geschminkt und einfach nur gewartet. Die
heute 92-jährige Frau, die viele Jahre hörgeschädigte Kinder unterrichtete,
kann sich noch gut an jenen 3. Mai 1945 erinnern. An dem Tag hatte das
Warten ein Ende und auch dieses qualvolle »nicht wissen, was los ist«, wie sie sagt. »Auf der Straße vor dem Fenster stand plötzlich
ein Russe mit einem Maschinengewehr«, sagt sie. Dann ging auch schon ihre Tür auf und ein Offizier stand vor ihr. »Die Russen
waren da.«
Christel Kersten hieß damals noch Parpart. Sie war 23
Jahre alt und Lehrerin in Cammer. Die Schule war seit kurzem ein
Flüchtlingslager, die Flüchtlinge, die durch den Ort zogen, die einzige
Informationsquelle für die Einheimischen. »Ab März
wusste man nichts mehr. Man ahnte nur, dass etwas kommt, aber nicht, wann und
wie. Es gab keine Zeitungen mehr und kein Radio«,
erzählt die alte Dame, die heute in Eberswalde lebt.
Christel Kersten hat damals Tagebuch geführt. Sie hat Alltägliches
aufgeschrieben in dieser extrem ereignisreichen Zeit, hat ihre
Sorgen und Nöte zu Papier gebracht. Von der Angst vor Vergewaltigung
geschrieben ebenso wie von heute ganz banal klingenden Dingen.
Auch Christel Kerstens Mutter Helene Parpart, die
damals in Oehna bei Jüterbog lebte, schrieb das
Erlebte auf – jeden Tag und ausführlicher als ihre
Tochter. »Sie hat wohl gewusst, dass sie in diesen
denkwürdigen Zeiten ganz korrekt und ohne Emotionen das aufschreiben muss, was
ihr widerfahren ist«, erzählt Christel Kersten. Und so beschreiben die
Aufzeichnungen von Helene Parpart den Irrsinn in
einer unfassbaren Zeit. An einem Tag schrieb sie von einer Familie, die sich
aus Angst vor den Russen das Leben genommen hat. Wenige Zeilen später schreibt
sie vom Kirscheneinwecken und einer Taufe.
Die Aufzeichnungen sind Teil des außergewöhnlichen Projekts »Zeitstimmen« des
Potsdamer Literaturbüros und des Kurt Tucholsky Literaturmuseums in Rheinsberg.
Seit zwei Jahren wurden dafür 120 Tagebücher zusammengetragen – das älteste
stammt aus dem Jahr 1806, das jüngste ist von 2008. Entstanden ist ein
kollektives Tagebuch, in dem sich der Wandel der Lebensverhältnisse in
Brandenburg nachvollziehen lässt. Und entstanden ist daraus ein Buch – ein
Psychogramm der Brandenburger in den letzten Kriegstagen und der
Nachkriegszeit. »Die Russen sind da«, das Buch beschreibt den individuellen
Kriegsalltag und den Neubeginn 1945.
Warum man ausgerechnet diese Zeit für eine Veröffentlichung gewählt hat,
erklärt Herausgeber Peter Walther vom Literaturmuseum so: »Zwei
Drittel aller Tagebücher, die uns zur Verfügung gestellt wurden, stammen aus
der Zeit von 1939 bis 1945. Und die Hälfte davon aus den letzten Kriegsmonaten.« Die oft kleinsten Notizen von 30 Menschen – vom Landwirt,
über die Sekretärin bis hin zum Hotelbesitzer – sind in dem Buch abgedruckt.
Die Erlebnisse seien »mit existenzieller
Wucht« niedergeschrieben worden, sagt Walther. Sie zeugten von einer Hoffnung
auf Normalität, die es nicht mehr gab. »Je krasser die Ereignisse, desto
häufiger griffen die Menschen zur Feder«, sagt Walther. Am meisten beeindruckt
haben den Germanisten die Aufzeichnungen eines Soldaten, der im März 1945 in Klessin im Oderbruch eingekesselt wurde und dort offenbar
gefallen ist, während er seine letzten Worte zu Papier brachte. »Er hat trotz
seiner hoffnungslosen Lage Tag für Tag ein paar Zeilen geschrieben«, sagt
Walther. So etwa am 10. März 1945: »Furchtbare
Kämpfe um den Ort!! Ein Wunder, daß man noch lebt.
Wir werden langsam weniger.« Zwei Tage später ist zu
lesen: »Wir sind eingeschlossen!! Ohne Verpflegung.
Etwas ruhiger. Furchtbares Trommelfeuer.« Die
Aufzeichnungen enden am 21. März mit drei unleserlichen Worten. Das Tagebuch
stammt aus dem Nachlass eines Mannes, der nach dem Krieg als Kind die Notizen
des Soldaten in einem alten Gehöft gefunden und bis zu seinem Tod aufbewahrt
hatte.
Erstaunlich ist für Walther auch, wie die Gerüchteküche
damals brodelte. »Es fehlten einfach Informationen«, sagt Walther. Das Ergebnis
hört sich skurril an. »Immer wieder wird erzählt: z.
B. im Juli 45. Es wird ein zweijähriges Heiratsverbot und ein mehrjähriges
Alkoholverbot kommen«, schrieb ein Unbekannter auf.
»Diese Gerüchte hielten sich hartnäckig«, sagt Walther.
Christel Kersten hat sich damals nach der Begegnung mit dem russischen Offizier
bei den Nachbarn versteckt. Unter der Bettdecke,
erzählt sie. Und sie erinnert sich noch daran, dass sie
sich die Frage gestellt hatte, ob sie weiterhin als Lehrerin arbeiten darf. Sie
war 23, als sie auf Wunsch des Vaters in die NSDAP
eingetreten ist. Weil es für einen Beamten besser sei, war sein Argument. »Ich
bin dann entnazifiziert worden«, sagt Christel Kersten. An das Verhör entsinnt
sie sich noch genau. »Damals ist bei mir der Entschluss gewachsen, russisch zu
lernen«, sagt sie.
Karin Bischoff, in: Berliner Zeitung Nr.
24, 29./30. Januar 2011
»Mit Siegfried im
Kindergarten, für Montag angemeldet.« Das schrieb Hedwig Schob
am 15. März 1945 in ihr Tagebuch. Fast täglich listete sie auf: Wie lange
dauert der Alarm? Von wann bis wann war Strom da? Was gibt es zu essen?Was macht Siegfried?
Heute ist der kleine Siegfried ein grauhaariger Mann, der immer noch in
Falkensee wohnt. Gestern Vormittag war er in die Potsdamer Villa Quandt gekommen, um dabei zu sein, wenn
das Buch »Die Russen sind da« vorgestellt wird. Die Notizen seiner
Mutter gehören zu diesem Buch, das den Kriegsalltag und Neubeginn 1945 in
Brandenburg aus ganz persönlicher Sicht aufzeigt. Die Falkenseerin Hedwig Schob kommt in dem Buch neben 29 anderen Frauen und Männern
zu Wort.
Schon im Vorfeld dieser Präsentation hatte das Projekt für mediales Aufsehen
gesorgt. Die Räume der Villa Quandt konnten gestern
dem Ansturm der Besucher nicht gerecht werden.
Peter Walther vomBrandenburgischen Literaturbüro und
Peter Böthig von der Rheinsberger Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte haben das Buch
herausgegeben. Dazu hatten sie 120 Tagebücher
gesammelt und gesichtet, mühsam wurden die oft in Sütterlinschrift gehaltenen
Notizen übersetzt. Ein Viertel der Tagebücher wurde schließlich ausgewählt: der
begeisterte Napola-Schüler, der eingekesselte Soldat,
der KZ-Häftling aus Sachsenhausen, die Lehrerin aus Oehna
bei Jüterbog, die Diakonissen im Luise-Henrietten-Stift
Lehnin – ganz unterschiedliche Stimmen werden im Buch tageweise angeordnet.
Dabei ganz dem großen Vorbild, dem »Echolot« von Walter Kempowski
folgend, ist eine Sammlung entstanden, die in ihrer
Unmittelbarkeit unter die Haut geht.
Einige wesentliche Beiträge stammen aus dem Havelland. So kommt Hedwig Luschei zu Wort, sie betrieb in Falkensee-Finkenkrug
einen Lebensmittelladen. Zwischen Angst, Pflichtbewusstsein, Pragmatismus und
Wut bewegte sich ihr Leben. Die Menschen stürmten ihren Laden, doch sie durfte nur gegen Marken verkaufen, am
23. April 1945 versuchte sie eine amtliche Freigabe zu erreichen,
»Polizeiwache Finkenkrug – kein Mensch – keine Auskunft – kein Anschlag«, sie
radelte zum Rathaus. »Die Straßen sind tot und leer,
wie ausgestorben. Unheimlich!« Im Rathaus keinMensch.»Mich überläuft es eiskalt und packt mich dabei
eine unheimliche Wut. So sieht es also aus! Als wehrlose Frau
sucht und rennt man um einen Rat – da findet man dann nach vielem Hin
und Her im Bunker hinter Schloss und Riegel die Herren! Angst haben sie, weiter nichts als Angst!«
Flucht oder Bleiben? Angst hatte auch jener Mann aus Nauen,
dessen Name nicht überliefert ist. Akribisch hatte der Unbekannte sein Tagebuch
geführt. Genau notierte er, wie viele Fahrzeuge, Menschen, Kühe auf der Straße
vor seinem Haus vorbeizogen. Wütend war er über fremde und einheimische
Plünderer. »Mit nichts sind alle als Fremdarbeiter gekommen, mit voll beladenen Wagen schleppen sie das Eigentum der
Deutschen heraus«, notiert er am 27. April 1945.
Der 8. Mai 1945 ist ein Dienstag. »Wir hören
Hurrarufe der Russen. Der furchtbarste Krieg aller Kriege ist zu Ende. Armes
Vaterland, wie wird es dir nun ergehen?«, fragte sich
Hildegard Muschan, die einen Handarbeitsladen in
Rathenow betreibt. Ihr Mann war Jurist, wurde im Mai 1945 als Staatsanwalt
eingesetzt, aber dann verhaftet; sie sah ihren Fritz
nie wieder, er starb in einem sowjetischen Speziallager.
30 Tagebücher, 30 Sichten. Auch auf die Russen: Die einen der Soldaten
streicheln den Kindern über den Kopf, die anderen plündern und vergewaltigen.
Selten ist da ein Tagebuchschreiber, der den Krieg und die Schuld der Deutschen
reflektiert.Der tägliche
Überlebenskampf überdeckte auch das.
Marlies Schnaibel,
in: MAZ, Der Havelländer 31.
Januar 2011
»Ostern! Im Osten steht die Front noch immer an
der Oder. Bald werden die Russen genügend Kriegsmaterial,
Treibstoff und Reserven gesammelt haben, um Brandenburg und Berlin zu erobern.
Vielleicht dauert es noch einige Tage, aber dann ist es soweit, dass auch über uns hier die Vernichtung hereinbricht.«
Mit diesem Tagebucheintrag des in Seddin lebenden
Buchdruckers Ernst Grencku vom 1. April 1945
begann am Dienstagabend in der voll besetzten
katholischen »Arche« die Vorstellung eines außergewöhnlichen Buches.
Vor knapp zwei Jahren starteten Peter Böthig vom Rheinsberger
Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum und Peter Walther vom Brandenburgisehen
Literaturbüro in Potsdam ein »Zeitstimmen«-Projekt: Idee
war die Sammlung privater Tagebücher, Briefwechsel und
anderer Dokumente als Materialbasis für ein kollektives
Tagebuch, das die Geschichte des Landes aus der Alltagsperspektive erzählt.
Bislang kamen laut Walther rund 120 Tagebücher zusammen, das älteste von 1813, das jüngste von 2008. Auffällig sei bei dieser fast
200 Jahre umfassenden Zeitspanne eine besondere Häufung von Erinnerungen
aus Umbruchszeiten. Sehr viele Einsendungen betrafen laut Walther das Ende des
Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit, aber auch die Zeit der Wende 1989.
Vorgestellt wurde am Dienstag mit dem Buch »Die Russen sind da« ein erster, 500
Seiten umfassender Extrakt dieser Sammlung mit 30 Tagebüchern, die vom 15. Februar 1944 bis zum 6. Oktober 1949
von »Kriegsalltag und Neubeginn in Brandenburg« erzählen. Die Notizen sind datumsweise zusammengefasst. In der Mitte
des Buches finden sich mehrere Seiten mit Privatfotografien
in Agfacolor, darunter auch eine Aufnahme des zum Schutz vor Bombenschäden zugemauerten Schlosses Sanssouci. Aufzeichnungen aus Potsdam
sind nicht dabei, weil es laut Walther für diese Zeit aus Potsdam
keine Einsendungen gab.
Auf Mutmaßungen aus dem Publikum, nach denen die
chaotischeren Umstände in Berlin und
Potsdam zum Kriegsende keine Zeit für private Notizen ließen, antwortete Walther mit dem Beispiel anderer, gleichfalls unter
extremen Umständen angefertigter Zeugnisse: So notierte ein Häftling des KZ Sachsenhausen die Umstände des Todesmarsches
nach der Evakuierung des Lagers, ein Soldat schrieb wohl unmittelbar vor seinem
Tod Beobachtungen auf zwei Kalenderblätter, die später von spielenden Kindern gefunden wurden.
Die offizielle Buchpräsentatioh
ist am Sonntag, 30. Januar, um 11 Uhr in den Räumen des Brandenburgischen Literaturbüros in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47. Dann soll unter
der Adresse www.zeitstimmen.de zugleich das erste deutsche Internet-Portal
für historische Tagebücher freigeschaltet werden. Laut Walther können dort zunächst 4000 Einträge nach Orten, Themen, Datum oder Zeitraum recherchiert werden.
Das Portal soll für weitere Einsendungen offen bleiben.
Das nächste »Zeitstimmen«-Buchprojekt
kündigte Walther in der »Arche« schon einmal für das Ende dieses
Jahrzehnts an, wenn der 30. Jahrestag des Mauerfalls
ansteht.
Volker Oelschläger, in: Märkische Allgemeine vom 13.01.2011
Am Sonntag, 30. Januar, wird um 11 Uhr in
der Villa Quandt Große Weinmeisterstraße 46/47, das Buch »Die Russen sind da –
Kriegsende und Neubeginn 1945 in Tagebüchern und Briefen aus
Brandenburg« vorgestellt.
Das Buch geht vielfältigen Fragen auf den
Grund: Wie sah der Alltag der Menschen in den letzten Wochen und Monaten vor
Kriegsende und in den ersten Jahren des Neubeginns aus? Wie wurden die
geschichtlichen Ereignisse wahrgenommen? Die in dem Buch erstmals publizierten
privaten Tagebuch- und Briefaufzeichnungen aus den Jahren 1944 bis 1949
vermitteln aus der Perspektive von mehr als dreißig Verfassern Tag für Tag ein authentisches Bild vom Überleben in einer Zeit,
in der die Bedrohung der Existenz zum Alltag gehörte. In ihnen spiegeln sich zugleich die Erfahrungen der Menschen
beim Umgang mit zwei Diktaturen.
Klaus Büstrin und Jochen Röhrig
lesen eine Auswahl aus den Aufzeichnungen, die in den vergangenen Jahren vom
Brandenburgischen Literaturburo und dem Kurt Tucholsky
Literaturmuseum zusammengetragen wurden.
Zugleich geht mit der Veranstaltung am 30. Januar das erste deutsche Portal für historische Tagebücher ans Netz. Unter der Adresse www.zeitstimmen.de kann in über 4.000 Einträgen nach Orten Themen Datum
oder Zeitraum recherchiert werden. Die Aufzeichnungen beziehen sich räumlich auf das Land Brandenburg das älteste Tagebuch stammt aus
dem Jahr 1806, das jüngste aus dem Jahr 2008. Das Portal
bleibt offen für weitere Einsenungen.
Die Buchvorstellung »Die Russen sind da« ist eine Veranstaltung vom
Brandenburgischen Literaturbüros und des Kurt Tucholsky Literaturmuseums mit
freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung und des Ministeriums
für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg. Der Eintritt zur
Buchpremiere kostet sechs, ermäßigt vier Euro.
BlickPunkt Wochenzeitung für Brandenburg am 07.01.2011