Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,

vor einem Monat, genauer: am 1. Dezember 2015, jährte sich die Gründung des unabhängigen, benachbarten, von mir überaus geschätzten Ch. Links Verlags zum sechsundzwanzigsten Mal. Im März auf der Leipziger Buchmesse wird ihm für sein eigensinniges und dabei sogar erfolgreiches zeitgeschichtliches Programm endlich der mehr als verdiente Kurt-Wolff-Preis verliehen – für mich ein gleichermaßen tröstliches und anspornendes Signal, dass nicht immer nur Bücher mit edelsten Papieren, aufwendigsten Bindungen und schwer lesbaren Typographien preiswürdig sind, sondern auch Sachbücher, die zwar nicht so tun, als würden sie das Medium neu erfinden, dafür aber mit inhaltlicher Relevanz punkten.

Zufällig datiert die Gewerbeanmeldung des Lukas Verlags auf den Tag genau sechs Jahre später, also auf den 1. Dezember 1995.

Schon deshalb habe ich mich im beruflichen Sinn immer auch ein wenig als jüngerer Bruder von Christoph Links verstanden. Als seine Bände noch durchweg mit zitronengelben Umschlägen auftraten, habe ich einmal sogar einen davon quasi kopiert – er möge mir das verzeihen! Heute sind unsere Bücher so unverwechselbar wie die von ihm verantworteten. Ich habe aufgehört, sie akribisch zu zählen, aber es sind jetzt über vierhundert Titel, auf deren Rücken das schlichte LV-Signet in der Schrift Bauer Bodoni Bold Condensed steht. Einige baumonographische oder kunsthistorische Studien weisen nur 32 Seiten auf, aber wir können auch anders: Das im letzten August erschienene fünfbändige Opus magnum »Die Gärten und Parke in Brandenburg« von Folkwart Wendland ist 2666 Seiten stark und enthält über 3000 Abbildungen. Im letztjährigen Rundbrief hatte ich bekanntlich geunkt und gekalauert, dieses Werk würde entweder mein Grabstein oder ihn zieren; zur allgemeinen Beruhigung darf ich nun vermelden, dass ersteres nicht eintreten wird, denn wir haben schon jetzt über dreihundert Exemplare verkauft. Mehr noch als bei vielen anderen unserer Bücher bin ich mir sicher und einigermaßen stolz, hiermit ein noch in fünfzig Jahren gültiges Grundlagenwerk brandenburgischer Kulturgeschichte zur Geburt verholfen zu haben.

Just am 1. Dezember 2015, als ich mit meinen beiden Mitarbeitern auf zwanzig Jahre Lukas Verlag anstoßen wollte, lag ein Schreiben der VG Bild-Kunst im Briefkasten, in dem sie die Rückzahlung von 9190 Euro netto verlangte, welche dem Verlag im Jahr 2012 überwiesen worden waren; alternativ könne ich auch eine »Verjährungsverzichtserklärung« unterzeichnen, um den Betrag erst später zahlen zu müssen. Tags darauf traf gleichlautende Post von der VG Wort ein, in der es um 4564 Euro ging. Beide Briefe kamen nicht überraschend, denn ein bestimmter Rechtsstreit, der dahintersteht, verunsichert die Branche seit Jahren; die konkreten drastischen Auswirkungen werden allerdings erst jetzt so richtig offenbar. Im übelsten Fall muss allein der Lukas Verlag für die drei in Frage stehenden Jahre 2012, 2013 und 2014 insgesamt über 34.000 Euro zurückzahlen – ein Betrag, der natürlich kaum aufzubringen ist, entspricht er doch etwa einem durchschnittlichen Jahresgewinn oder – um eine andere Rechnung aufzumachen – ungefähr dem, was wir in der fraglichen Zeit an Autorenhonoraren ausgeschüttet haben. Ein Betrag also, der für den Verlag existenzgefährdend sein kann. Von etlichen Kollegen weiß ich, dass sich für sie die Situation ähnlich dramatisch darstellt. Ich möchte Außenstehende nicht mit dem juristischen Hickhack langweilen, auf dem das alles basiert; nur soviel: Infolge der Klage eines deutschen Autors und einer hochproblematischen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wird derzeit ein seit Jahrzehnten funktionierendes, paritätisches Verwertungs- und Ausschüttungssystem zerstört. Man spielt die angeblich über den Tisch gezogenen, guten Urheber und die angeblich geldgierigen, bösen Verleger (denunzierend »Verwerter« genannt) gegeneinander aus. Möglicherweise erhalten ja Autoren, Fotografen und Künstler irgendwann tatsächlich einmal Nachzahlungen (aus dem Topf der von den Verlegern geleisteten Rückzahlungen), aber das dürfte am Ende ein Pyrrhussieg für sie sein, denn die Verlage – sofern sie das alles überhaupt überstehen – müssen die ausbleibenden Tantiemen der Verwertungsgesellschaften natürlich durch eine neue Titelkalkulation mit deutlich verringerten Honoraren kompensieren.

Nicht minder dramatisch droht am selben Horizont eine Gesetzesnovelle, wonach Autoren künftig nach fünf Jahren ihre den Verlagen übertragenen Verwertungsrechte rückfordern dürfen, sofern sie woanders ein besseres Angebot erhalten. Uns als wissenschaftlichen Verlag mit meist sowieso nicht sonderlich lukrativen Titeln, was die Verkaufszahlen angeht, tangiert das vielleicht nur peripher; für kleinere belletristische Häuser hingegen wäre es ein Desaster, denn es verhindert den ja stets risikoreichen, langwierigen Aufbau von neuen Autoren und Programmen. Und das führt zwangsläufig zu einer massiven Verödung der Literaturlandschaft, in der es »schwierige« Texte noch viel schwerer haben werden als es jetzt schon der Fall ist.

Zu konstatieren ist also eine in der öffentlichen Debatte noch kaum angekommene halb gedankenlose, halb mutwillige kalte Enteignung von Verlagen und die Demontage einer hochstehenden Buchkultur. Einzelne neidgeplagte Autoren und naive Internet-Euphoriker (»Selfpublisher«), aber auch von Blindheit geschlagene Gerichte und Politiker werfen tonnenweise wertvollstes Porzellan in den Müll, um am Ende bedröppelt aus Plastikbechern nichts als drögen Instantkaffee zu schlürfen. Was als Modernisierung des Urheberrechts verkauft wird und angeblich die Rechte der Autoren stärken soll, wird am Ende einzig und allein Apple, Amazon und Google nutzen.

Herr Kästner, wo bleibt das Positive?… Manche mögen es mir verübeln, dass auch dieser Jahresrundbrief wieder mit einem kulturpessimistischen Lamento anhebt. Ehrlich, ich hätte liebend gern zukunftsfreudiger, selbstgewisser und fröhlicher begonnen!

Positiv ist zweifellos, dass der Eigentümer unseres Nachbarhauses offenbar von seinen asozialen Plänen Abstand nehmen musste, dort einen Seitenflügel zu errichten, mit dem er nicht nur drei Südfenster des Verlages, sondern vierundzwanzig weitere unseres (öffentlich geförderten) Genossenschaftshauses zugemauert hätte. (Siehe dazu den Rundbrief vom letzten Jahr.) Ob sein Einknicken von Dauer ist, weiß niemand zu sagen, aber immerhin hatten wir im Jahr 2015 keine Baugrube vor der Nase und dürfen wir nach wie vor ins Freie blicken.

Positiv ist ferner, dass der Verlagsalltag von einer prima Stimmung unter uns drei dort tätigen Männern getragen wird. Im Sommer war das durchaus nicht absehbar. Denn als ich im Juni aus dem Urlaub kam und Susanne Werner mir offenbarte, dass sie in wenigen Wochen zu Duncker & Humblot wechseln würde, war das ein heftiger Schlag ins Kontor. Immerhin hatte Susanne im Laufe von achteinhalb Jahre rund einhundert Publikationen – etwa die Hälfte des in dieser Zeit entstandenen Programms – betreut. Und weil bei uns Lektorat und Gestaltung in der Regel durch ein und dieselbe Person erfolgen, heißt das, dass sie nicht bloß das Korrektorat und oft auch das wissenschaftliche und sprachliche Lektorat der Manuskripte übernahm, sondern darüber hinaus die kompletten Gestaltungs- und Satzarbeiten bei all den optisch und strukturell anspruchsvollen Publikationen, inklusive der Bearbeitung sämtlicher Abbildungen. Sie hat so das Profil und Renommee der im letzten Jahrzehnt im Lukas Verlag erschienenen Bücher ganz wesentlich mitgeprägt. Versteckt hinter ihren zwei Bildschirmen, hatte sie den kleinen Laden immer im Blick und im Griff. Sie verließ den Lukas Verlag, um sich neuen beruflichen Herausforderungen widmen zu können – ein Schritt, den ich gut verstehen kann, auch wenn er mich vor erhebliche Probleme stellte. Seit September sitzt Alexander Dowe an ihrem früheren Arbeitsplatz. Er arbeitet sich engagiert in die zahlreich anstehenden herstellerischen und gestalterischen Aufgaben ein, so dass wir sicherlich bald mit frischen Kräften zu voller Leistungsfähigkeit zurückgefunden haben werden. Und dass wir (mit Jörg Hopfgarten als Drittem im Bunde) neuerdings ein reiner Männerverein sind, ist in der Branche nicht nur recht ungewöhnlich, sondern besitzt auch speziellen Charme. Die neue personelle Konstellation hat zu einer Aufbruchstimmung geführt, die ich sehr zu schätzen weiß und genieße.

 

Gudrun und ich bereisten im Juni drei Wochen lang Georgien. Ich selbst war dort zuletzt im Sommer 1987. Wir hatten eine ganz wunderbare, intensive Zeit. Erneut fasste mich dieses landschaftlich so schöne, kulturell so reiche, wirtschaftlich so bettelarme, von den russischen Imperialisten und seiner eigenen Zerrissenheit so gerupfte Land mit einer Wucht an wie kein anderes auf der Welt. Wir waren unter anderem in Tbilissi, Gori (dem Geburtsort Stalins) und Bolnissi (dem ehemals deutschen Katharinenfeld), im swanetischen Teil des Kaukasus, am Schwarzen Meer (darunter kurz im adscharischen Batumi) sowie in Kachetien, der wichtigsten Weinbauregion des Landes. Obwohl ich ihn mehr als fünfundzwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte, konnte ich mit meinem Freund Gogi ansatzlos die alten Gespräche weiterführen. Wir standen fassungslos vor der unsichtbaren Grenze zu Südossetien und sahen die Siedlungen der von dort vertriebenen oder geflohenen Georgier, fotografierten die tristen Industrieruinen aus besseren sowjetischen und die vielen schönen Kirchen und Klöster aus besseren mittelalterlichen Tagen. Als bei einem Unwetter ein Nebenfluss der Kura Teile Tbilissis und den städtischen Zoo überschwemmte, schaffte es diese apokalyptische Katastrophe wegen der entlaufenen Nilpferde und Tiger ausnahmsweise bis in die Tagesschau; wir selbst waren gerade in Osten des Landes unterwegs und feierten arglos an einer sozusagen transkaukasischen Festtafel gemeinsam mit Georgiern, Aserbaidschanern, Armeniern und Iranern.

Viele meiner Eindrücke korrespondierten mit den bizarren Szenen aus dem leider erst später, dann aber gleich zwiefach gesehenen Film »Tristia. Eine Schwarzmeer-Odyssee« von Stanislaw Mucha. In immer groteskeren, dann wieder poetischen dokumentarischen Szenen entfaltet sich darin ein Reigen gescheiterter Hoffnungen und grandioser Landschaften ausgehend vom Donaudelta über Odessa und die Krim, Sotschi, Abchasien und Georgien, entlang der türkischen und bulgarischen Schwarzmeerküste bis schließlich wieder nach Rumänien. Postsowjetische Absurditäten wechseln sich ab mit Versatzstücken antiker Mythen; die Menschen sind geschlagen von den Traumata soeben vergangener oder zum Zeitpunkt des Drehs noch gar nicht ausgebrochener Kriege, aber auch von der zerstörerischen Gewalt kapitalistischer Selbstoptimierung und westlichen Schönheitswahns. Jammerschade, dass dieser besondere Film kaum Publikum fand und leider auch auf DVD nicht erhältlich ist.

Auch literarisch bleibe ich im Osten Europas. Befeuert von der Nobelpreisverleihung lese ich zur Zeit mit großem Gewinn »Secondhand-Zeit« von Swetlana Alexijewitsch. In collageartig montierten Interviewsequenzen erzählen darin Hunderte Menschen ihre Geschichten und Empfindungen in Bezug auf die Sowjetunion und deren Zerfall um 1990. Ihre oft schizophrene Zerrissenheit zwischen einerseits fassungslosem Entsetzen vor den leninschen und stalinschen Ungeheuerlichkeiten und andererseits der Trauer um den verlorengegangenen sowjetischen Alltag, um den zertretenen Stolz auf die Ruhmestaten der Väter im Großen Vaterländischen Krieg, um die innere Leere angesichts der vor die Hunde gegangenen kommunistischen Ideologie, mit der die Menschen im Guten wie im Bösen über Generationen verbunden waren, geht unter die Haut. Schmerzhaft verdeutlichen die Erzählungen, wie sehr historische Wahrheit ein Ding der Unmöglichkeit ist. Gerade weil ich als in Ost-Deutschland Geborener ja auch mehr oder weniger unterm Kuratel der Sowjetunion aufwuchs, ist mir die das Buch grundierende tiefe Skepsis vor ideologischen Gewissheiten schmerzlich vertraut. Andererseits erlaubt mir diese Skepsis in positiver Übertragung auf die Gegenwart, so hoffe ich, einen mehr oder weniger angstfrei-fatalistischen Blick auf die kulturellen und politischen Umbrüche, die uns aktuell so sehr verstören.

Zur Not bleibt immer noch die Flucht in die reinste unter den Künsten, die Musik. Seit Wochen stehe ich im Banne der sogenannten Alten Musik zwischen Renaissance und Barock. Mit offenen Ohren, offenem Mund und offenem Herzen höre ich rauf und runter Cavalli und Monteverdi, Kapsberger und Purcell. Ich verdanke das der österreichischen Lautenspielerin Christina Pluhar und ihrem Ensemble »L’Arpeggiata«, die sich der Wiederentdeckung dieser Musik mittels Interpretationen verschrieben haben, die einerseits wegen ihrer Präzision auch für sehr kritische Klassikkenner goutierbar sind und die andererseits derart lustvoll und frech an die Sache herangehen, dass man sogar eingestreute Jazzimprovisationen nur ganz selten als befremdlich und meistens als verblüffend einleuchtend erlebt.

Bleiben wir bei klassischer Musik… Im Oktober saß ich im bestuhlten Tempodrom, um Bob Dylans beseelter Wiedergabe dreizehn eigener und sieben fremder, einst auch von Frank Sinatra gesungener Stücke andächtig zu lauschen. Band und Sound waren perfekt, und natürlich! kann! Dylan mit einer Stimme! singen, an der es nichts! auszusetzen gibt. Gerne wäre ich auch zwei Tage zuvor im Leipziger Gewandhaus gewesen, um vor dieser besonders naheliegenden Kulisse dem herbstlich-melancholischen Liederabend des vierundsiebzigjährigen zerknitterten Mannes zu folgen, aber da konnte ich leider nicht, denn wir waren zur Biennale in Venedig.

Ergiebig fand ich das letzte Jahr auch mit Blick auf das aktuelle Musikschaffen. Da war zum Beispiel die 1988 in Australien geborene Courtney Barnett: eine junge Frau, die lange hinterm Tresen stand und von dort die Leute beobachtete. Ihre unprätentiösen, ironischen Texte auf der CD »Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit« belegen, dass sie alle wichtigen Fragen gestellt hat und alle Antworten zumindest erahnt. Schade nur, dass sie neulich die eigentlich lässigen, souveränen Songs im Postbahnhof ganz furchtbar laut zerschrammelte, als ob sie kein Zutrauen zu ihnen hat.

Wirklich meisterlich kommen Ryley Walker und Steve Gunn auf ihren aktuellen Alben »Primrose Green« bzw. »Way Out Weather« daher. Beide pflegen ein intensives, verfrickeltes, improvisierendes Gitarrespiel und kreieren eine unorthodoxe, psychedelisch sogartige Symbiose aus Folk, Rock und Jazz. Ryley Walker erinnert mich streckenweise an Tim Buckley oder Bert Jansch von Pentangle, also an wirklich gute Leute aus den Siebzigern; mal sehen, wohin ihn seine Reise noch führen wird. Steve Gunn ist da vielleicht noch einen Schritt weiter und unvergleichlicher; bei seinen verschroben-avantgardistischen und doch auch wieder folkig-eingängigen Stücken habe ich den Eindruck, dass er sehr genau weiß, was er will. – Zur selben Szene gehört Kurt Vile, dessen Platte »B’lieve I’m Going Down...« zwar schlichter daherkommt, aber ebenfalls nicht von schlechten Eltern ist. Schließlich sei der bereits im vergangenen Jahr von mir gefeierte Israel Nash genannt. Sein jüngstes, hochkomplexes Album »Silver Season« ist von atemberaubender Schönheit. Und um den Sack voll zu machen, muss ich natürlich auch noch die neue Platte »Divers« der virtuosen, ausdrucksstarken Harfen-Elfe Joanna Newsom in den Himmel loben.

Für den Jahreswechsel und das ganze kommende Jahr wünsche ich allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, wie immer von Herzen viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit sowie intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!

Frank Böttcher