Liebe Freunde, Autoren, Kollegen und Leser,

dies ist der fünfzehnte Jahresendrundbrief in Folge, und ich denke, es sollte der letzte seiner Art sein. Denn Routinen mögen zwar die alltägliche Arbeit erleichtern, im sozialen Umgang führen sie aber auch leicht zu Erstarrung oder Beliebigkeit. Seit 2006 berichte ich Jahr für Jahr und in stets ähnlicher Mischung darüber, wie beschwerlich und zugleich beglückend das Verlagsgeschäft ist. Ich betreibe es seit einem Vierteljahrhundert, und im kommenden Sommer werde ich sechzig. Mir scheint, es ist an der Zeit, ein wenig innezuhalten, mich des Geleisteten zu vergewissern und darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll mit dem Lukas Verlag.

Behufs dessen habe ich mich in den letzten Wochen hingesetzt und ein Buch mit dem Titel »Belegexemplar« verfasst; pünktlich zur Leipziger Buchmesse wird es auf der Welt sein. Wer mit dem Verlag oder dem Verleger per Facebook verbunden ist, hat zumindest dessen ersten Teil bereits peu à peu lesen können. Ich habe darin in einer gleichermaßen subjektiven wie repräsentativen Auswahl ungefähr sechzig Werke aus dem Archivregal geholt und sie daraufhin befragt, welche besonderen Erinnerungen ich mit ihnen verbinde. Wovon hat sich der Verlag bei ihnen leiten lassen? Welche dieser Bücher waren erfolgreich, welche floppten, und aus welchen Gründen habe ich zu allen ein inniges Verhältnis? Wie sehr ist das Programm von persönlichen Prägungen, Vorlieben oder Freundschaften mitbestimmt? Welche Rolle spielten schnöde wirtschaftliche Zwänge?

Im zweiten Teil kann man die erwähnten fünfzehn Rundbriefe (einschließlich des vorliegenden) nachlesen. All diese jährlichen Wasserstandsmeldungen changieren absichtsvoll zwischen eindeutig Beruflichem und scheinbar Privatem. Erlebnisse und Erfahrungen aus dem Verlagsalltag vermischen sich mit Betrachtungen zur Befindlichkeit des Landes sowie mit launigen Reports zu nicht-professionellen kulturellen Erlebnissen und Passionen des Verlegers. In der Summe ermöglichen die Texte, so denke ich, einen guten Einblick nicht nur ins kleine Lukas-Universum beziehungsweise in die Gedankenwelt des Gründers und Leiters, sondern überhaupt in die Welt unabhängiger Verlage mit all ihren Verwerfungen und Nöten, aber auch mit ihrem Enthusiasmus und ihrer Kraft. Der dritte Teil meiner kleinen Jubiläumsschrift wird ein nüchternes Gesamtverzeichnis aller lieferbaren, vergriffenen oder aktuell geplanten Titel sein, insgesamt sind das weit über fünfhundert, und im vierten und letzten Teil liste ich – ohne justitiablen Anspruch auf Vollständigkeit – die Namen von rund zweitausend »meiner« Autoren auf.

Doch nein! All das soll nicht heißen, dass ich schon jetzt einen Schlussstrich ziehe. Das letzte Kapitel des Lukas-Romans ist noch nicht geschrieben! Wer so etwas befürchtet, möge sich zum Beispiel die hochinteressante 2020er Jahresvorschau zu Gemüte führen, an der ich im Januar intensiv arbeiten werde und die wie immer zur Leipziger Messe vorliegen wird, und obendrein enthält der dicke Ordner »Offene Projekte« etliche, die gewiss erst 2021 oder später spruchreif sind. Andererseits habe ich bei alldem nicht vor, dass mir irgendwann – sagen wir in fünfzehn Jahren – der Kopf auf die Tastatur fällt und ich (wem auch immer) ein ja doch recht komplexes Unternehmen hinterlasse, welches dann niemand mehr zu steuern imstande ist. Wenn ein Verlag ein Buch macht, sollte es wenigstens fünf Jahre lang lieferbar sein, alles andere wäre unseriös nicht nur den Autoren gegenüber. Wenn ich jetzt grob geschätzt davon ausgehe, meinen Betrieb beispielsweise im Jahr 2030 (mit siebzig) beim Gewerbeamt abzumelden, so würde das also bedeuten, im Jahr 2025 das letzte Programm zu realisieren. Es wird eines gut geplanten Abtrainierens bedürfen. Ab der Zäsur meines sechzigsten Geburtstages, so habe ich mir vorgenommen, werde ich mir ernsthaft Gedanken über Ausstiegslösungen machen. Denn was vor vielleicht fünfzehn Jahren noch eine realistische Option gewesen sein mag, nämlich ein gestandenes Unternehmen wie das meinige unter anderen Eigentümern und Verantwortlichen weiterführen zu können, ist heute zur Ausnahme geworden. Christoph Links’ schöner Coup, sein Lebenswerk bei Aufbau untergebracht zu haben, dürfte mir in ähnlicher Form kaum möglich sein. Der Lukas Verlag ist schlechterdings zu klein geblieben, als dass er als Übernahmekandidat interessant wäre.

Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag, der gerade einen tollen Lauf hat, da er mit einem seiner Titel den Preis der Leipziger Buchmesse gewann und vollkommen verdient den Deutschen Verlagspreis sowie den Berliner Verlagspreis entgegennehmen durfte, hat sich unlängst in einem »Buchmarkt«-Interview über Untergangsszenarien (der Branche) mokiert. Vielleicht hat er ja recht. Ich will daher versuchen, kein Menetekel an die Wand zu schreiben, kein defätistisches Lamento anzustimmen. Was ich indes auch nicht vermag, ist, mich in dummen Zweckoptimismus zu üben und Realitäten auszublenden. Denn die Wirklichkeit des zu Ende gehenden Jahres 2019 ist nun einmal die, dass die unabhängigen Verlage mehr noch als die großen mit heftigem Gegenwind zu kämpfen hatten, für den sie wenig bis nichts etwas konnten und der ihre Boote mehr oder weniger ins Schlingern brachte. Jawohl, das Jahr 2019 war für viele unter uns und definitiv auch für den Lukas Verlag hart. Dass ich an dessen Ende einen hinreichenden, ja soliden Gewinn ausweisen kann, grenzt an ein Wunder, denn der Jahresumsatz ist um nicht weniger als ein Drittel geringer ausgefallen als seit anderthalb Jahrzehnten üblich und damit so niedrig wie zuletzt 2004, als ich praktisch zahlungsunfähig war und mich nur durch beherzte Hilfe Dritter sowie durch den legendären Emmi-Bonhoeffer-Erfolg wieder freischwimmen konnte.

Der schwache Umsatz war einerseits so manchem Knüppel geschuldet, der uns von außen zwischen die Beine geschlagen wurde; dazu gleich mehr. Er hatte aber auch damit zu tun, dass wir diesmal mit »nur« rund zwanzig Novitäten am Start waren, denn etliche außerdem geplante Titel haben sich aus Gründen, die nicht im Verlag zu suchen sind, mehr oder weniger verzögert. Drei der erschienenen Bücher möchte ich hier hervorheben, denn sie liegen mir besonders am Herzen. Als erstes wäre da der originelle Bildband »Mosaiki« von Katja Koch und Aram Galstyan zu nennen. Beide sind kreuz und quer durch die ehemaligen Sowjetrepubliken gereist und haben dort mit Mosaiken verzierte Hausfassaden, Brunnen, Busstationen, Kliniken oder Fabrikgebäude fotografisch dokumentiert – ein singuläres Kulturerbe, das dringend vor dem Vergessen und vor leider drohender Zerstörung bewahrt werden muss. Zum zweiten möchte ich das ost-west-deutsche Lesebuch »Geh doch rüber! Revisited« meines Freundes Frank Blohm erwähnen. Es ist nicht nur ein gutes Zeitdokument, sondern auch eine anregende, durchaus aktuelle Lektüre zur doppeldeutschen Befindlichkeit. Noch tiefer in die deutsche Geschichte mit ihren Brüchen, Widersprüchen und Abgründen lotet Roswitha Schieb. Sie befragt dreißig deutsche intellektuelle Lebensläufe der letzten zweihundert Jahre nach deren Verstrickungen oder Widerständigkeiten. Alle diese Biografien sind von tiefen »Rissen« geprägt, so auch der Titel des Bandes. Auch wenn es mir schwerfällt zu erklären, worin sein Inhalt, seine Außerordentlichkeit besteht, halte ich es für eines der bedeutendsten Werke, die je im Lukas Verlag erschienen sind. Wer es zu lesen beginnt, wird mir sicherlich bald zustimmen.

Das schwierige Jahr 2019 begann damit, dass sich mein einziger Mitarbeiter Alexander Dowe über Weihnachten den Fuß gebrochen hatte, sechs Wochen lang komplett ausfiel und ich folglich allein im Büro saß. Kaum war er halbwegs genesen und per Hamburger Modell stundenweise wieder im Boot, ereilte uns am 14. Februar die Hiobsbotschaft, dass KNV, das größte und damit systemrelevante unter den deutschen Barsortimenten, pleite war. Ich begriff sofort, dass ich rund ein Zehntel des Buchhandelsjahresumsatzes in den Wind schreiben musste, und dies keine zwei Jahre nach dem gerade erst überstandenen Desaster bezüglich der Verwertungsgesellschaften Wort und Bild-Kunst. Oder anders gerechnet: Die KNV-Insolvenz bedeutete, dass die Erlöse aus dem letztjährigen Weihnachtsgeschäft und dem guten Verkauf eines Titels, der eine hymnische Besprechung in der Süddeutschen Zeitung erfahren hatte, komplett pulverisiert waren. Auch wenn sich die Außenstände später durch komplizierte Verrechnung eines sogenannten Eigentumsvorbehaltes etwas verringerten und der Verlag auch dadurch liquide blieb, dass ich eine Reihe von Titeln dem Modernen Antiquariat anbot, vulgo: verramschte, war der Forderungsausfall dramatisch. In unserer Branche ist immer alles sehr auf Kante genäht.

Auch das zweite große Barsortiment, Libri, sollte im Laufe des Jahres Ärger bereiten. Deren Entscheidung, rund ein Viertel aller Titel auszulisten, hatte nicht nur überdurchschnittlich viele Remissionen zur Folge, sondern schlimmer noch eine de-facto-Nichtlieferbarkeit zahlreicher Backlist-Titel. Denn viele Buchhändler machen sich nicht die Mühe, etwa im Verzeichnis Lieferbarer Bücher zu eruieren, ob jene Bücher, die Libri oder KNV rausgeworfen haben, beim Verlag bzw. bei dessen Auslieferung womöglich doch noch vorrätig sind. Folglich bestellen sie sie auch nicht. Ein interessierter Kunde erhält vielmehr die einfache, aber falsche Auskunft, das Buch sei vergriffen. Auch auf Online-Portalen ist es schwerer als bisher zu finden oder zu beschaffen, denn Amazon und Co. beziehen ja ihre Ware primär von den Barsortimenten. Für Verlage mit einem Special-Interest-Programm wie dem unsrigen, der kaum von erfolgreichen Eintagsfliegen, sondern von einer guten Backlist lebt, ist das alles mehr als fatal.

Noch irgendwelche Beschwernisse? Bitte sehr: Die Deutsche Post erhöht ab dem 1. Januar das Porto für die Büchersendung um bis zu sechzig Prozent. Da aber infolge der Preisbindung ein Buchhändler diese Mehrkosten nicht weitergeben kann, sinkt dessen Marge und wird er versuchen, bei den Verlagen noch höhere Rabatte auszuhandeln, was diesen wiederum nicht möglich ist.

Last but not least: Den Oktober und November über plagte mich ein Bandscheibenvorfall. Ich verbrachte viel Zeit bei Ärzten und Physiotherapeuten, schluckte Unmengen an Ibuprofen und war in miserabler Stimmung. Bloß gut, dass Alexanders Bein wieder okay war und er die Bücherkisten schleppen konnte.

»Fremde« Bücher gelesen habe ich im vergangenen Jahr recht wenige. Das mag auch daran gelegen haben, dass ich mich neuerdings in der (partiell durchaus anregenden) Facebook-Welt getummelt und sie für meine Zwecke zu nutzen versucht habe. Facebook aber ist ein Zeitvernichter sondergleichen; für 2020 plane ich dort mehr Enthaltsamkeit. T.C. Boyles Roman »Das Licht« über Timothy Leary und dessen LSD-Adepten in den frühen 1960er Jahren verläppert sich etwas. Bei Münklers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges stecke ich immer noch in dessen verwirrender Vorgeschichte fest und überlege, ob ich mir die restliche Lektüre nicht besser fürs Alter aufsparen sollte. Peter Wawerzineks anrührenden Roman »Liebestölpel« dagegen, den ich soeben zu lesen begonnen habe, werde ich sicherlich schon in den nächsten Tagen zu Ende bringen.

In der Volksbühne begeisterte mich über weite Strecken Leander Haußmanns »Staatssicherheitstheater«. Uwe Dag Berlins abstruser, abgründiger Wutausbruch, die Nazis hätte man nach dem Krieg besser behandelt als heute die IMs, macht einen schaudern, und wenn seine Subalternen dem in Frauenkleidern steckenden Stasiminister zum Einschlafen »Der kleine Trompeter« vorsingen, ist auch das ganz großes Kino. Apropos Kino: Der Film der Filme war natürlich »Systemsprenger«. Unglaublich die zerstörerische Wucht und tiefe Verzweiflung der neunjährigen Benni, unglaublich die schauspielerische Leistung der jungen Helena Zengel, unglaublich, dass dies ein Debütfilm ist. Und ein Wunder, dass das verstörende Werk inzwischen 600.000 mal gesehen worden ist (von mir selbst zweimal); sogar ganze Schulklassen saßen zwei Stunden lang gebannt in den Sesseln und vergaßen ihr Popcorn. Apropos gebanntes Sitzen: Mir ist das außerdem bei Bob Dylan in der blöden Mehrzweckhalle am Ostbahnhof so geschehen, wo ich mir freilich den Luxus gegönnt hatte, einen Platz ganz vorne zu belegen, und dann neulich noch einmal im schönen Pierre-Boulez-Saal, wo das Belcea-Quartett je ein frühes und spätes Beethoven’sches Streichquartett spielte. Besonders ihr op. 132 war grandios.

Erneut hat es meine Frau und mich im letzten Sommer in Richtung Osten gezogen. Sowohl meine heute neunzigjährige Mutter als auch Gudruns Vater stammen aus Schlesien, sie aus Breslau, er aus Neumarkt. Ich stand in der ehemaligen Brandenburger Straße vor der Lücke, wo einst das Mietshaus war, in dem die kleine Ruth mit ihrer Familie sehr beengt bis 1938 wohnte; dann zogen sie in eine größere Wohnung in die Nähe des Sonnenplatzes, wo sie bis zu Flucht im Januar 1945 lebten. Auch war ich in Mutters Schule sowie auf dem heute vergammelten Platz, wo die Synagoge stand, welche die Neunjährige am 9. November 1938 vom Breslauer Schlossplatz aus hat brennen sehen.

Im kommenden August planen Gudrun und ich endlich mal wieder ein schönes, wildes Fest auf unserem Rosenwinkler Hof. Die Berlin Beatorganization, die mindestens zu zehnt auftritt und umso besser ist, je mehr Cuba Libre ihre Musiker intus haben, hat schon mal zugesagt; wir freuen uns sehr.

Mit diesem erfreulichen Ausblick möchte ich es bewenden lassen. Ich gehöre jetzt zu den weißhaarigen, bedingt weisen alten Männern, die fast alles gesehen und erlebt haben und deren Expertise doch wenig gefragt ist. Skeptisch die zerfurchte Stirn zu runzeln, wenn mal wieder eine tagesaktuelle Sau durchs Dorf getrieben wird, gilt in manchen Kreisen, auch in der Verlagswelt, fix als reaktionär. Trotz alledem und alledem: Ein bisschen wird mit uns alten Herren (und Damen) noch zu rechnen sein, auch in Form von guten Büchern. Versprochen!

Für den Jahreswechsel und das ganze kommende Jahr wünsche ich allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, wie immer von Herzen viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit sowie intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!

Frank Böttcher