Klaus Thiele (Hg.)

Band 21: 1200 Jahre Bistum Halberstadt Osterwieck.
Frühe Mission und frühprotestantische Bilderwelten
Harzforschung 21

Der vorliegende Sammelband dokumentiert Erträge eines Symposiums anlässlich des Jubiläums der Halberstädter Bistumsgründung. Die einzelnen Beiträge behandeln jedoch weniger die Geschichte des Bistums und des Hochstifts, sondern widmen sich – ganz überwiegend aus kunsthistorischer Hinsicht – der »Fachwerkstadt am Nordharz« und der Stadtkirche St. Stephani in Osterwieck. Dabei trügt etwas der Titel des Bandes, der suggeriert, dass gleichberechtigt zwei inhaltlich-chronologische Schwerpunkte behandelt werden: die »frühe Mission« und die »frühprotestantischen Bilderwelten«. Tatsächlich beziehen sich nur drei der insgesamt siebzehn Beiträge explizit auf Osterwieck als Missionszentrum an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert und auf die romanischen Ursprünge der St. Stephani-Kirche. Aus reformationsgeschichtlicher Hinsicht umso erfreulicher ist die wesentlich breitere Behandlung der Thematik des frühprotestantischen Kirchenbaus in sehr vielen interessanten, nicht ausschließlich kunsthistorischen Facetten. So zeigt etwa Liselotte Thiele in ihrem sozial-, wirtschafts- und tech­nikgeschichtlichen Beitrag über die Umbaumaßnahmcn der Jahre 1552/57, dass die Osterwieeker Steinmetzen noch in einer älteren, qualitativ wenig entwiekelten Tradition standen. Auch wenn die Baumeister Chor und Altar der Kirche im altkirchlich-katholischen Stil beließen, gilt das im reformatorischen Sinne gänzlich neugestaltete Kirchenschiff als das früheste Beispiel einer protestantischen Stadtkirche im Alten Reich, wie Klaus Thiele betont. Schon früher wurde auf die Bedeutung der frühprotestantischen Emporenbilder aus dem Alten und Neuen Testament von 1589 und 1617/18 in der Kirche hingewiesen, die im Sammelband mit gleich fünf kunsthistorischen Beiträgen gewissermaßen einen Schwerpunkt bilden. Nach einer allgemeinen Beschreibung und kunsthistorischen Einordnung der Emporen- und Lettnermalerei von Helga Hoffmann und Frank Schmidt werden die »Bibelbildlichen Traditionsstränge« und die medialen Funktionen als »Protestantische Armenbibel« der Bildwerke in mittelalterlicher Tradition behandelt. – Insgesamt betrachtet, ist die nachreformatorische St. Stephani-Kirche nachgerade ein typisches Beispiel für die »bewahrende Kraft des Luthertums« – so die hier am Beispiel des liturgischen Gebrauchs der Osterwiecker Ratsweinkanne als Vasa sacra nochmals bekräftigte ältere These von Johann Michael Fritz und zwar offenbar mit direkten Bezügen zum Augsburger Religionsfrieden. Der Kirchenbau insgesamt drückt das Selbstbewusstsein der protestantischen Osterwiecker Bürgerschaft aus, welche den Bau finanziell getragen und den Kirchenraum mit seinem reichen Wappen- und Epitaphienschmuck – auch von Adligen – als Abbildung der ›gebauten‹ Stadtverfassung gestaltet haben. Der offenkundige Wohlstand der Osterwiecker Bürger bis zum Dreißigjährigen Krieg, welche die zeittypischen gelehrten Kommunikationsformen von Leichenpredigten und anderen Gelegenheitsdichtungen pflegten – so explizit der kultur- und mentalitätsgeschichtliche Beitrag von Cornelia Niekus Moore –, stammte unter anderem von der Waffenproduktion, da während des Krieges in Osterwieck mehrere Kriegsunternehmer als finanzkräftige Auftraggeber ansässig waren, wie Klaus Thiele in einem weiteren Beitrag aufzeigt. – Die beiden letzten Studien sind thematisch abstrahiert von Osterwieck und behandeln generelle reformationsgeschichtliche Themen. Auch am Beispiel der »Lokal- und Landes-verwaltung im Fürstbistum Halberstadt« – wie diese beiden Beiträge inhaltlich zusammengebunden sind – wird nochmals eindrücklich deutlich, dass die Reformation keineswegs einen fundamentalen Bruch in der Geschichte des Hochstifts Halberstadt darstellte, sondern auch von Kontinuitäten geprägt war. Dies gilt für die landesherrliche Personalpolitik in der Ämterverwaltung, die Michael Scholz für die Zeit zwischen 1250 und 1550 untersucht und dabei den Professionalisierungsprozeß der bürgerlichen Gelehrten gegenüber den traditionellen adligen Amtsträgern herausgestrichen hat, aber noch mehr für das lange Taktieren der evangelischen Bistumsadministratoren aus den rivalisierenden protestantischen Dynastien der brandenburgischen Hohenzollern – die Fürstbischöfe Friedrich (reg. 1550–1552) und Sigismund (reg. 1552–1566) – und der Braunschweiger Welfen, die seit der Wahl des erst zweijährigen Prinzen Heinrich Julius zum Bischof (1566), ein Sohn des Wolfenbütteler Herzogs Julius, durchgängig bis 1623 über das Hochstift verfugen konnten. Birgit Hoffmann beschreibt sehr detailliert das konfessionelle Ringen der Wolfenbütteler Herzöge um die Durchsetzung der Reformation im Hochstift Halberstadt, insbesondere aber die nach dem Augsburger Religionsfrieden notwendig gewordene Strategie, dieses geistliche Territorium formal im Status als Glied der Germania Sacra zu halten. Für weiterführende Forschungen bietet die ausführliche Bibliographie am Ende des Sammelbandes beste Voraussetzungen.
Asche, in: Archiv für Reformationsgeschichte 2011

 

Der Band versammelt Referate, die auf einer regionalgeschichtlich ausgerichteten Tagung zum 1200-jährigen Jubiläum des Bistums Halberstadt in Osterwieck gehalten wurden. Eine umfangreiche Bibliographie zu allen angerissenen Themen rundet den Band ab. Lesenswert sind einige Beiträge, die sich mit der Baugeschichte und protestantischen Ausstattung der Stephanikirche befassen. Gegen eine weitverbreitete Vorstellung, dass die Reformation ein revolutionärer Bruch mit der mittelalterlichen Glaubenstradition gewesen sei, betonen verschiedene Beiträge die Kontinuitäten im Kirchenbau, seiner Ausstattung und seiner liturgischen Nutzung. Wie lange sich die Umbruchszeit hinziehen konnte, macht der abschließende Beitrag über die verwaltungsgeschichtliche Entwicklung des Hochstifts Halberstadt seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, besonders unter der Administration des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg ab 1578 deutlich. Hier schildert Birgit Hoffmann das jahrzehntelange konfessionelle Ringen um die Einführung der Reformation im 16. Jahrhundert, das schließlich erst im Jahre 1648 zur Installierung einer evangelischen Landeskirche führte.
Getrost überblättern kann der Leser die Beiträge zur Gründungsgeschichte des Missionsstützpunktes Seligenstadt (Osterwieck) bzw. des Bistums Halberstadt, zum Fachwerkbau und den von der Themenstellung her nicht uninteressanten, in seiner Beliebigkeit und argumentationslosen Unschärfe aber wenig hilfreichen Versuch, protestantische Emporenmalerei in die Tradition mittelalterlicher Bildfolgen u.a. an Lettnern zu stellen. Zur Gründungsgeschichte referiert Hubertus Wächter Thesen aus einem Vortragsmanuskript von Thomas Vogtherr, die in dem Protokollband der Tagung »1200 Jahre Bistum Halberstadt«, hg. von Adolf Siebrecht, vorgesehen sind. Wer sich fachkundig über Fachwerk in Osterwieck orientieren möchte, greife besser auf das Buch von Hans-Hartmuth Schauer: Die Fachwerkstadt Osterwieck, 1997, zurück.
Der Beitrag von Klaus Albert Holler macht deutlich, dass die romanischen Bauteile der Stephanie ein Forschungsdesiderat sind. Zwar wurde der Westbau bisweilen schon im Rahmen der romanischen Architektur im Harzraum und seinem unmittelbaren Umfeld diskutiert, aber die wenigen erhaltenen Details am Schiff und die komplett erhaltene Sakristei wurden in der bisherigen Forschung kaum wahrgenommen. Dass Holler auf Fußnoten und Fotomaterial gänzlich verzichtet hat, macht viele seiner Beobachtungen am Bau und die hergestellten Bezüge zu Vergleichsbauten leider nicht nachvollziehbar.
Obzwar stilistisch noch stark in der mittelalterlichen Steinmetztradition verhaftet und damit weit entfernt von der künstlerischen Qualität der großen Kunstzentren der Mitte des 16. Jahrhunderts, ist das Schiff mit seiner Bauplastik bedeutsam als frühestes Beispiel einer protestantischen Stadtkirche, in der sich der Anspruch der reichen Bürger- und Ratsfamilien durch Finanzierung von reichem Bauschmuck und Anbringen ihrer Stifterwappen in Stein widerspiegelt. Diesem Phänomen sind die Beiträge von Liselotte und Klaus Thiele gewidmet. Ausgehend von der Aufarbeitung der Bauregister durch Gesine Schwarz (in: K. Thiele [Hg.]: 10 Jahre Kirchbauverein St. Stephani, Osterwieck, 2000) beschreibt L. Thiele den Baubetrieb und Baufinanzierung in den Jahren 1552 bis 1557. Der 18 km von Osterwieck entfernt gelegene Steinbruch bei Schlanstedt wurde vor wenigen Jahren von Mitgliedern des Vereins wieder entdeckt. Die Transporte mussten die Bewohner der umliegenden Orte gegen gute Bewirtung leisten. Anhand von Rechnungsbüchern, Steinmetzzeichen, Inschriften und Monogrammen lassen sich drei der maßgeblich beteiligten Steinmetze namentlich fassen: der wohl leitende Architekt Mester Loddenerh (Monogramm LK), der Polier Iacop Tetteborn und ein Geselle namens Hans von Pensi. – Der sehr instruktive Beitrag von K. Thiele ordnet St. Stephani in den Rahmen der frühen Entwicklung des protestantischen Kirchenbaus nach der Reformation ein und arbeitet seine herausragende Stellung als erster unter protestantischer Verantwortung begonnener Stadtkirchenbau heraus, bei dem zudem bis heute noch weitgehend der Zustand des 16. Jahrhunderts erhalten ist. Zentral im Mittelschiffsgewölbe findet sich auf einem Schlussstein der Hinweis auf Epheser 2, 20–22 (»Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Jesus Christus selbst…«), eine der Bibelstellen, die nach dem Augsburger Religionsfrieden (1556) wesentlich für die Ikonographie an Emporenbrüstungen zahlreicher protestantischer Kirchenbauten werden sollte. Anhand der Ikonographie der insgesamt 194 Wappen auf Schlusssteinen, Arkadenbögen, Pfeilern und Emporen veranschaulicht K. Thiele das in vielen späteren protestantischen Kirchen zu beobachtende Prinzip, im Kirchenraum das frühneuzeitliche Gesellschaftsgefüge gewissermaßen »als gebaute Stadtverfassung« abzubilden.
Johann Michael Fritz führt in seinem in sehr einfacher Sprache und immer auf der Suche nach veranschaulichenden Gegenwartsbezügen gehalten Vortrag in den liturgischen Gebrauch der Vasa Sacra in Mittelalter und nachreformatorischer Zeit ein. Anhand der Osterwiecker Stücke erläutert er die Grundlagen der Gold- und Silberschmiedekunst. Mehrere Aufsätze sind den Emporeneinbauten und ihren künstlerisch wenig überzeugenden, als lutherisches Bildprogramm jedoch hochinteressanten Brüstungsmalereien (von 1589 und 1617/18) mit Szenen aus Altem und Neuem Testament gewidmet. Während Helga Hoffmann die Abhängigkeit der verschiedenen Bildkompositionen von Druckvorlagen (wesentlich Virgil Solis und Tobias Stimmer) herausarbeitet und die Malerei drei verschiedenen Künstlern einer Werkstatt zuweist, versucht Klaus Thiele die Bilder nicht nur theologisch zu deuten, sondern auch in 1650 Jahre Mediengeschichte einzuordnen. Dass letzteres nur bedingt überzeugt, ergibt sich aus dem gesetzten Zeitrahmen von den illustrierten Pergament-Kodices über die Erfindung des Buchdrucks bis zur nicht genauer definierten Bil­derflut unserer Tage. Geglückt ist dagegen die Analyse der Symbolik von Einhorn, Widder, Löwe und Pferd auf der Darstellung der Arche Noah. Bemerkenswert der »Stammbaum bibelbildlicher Druckgraphik von 1475 bis 1589« mit zweieinhalbseitigem Sonderregister. Christian Tegtmeier untersucht den Bildzyklus in der Tradition der mittelalterlichen Armenbibeln. Einen ausführlichen Exkurs widmet er der theologisch-ikonologischen Ausdeutung der Darstellung des  »Traumbilds des Nebukadnezar« in Holzschnitten des 16. Jahrhunderts und der besonderen Stellung der Szene mit diesem heillosen Herrscher am Ende der Folge alttestamentlicher Szenen am »Übergang zur Geschichte des Heilands, des Lebens Jesu«. Die bauhistorische Untersuchung von Andreas Röcklebe beschreibt wesentlich die Fachwerkunterkonstruktionen und wann diese durch welche Eingriffe Veränderungen erfuhren. Ein wesentlicher war die Kanzelverlegung 1773. Sie wurde notwendig mit dem Einbau der gegen das Veto des städtischen Bürgertums durchgesetzten von Gustedt'schen Patronatsprieche. Da sich hier eine adelige Witwe, nämlich Agnese Christine von Gustedt am Vorabend der politischen Umwälzungen durch die Französische Revolution gegen den städtischen Rat durchzusetzen vermochte, wird dies in einem weiteren Beitrag als Akt weiblicher Emanzipation im 18. Jahrhundert interpretiert.
In dem aus Wappen, Inschriften und Leichenpredigten erarbeiteten, an historischen Daten überbordenden Beitrag des Bandes stellt Klaus Thiele die Rolle der durch Epitaphe und Wappen in St. Stephanie vertretenen Osterwiecker Adelsgeschlechter im Beziehungsgeflecht der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Hochstiften Hildesheim und Halberstadt sowie dem Herzogtum Braunschweig von der Hildesheimer Stiftsfehde (1519–21) bis zum Hildesheimer Hauptrezeß (1643) dar. In diesem Kontext erklärt sich plötzlich der in anderen Beiträgen immer wieder angesprochene, bis zum 30-jährigen Krieg anhaltende Reichtum der Stadt: In Osterwieck waren einige europaweit agierende selbstständige Kriegsunternehmer ansässig, die besonders ihre Waffenschmiede (die Berufsgruppe, die in St. Stephani am häufigsten mit ihren Wappen vertreten ist) in Arbeit und Brot setzten.
Cornelia Niekus Moore stellt sehr anschaulich die Entwicklung und Verbreitung der lutherischen Leichenpredigten vor. Sie verdeutlicht, dass mit der Leichenpredigt Johann Bugenhagens bei der Beerdigung Martin Luthers 1546 ein Paradigmenwechsel verbunden war. Der neue lutherische Beerdigungsritus unterschied sich von der mittelalterlichen Seelenmesse dadurch, dass nicht mehr durch Gebete und Ablässe versucht wurde, den Seelen der Verstorbenen aus dem Fegefeuer zu helfen, sondern dass der Geistliche Gott ehrte, des tugendhaften Lebens und seligen Todes des Verstorbenen gedachte und damit die Lebenden tröstete und erbaute. Es entwickelte sich eine Tradition, die Predigten zu drucken und in Erbauungsbüchern zusammenzubinden. Die erhaltenen Exemplare stellen heute eine Fundgrube für mentalitätsgeschichtliche Forschungen dar, was an Osterwiecker Beispielen verdeutlicht wird.
Michael Scholz erläutert an verschieden Beispielen der landesherrlichen Lokalverwaltung im Hochstift Halberstadt die Politik der Verpfändung und Wiedereinlösung landesherrlicher Ämter zwischen 1250 und 1550. Bei aller Unübersichtlichkeit und Unterschiedlichkeit in der Entwicklung der einzelnen Regionen des Hochstifts lässt sich auch hier die allgemeine Professionalisierung der Verwaltung beobachten, bei der zunehmend bürgerliche Amtleute mit adeligen Hauptleuten in Konkurrenz traten.
Folkhard Cremer in »Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschicht«104 / 2006