Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,

im letztjährigen Rundbrief hatte ich mich sehr über die Bildungssituation in Deutschland verbreitet. Diesmal will ich mich nicht mit so großen Themen aus dem Fenster lehnen, sondern nur ein wenig über den Verlag und die eigenen Dinge plaudern.

Das zurückliegende Jahr war wie all die vorherigen von viel Arbeit bestimmt gewesen, aber auch von Genugtuung und, nun ja, Erfolg. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten habe ich es geschafft, auf dem Firmenkonto einen bescheidenen Puffer aufzubauen, mit dem ich hoffe, Unwägbarkeiten wie zum Beispiel ärgerliche juristische Streitereien oder Forderungen des Finanzamts künftig etwas gelassener als bisher begegnen zu können. Auch wenn keine großen Sprünge angesagt sind, beruhigt dies doch die Nerven. Irgendwie liefen 2011 die Dinge recht gut zusammen. Und das lag vor allem daran, dass wir gleich mehrere Bücher herausbringen konnten, die auf gute Resonanz stießen und sich passabel verkauften. Mir scheint, der Lukas Verlag hat sich in den sechzehn Jahren seiner Existenz auf all den verschiedenen Feldern, die er beackert, also von Antike und Mittelalter bis Nationalsozialismus und DDR, von Brandenburg bis England oder Ungarn, von Denkmalpflege bis Philosophie, einen so guten Ruf erarbeitet, dass unser Programm immer aufmerksamer wahrgenommen wird. Einige der jüngeren Titel, die dazu besonders beigetragen haben, waren Éva Fahidis Erinnerungen »Die Seele der Dinge«, die fast tausendseitige Edition der Briefe der Widerstandskämpfer Alexander Schmorell und Christoph Probst, die Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen aus Brandenburg »Die Russen sind da«, eine Biographie des Künstlers Roger Loewig, das aktuelle Pegasus-Heft, der opulent bebilderte Aufsatzband zur Kunst in der Altmark von 1300 bis 1600, der Ausstellungsbegleitband »Im Dialog mit Raubrittern und Schönen Madonnen« oder Celina Kress’ Monographie über den Berliner Bauunternehmer Adolf Sommerfeld.

Der für mich persönlich schönste Erfolg war aber natürlich – alle übrigen Autoren mögen mir verzeihen –, dass das von Cornelia Klauß und mir selbst herausgegebene Buch »Unerkannt durch Freundesland« über die illegalen Reisen von DDR-Bürgern durch die Sowjetunion nicht nur begeisterte Aufnahme in der Presse erfuhr, sondern sich derart gut verkauft hat, dass wir vor wenigen Tagen, also nach nur knapp einem Jahr seit Erscheinen, eine nunmehr um gut fünfzig Seiten erweiterte dritte Auflage bei der Wittenberger Elbe-Druckerei beauftragen konnten. Unsere Lesungen in Berlin, Potsdam, Dresden, Neubrandenburg, Jena oder Greifswald waren oft überfüllt gewesen, es kam dabei zu vielen inspirierenden Begegnungen. Und im kommenden April werden wir endlich auch im Westen – in Hamburg – auftreten. Es ist uns mit dem Buch (und im Verbund mit der gleichnamigen Wanderausstellung) gelungen, einen bis dato kaum behandelten, gleichwohl signifikanten Aspekt von DDR-Wirklichkeit, dessen Relevanz weit über die ehemalige Transitnik-Szene und vielleicht sogar über die DDR hinausweist, farbenfroh und umfassend zu beleuchten.

Mit solchem Schwung im Rücken will ich es wagen, ein anderes Lieblingsbuch, das seit Jahren leider vergriffen ist, demnächst zu reaktivieren: die von Barbara Felsmann und Annett Gröschner herausgegebene Sammlung »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« von gut zwei Dutzend Selbstzeugnissen, in der in den 1970er und 1980er Jahren aktive Künstler und Bürgerrechtler zu Wort kommen. Die zu Texten kondensierten Interviews wurden bereits zwischen 1997 und 1999 geführt und sind deshalb gleich in doppelter Hinsicht ein bedeutendes Oral-History-Dokument der ostdeutschen und Berliner Geschichte. Außerdem verdeutlichen sie den Ausgangspunkt, wenn heute die soziokulturellen Veränderungen diskutiert werden, für die der Begriff Gentrifizierung steht: Aus dem verrotteten, rauen, urbanen Arbeiterkiez und Bohèmeviertel von einst, in dem ich seit langem arbeite und überwiegend wohne, ist bekanntlich binnen zweier Jahrzehnte eine schnieke, banale, provinzielle Residenz von Gut- und Besserverdienenden geworden.

2011 war, wie gesagt, ein arbeitsreiches Jahr nicht nur für mich selbst, sondern auch für meine wie stets sorgfältige und zuverlässige Kollegin Susanne Werner, auf deren grazilen Schultern die allermeisten Buchprojekte lagen, sowie für Linda Vogt, die für die Presse-und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich war und nebenbei ebenfalls das eine oder andere Buch realisierte. Dass Linda ab Januar nicht mehr für den Lukas Verlag, sondern bei einem anderen Berliner Verlag tätig sein wird, mag für sie eine berufliche Chance bieten, stellt mich jedoch – zumal ihr Ausscheiden sehr überraschend erfolgte – vor beträchtliche Probleme. Ich hoffe sehr, dass die bereits avisierte Einstellung einer neuen Mitarbeiterin uns schon bald in die Lage versetzen wird, das kleine Lukas-Schiff mit der gewohnten Kraft weiter auf Kurs zu halten. Das ist schon deshalb wichtig, weil wir nicht nur viele neue Projekte verwirklichen müssen, sondern auch zwei, drei aufwendige Titel, die wir leider nicht wie geplant im letzten Jahr fertigzustellen geschafft haben, darunter eine große Monographie über den Architekten Martin Gropius sowie eine Überblicksdarstellung über die Gestaltung und Ausschmückung von Berliner Brücken.

Mag sein, dass das Ausscheiden eines engagierten Mitarbeiters für einen größeren Verlag mehr oder weniger einfach zu überspielen ist; für unsereinen ist personelle Kontinuität von ebenso existenzieller Bedeutung wie Gesundheit. Als im letzten Herbst fast urplötzlich im Raum stand, ich könne womöglich an Krebs erkrankt sein, sorgte ich mich spontan weniger um mich selbst als um den Fortgang des Unternehmens. Es war freilich ein Schock, der gottlob nur wenige Tage währte. Als ich den Negativbefund erfuhr, sagte ich zu meiner Frau, na schön, dann kann ich ja wieder beruhigt hinunter ins Büro gehen… Doch die Schnoddrigkeit täuscht. Natürlich tauchten Gedanken auf, die um Prioritäten im Leben kreisen, und es hat auch bisschen mit diesem Warnschuss zu tun, dass Gudrun und ich uns Ende März eine dreiwöchige Reise nach und durch Marokko gönnen werden.

Dass ich auf ein insgesamt sehr erfreuliches Jahr zurückblicken kann, liegt schließlich auch daran, dass meine inzwischen einundzwanzig bzw. dreiundzwanzig Jahre alten Kinder Elisabeth und Lukas jetzt souverän ihre beruflichen und persönlichen Wege ausschreiten. Es macht Freude, ihnen dabei zuzusehen.

Über die wichtigsten Aktivitäten des Verlages und die jeweils aktuellen neuen Bücher werden wir auch im kommenden Jahr gelegentlich per elektronischem Newsletter informieren. Deshalb beschränke ich mich zum Abschluss dieses Rundschreibens auf die schon traditionelle Anzeige der für mich wichtigsten jüngeren Lesefrüchte, Filme und Konzerte.

Auch 2011 haben mich wieder literarische Verarbeitungen von gebrochenen Lebensläufen interessiert, welche übers Persönliche hinaus deutsche Zustände markant beschreiben. So las ich mit viel Sympathie Anne Hahns 2005 erschienenen autobiographischen Roman »Dreizehn Sommer«, der feinfühlig drei Lebensläufe zwischen 1986 und 1999, zwischen Osten in Magdeburg und Zurechtfinden im Westen, zwischen Aufbegehren, Anpassung und Depression skizziert und von Punks in Magdeburg, Plattenwohnungen, gescheitertem Fluchtversuch, Knast, Verrat und Liebe berichtet. Ganz anders der Furor der brutalstmöglichen Abrechnung von Andreas Altmann mit den seine Kindheit und Jugend beherrschenden und zerstörenden Personen und Verhältnissen. Was er in den 1950er und 1960er Jahren im extremkatholisch-bigotten Altötting erlitt, war nicht nur von schlechten Eltern, sondern auch sonst ganz furchtbar. Der Titel des Buches »Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend« ist so rotzig wie zutreffend. Dass es auch solche (bundes)deutschen Lebensgeschichten gibt, wird oft vergessen. Und auch die eigentlich zu Unrecht als Roman apostrophierten Erinnerungen des Filmemachers Oskar Roehler »Herkunft« beschreiben ein persönliches Martyrium und werfen ein grelles, böses Licht auf die westdeutschen Zustände zwischen Wirtschaftswunder und Achtundsechzig und die darin agierenden Menschen, gleichgültig ob es frühere Nazis, reiche Spießer, berühmte Schriftsteller oder egomanische Revoluzzer waren.

Wenn ich hier trotz Almodóvar, Woody Allen und Lars von Trier den wenig beachteten, teils auch verrissenen Film von Leander Haußmann »Hotel Lux« als einen meiner letztjährigen Favoriten nennen will, dann deshalb, weil ihm etwas wirklich Schwieriges gelungen ist: eine über weite Strecken witzige, furiose Komödie vor der präzise gemalten Kulisse historischen Grauens. Dass der Film floppte, mag daran gelegen haben, dass sich für die kommunistisch-stalinistische Geschichte hierzulande kaum jemand interessiert. Schade.

Tolle Konzerterlebnisse hatte ich mehrere. Zwei davon ereigneten sich in Rudolstadt, und zwar die grandiose Jimi-Hendrix-Anverwandlung durch die Schweizerin Erika Stucky sowie die poetische, schrille, verstörende Performance des waldschratig-avantgardistischen Liedermachers und Krachkünstlers Hans Unstern. Außerdem sah und hörte ich im Mai im Astra-Kulturhaus den spröden LoFi-Country-Musiker Bill Callahan; nie zuvor wurde der Weltuntergang schöner besungen, nie zuvor verbargen sich Blüten hinter stachligeren Dornen. Und unlängst spielte in der Volksbühne der ach! leider von der Traumfrau der Rockmusik Kim Gordon neuerdings geschiedene Thurston Moore durchweg akustisch, was jedoch nicht im Geringsten eine Abkehr von den Sonic-Youth-Qualitäten bedeutete: auch hier dasselbe Mit- und Gegeneinander von präziser, kühler Zartheit und kontrolliertem, gefühlvollem Lärm. Ganz großartig!

Ich wünsche allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, für das Jahr 2012 viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit, aber auch intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!

Frank Böttcher