Mitte des letzten Jahres erhielt der Verlag ein Schreiben der Buchhandlung Bücherbogen, wonach die Berliner Staatsbibliothek "wegen akuten Geldmangels" leider sämtliche Fortsetzungen storniert habe. Weil diese Mitteilung so ungeheuerlich ist, wiederhole ich sie noch einmal: Die größte wissenschaftliche Universalbibliothek im deutschen Sprachraum musste aus finanziellen Gründen alle Fortsetzungsbestellungen (oder "nur" solche von wissenschaftlichen Reihen?) kündigen!

Neulich telefonierte ich mit der Bundeszentrale für politische Bildung, um Kooperations- und Ankaufsmöglichkeiten bei bestimmten unserer zeitgeschichtlichen Titel auszuloten. Bei der Gelegenheit erfuhr ich, was mir in der Presse entgangen war, nämlich dass dieser Einrichtung für die kommenden zwei Jahre die Mittel um fast zwanzig Prozent gekürzt worden sind. Betrug das Budget zuletzt 38 Millionen Euro, so werden es im nächsten Jahr 36,5 Millionen und 2012 lediglich noch 31,5 Millionen sein. Zwei weitere Kürzungen von jeweils 4,8 Millionen sind vorgesehen, d.h. im Jahr 2015 beträgt der Etat gar nur 22 Millionen Euro.

Ich habe keine Ahnung, ob man bei der Berliner Staatsbibliothek oder Bundeszentrale für politische Bildung in der Vergangenheit allzu sorglos mit öffentlichem Geld umgegangen ist oder nicht. Wenn jedoch wissenschaftliche Periodika nicht länger automatisch, sondern nur nach Einzelfallprüfung eines jeden Titels bezogen werden können, dann liegt auf der Hand, dass weder die Herausgeber und Verlage noch die Bibliotheksnutzer vernünftig planen und arbeiten können. Und wenn politische Bildungsarbeit absehbar fast nur noch die Hälfte dessen wert ist, was bisher für sie aufgewendet wurde, dann braucht sich über Rechts- oder Linksradikalismus, aber auch über christlichen und moslemischen Fundamentalismus nun wirklich kein Mensch wundern oder echauffieren.

Meine Kinder sind der Schule entwachsen und gehen nach einigen Orientierungsschwierigkeiten jetzt ihren eigenen Weg. Meine Tochter absolviert eine Lehre, mein Sohn studiert. Ihr Abitur machten beide am John-Lennon-Gymnasium in Berlin-Mitte, welches ganz gewiss nicht durch eine nennenswerte ethnisch-kulturelle Vielfalt und entsprechende Probleme auffällig geworden ist. Dank der geölten PR-Arbeit des Direktors genießt es sogar einen unverdient positiven Ruf. Neulich unterhielt ich mich mit meinen Kindern darüber, welche Bücher sie eigentlich im Deutschunterricht komplett gelesen hatten. Die Antwort war erschütternd: Außer Nathan der Weise, den sie im Laufe der Jahre mehrfach bis zum Anöden durchgekaut hatten, ging die Lektüre und Behandlung ganzer Werke gegen null. Ach ja, einen zweiten Lessing gab es noch: Emilia Galotti. Dafür rein gar nichts von Shakespeare, nichts von Aischylos, Goethe, Schiller, Heine, nichts von Thomas Mann, Stefan Zweig, Günter Grass, Uwe Johnson, Christa Wolf. Kein Kerouac, kein Hemingway, kein Mark Twain, kein Dostojewski, kein Ibsen, kein Buch nirgends. Im Musikunterricht - und das in einem Gymnasium, das sich nach einem Musiker benannt hat - dasselbe Trauerspiel. Bach, Beethoven, Brahms, Brubeck, Belafonte - nie oder fast nie gehört, jedenfalls nicht akustisch. Aber vielleicht wurde ihnen ja wenigstens im kulturellen Leitmedium, dem Film, ein wenig Kompetenz zu lehren versucht? Ich fragte nach Apocalypse Now, Fellini, dem deutschen Stummfilm, Faßbinder - durchweg Fehlanzeige! Kein Film nirgends. Der Geschichtsunterricht, ein besonders arges Desaster. Ohne jede Abstimmung mit anderen Fächern wurde planlos in einigen Epochen herumgestochert, doch das meiste blieb völlig unbehandelt, und schon gar nicht wurde ein Gerüst historischer Zusammenhänge und Abfolgen vermittelt. Es ist wirklich alles so dramatisch, wie ich es hier so pauschal beschreibe. Meine Tochter berichtet, dass sie erst jetzt, im ersten Lehrjahr an einer Düsseldorfer Berufsschule, von einer Bildungseinrichtung angehalten worden ist, sich mit Nationalsozialismus und Holocaust eingehender zu befassen! Am John-Lennon-Gymnasium sei das nie so recht ein Thema gewesen, war wohl irgendwie durchgerutscht bei den Hunderten von Ausfall- und Vertretungsstunden.

Das zurückliegende Jahr war bekanntlich bis zum Abwinken von der Debatte um Thilo Sarrazins Buch geprägt. Ich möchte diese keineswegs verlängern, denn sie hat mich nie sonderlich interessiert; anders als 1,2 Millionen Käufer fand ich zu keinem Zeitpunkt, dass das, was Sarrazin umtreibt und so selbstgerecht wie sorgenvoll in Deutschlands Zukunft blicken lässt, etwas mit mir und meinesgleichen zu tun hat. Das kulturelle und bildungsmäßige Problem unserer Kultur sind nach meinem Dafürhalten nämlich weniger die irgendwie moslemischen, irgendwie türkischen oder arabischen pubertierenden Rotzbengel im Wedding oder in Düsseldorf-Oberbilk. Ein bildungsfernes Subproletariat, sei es deutsch in zehnter, fünfter oder erst zweiter Generation, hat es immer gegeben und wird es immer geben. Das viel gravierendere Problem scheint mir dagegen eine gewachsene Bildungsträgheit in der "Mitte" der Gesellschaft zu sein. Das Profil und die Existenz nicht nur des kleinen Lukas Verlages, sondern letzten Endes aller intellektuell anspruchsvollen Unternehmungen hängen aber davon ab, ob es bei "normalen" Studenten, Lehrern, Ingenieuren, Ärzten weiterhin zum guten Ton gehört und ein tiefes Bedürfnis ist, sich über das Niveau beispielsweise der Sendungen eines Guido Knopp hinaus mit Geschichte, Kunst oder Sprache zu befassen. Doch wenn nicht einmal mehr die Berliner Staatsbibliothek in der Lage ist, selbstverständlich unsere Bücher zu erwerben, und wenn an einem der angeblich besseren Gymnasien Berlins weder der Dreißigjährige Krieg noch der 20. Juli 1944 noch Fellinis oder Faßbinders Filme eingehend behandelt werden, dann sehe ich für die geistig-kulturelle Verfasstheit Deutschlands allerdings ebenfalls schwarz. Deutschland wird dann tatsächlich immer dümmer, aber nicht durch Zuwanderung, sondern aus sich selbst heraus.

Mein beglückendstes Konzerterlebnis im letzten Jahr war dasjenige von Joanna Newsom im Admiralspalast. Keine bringt den erfrischenden jungen Trend zu kammermusikalischen, hochartifiziellen Folkpop derart auf den Punkt wie sie. Ihre Virtuosität und Kreativität sind so beeindruckend wie ihre Harfe groß und ihre Haare lang sind. An einen aktuellen Film, der mich nachhaltig in seinen Bann gezogen hätte, kann ich mich dagegen nicht erinnern. Auch das gestern gesehene neue Werk von Tom Tykwer "Drei" ändert trotz der phänomenalen Sophie Rois daran nichts; es hat wenig zu sagen und verläppert sich. Wichtiger waren Lesefrüchte. Gleich in drei Büchern ging es auf je unterschiedliche Weise um Kindheit und Jugend im Osten. Peter Wawerzinek gönne ich den großen Erfolg mit seinem sprachmächtigen, intensiven Buch "Rabenliebe" von Herzen. Jan Faktors skurril-poetischer, disparater Erzählungsreigen "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" ist vergnüglich von der ersten bis zur sechshundertsechsunddreißigsten Seite. Und wenn auch vielleicht nicht zur ganz großen Literatur zählend, liefert Michael Meineckes autobiographischer, Jack Kerouac verpflichteter Roman "Ostkreuz" eine lebendige Schilderung der Ost-Berliner Dissidenz zwischen Suff und Kunst und Protest vor allem in den siebziger Jahren.

Mit Blick auf den Verlag war das alte Jahr durchwachsen. Es begann damit, dass ich im Januar burn-out-mäßig so richtig zusammenkrachte. Schlafstörungen, Gereiztheit, dysphorische Stimmungen, zunehmend verminderte Leistungsfähigkeit bei immer ausufernderer Präsenz im Büro, all die einschlägigen Symptome zeigten mir auf, dass die Kraft nicht unerschöpflich ist. Es fiel mir nicht leicht, Anspruch, Ehrgeiz, Verantwortung und Einsatz etwas herunterzudimmen, und musste mich regelrecht dazu zwingen, über einige Monate hinweg wenigstens abends und nachts nicht zu arbeiten.

Den unsinnigen Prozess, den Katja Havemann gegen die von Nicole Glocke aufgeschriebenen Lebenserinnerungen des Eugen Mühlfeit angestrengt hatte, haben wir im Februar vor dem Berliner Landgericht klar gewonnen. Freuen konnte ich mich darüber trotzdem nicht, zumal nur wenige Wochen nach der Verhandlung unser zutiefst sympathischer und sehr engagierter Rechtsanwalt völlig überraschend verstarb. - Neuerdings geht der Hickhack um das Buch, das sich zu allem Überfluss miserabel verkauft, weiter, denn nun hat uns die Witwe von Günter Gaus, seinerzeit Chef der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, verklagt. Gaus kommt in dem Buch in einigen wenigen abwägend formulierten Sätzen vor. Mitte Januar findet die Verhandlung in Hamburg statt.

Ich werde sie mir nicht antun, habe ich doch etwas bei weitem Schöneres zu tun: Am selben Tag stellen Conny Klauß und ich in der Dresdner Galerie Raskolnikow unser gemeinsames Buch "Unerkannt durch Freundesland" vor! Unsere so intensive wie exzessive Zusammenarbeit der letzten Wochen und Monaten hat sich wirklich gelohnt. Ich bin stolz und glücklich über ein, wie ich finde, rundum gelungenes Buch, das die Geschichte der legendären illegalen Transitreisen durch die Sowjetunion in allen Facetten und unter den unterschiedlichsten Blickwinkeln lebendig darstellt. Weitersagen! Kaufen! Lesen!

Nach der Buchpremiere ist vor der Buchpremiere. Susanne Werner, Linda Vogt und ich sind schwer damit beschäftigt, alle irgendwie noch überfälligen Projekte endlich zu einem guten Ende zu bringen, darunter einen großen Band über Martin Gropius und eine Biographie des Künstlers Roger Loewig, um uns dann ganz befreit den vielen neuen Titeln widmen zu können, die zwar leider noch nicht angekündigt, wohl aber in Planung sind. Einer wird die Guts- und Herrenhäuser im brandenburgischen Landkreis Teltow-Fläming behandeln, ein anderer Gestaltung und Schmuck der Berliner Brücken. Vor allem aber werden wir im Frühjahr die Erinnerungen der ungarischen Auschwitz-Überlebenden Éva Fahidi "Die Seele der Dinge" veröffentlichen und damit das zeitgeschichtliche Profil des Verlages weiter schärfen.

Ein rauschendes Fest wie im letzten Sommer, das unter anderem meinen Fünfzigsten zum Anlass hatte, wird es in diesem Jahr nicht geben; schade eigentlich. Unser Hof in der schönen Prignitz wird, auch wenn wir dorthin meist nur an den Wochenenden fahren können, dennoch der heimliche Mittelpunkt meines Lebens sein. In Prenzlauer Berg geht es immer pomadiger und langweiliger zu, da suche ich lieber Asyl auf dem quicklebendigen, aufregenden, grundehrlichen platten Land. Aber das schrieb ich so ähnlich schon im letztjährigen Rundbrief; ich beginne mich zu wiederholen, bitte um Verzeihung, komme zu einem Ende und wünsche allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, frische Kraft, Gesundheit, Stetigkeit und Zufriedenheit im Jahr 2011.

Frank Böttcher