Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,

häufig werde ich gefragt, wie ich die Zukunft »des Buches« sähe. Doch obwohl ich seit über zwanzig Jahren beruflich aufs engste mit diesem Medium befasst und gewissermaßen von ihm abhängig bin, habe ich keine Ahnung, wie seine Zukunft sich gestalten wird – vermutlich aber problematisch, irgendwie zwischen Marginalisierung, Traditionalismus und Anpassung an die digitalen Parallelwelten fortexistierend.

Mit dieser gewissen Melancholie stehe ich natürlich nicht alleine da. Meine Skepsis speist sich aus allerlei konkreten Beobachtungen. Dazu gehört, dass der dem unsrigen direkt gegenüberliegende Stand auf der Frankfurter Buchmesse, wo Nonbook-Tand zu absurden Preisen verkauft wurde, stets umringt war, während die Gemeinschaftskoje des Lukas Verlags und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand nur die üblichen paar Interessierten betraten. Dazu gehört ferner, dass die Anzahl von Büchern, die wir bei wissenschaftlichen Titeln von einer Auflage halbwegs sicher verkaufen, seit Jahren abnimmt. Mittlerweile muss ich zufrieden sein, wenn nach zwei, drei Jahren hundertfünfzig Exemplare verbucht sind. Dabei ist es bisher keineswegs so, dass wir den Abwärtstrend durch eBooks kompensieren würden: Der durch sie erzielte Erlös beträgt rund ein Prozent vom Gesamtumsatz – das ist zwar nicht kein Geld, aber auch nicht wirklich ein Lichtblick. Apropos Umsatz: Hätte ich nicht in dem guten Jahr 2011 einen gewissen finanziellen Puffer anlegen können, würde ich diese Zeilen ziemlich unentspannt schreiben. Die monatlich auflaufenden Fixkosten bewegen sich im fünfstelligen Bereich. Susanne Werner, Jana Pippel und ich stehen unter Dauerstrom, den Laden am Laufen zu halten. Jahr für Jahr zwanzig bis dreißig Bücher in guter Qualität zu realisieren, darunter so aufwendige und komplizierte Produktionen wie die nun endlich! erscheinende Martin-Gropius-Monographie, ist eine immense, von Lust wie von Last geprägte Leistung. Dabei drückt, dass es für die Fortexistenz des Verlages unabdingbar geworden ist, immer auch Titel im Programm haben zu müssen, die sich in vierstelliger Größenordnung verkaufen lassen. Im zu Ende gehenden Jahr hatten wir davon zu wenig: eigentlich nur den materialreichen Band über Gestaltung und Schmuck der Berliner Brücken und erneut »Unerkannt durch Freundesland«. Dass im nächsten Jahr je ein Buch über die Geschichte des Berliner Bäderbaus und eines mit historischen Ansichten des Berliner Stadtschlosses hinzukommen, die gewiss beide keine Rohrkrepierer sein werden, sollte mich indes optimistisch stimmen.

Wie aber schafft man es, nicht nur grundsolide Bücher zu verlegen, sondern einige davon einem größeren Publikum als der wissenschaftlichen Fachwelt schmackhaft zu machen? Bücher, die keinem Zeitgeist hinterherlaufen, sondern vom Gegenstand wie von der Bearbeitung her im besten Sinne konservativ sind? Zum einen natürlich durch die Auswahl geeigneter Manuskripte und deren sorgfältige Bearbeitung: Das aber ist meist noch die leichteste unter den Übungen. Zum zweiten muss man die Redakteure unter den letzten paar einflussreichen Tages- oder Wochenzeitungen gewinnen, Besprechungen zu bringen. Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften oder Jahrbüchern mögen gut fürs Renommee sein, haben jedoch hinsichtlich des Verkaufs fast gar keinen Effekt. Doch selbst ein Beitrag auf der Sachbuchseite der F.A.Z. bedeutet heute keineswegs mehr zwingend den Durchmarsch. Der jüngste derartige Ritterschlag zeitigte kaum mehr als dreißig verkaufte Exemplare!

Und die Buchhandlungen? Offen gesagt sind sie für Programme wie des unsrigen nur ganz ausnahmsweise noch Aktivposten. Selbstverständlich gibt es nach wie vor einige rührige, engagierte, gebildete Buchhändler, die ich sehr wertschätze, doch grundsätzlich gerät für uns der Buchhandel zu einer zunehmend verzichtbaren Einrichtung, wichtig bloß für Kunden, die nicht internetaffin genug sind, um über Amazon oder besser noch auf unseren Seiten ihre Bestellungen loszuwerden. Für diesen Sinkflug in die Bedeutungslosigkeit ist die aktuelle technologisch-kommunikative Entwicklung zweifellos hauptverantwortlich, dann aber auch das brutalstmögliche Sichaufplustern von Branchenriesen wie Thalia und Hugendubel, die nun, nachdem sie den traditionellen Sortimentsbuchhandel plattgemacht haben, ihrerseits an ihrer Größe ersticken. Sogar der Erfolg von Dussmann, wo man alles richtig und besser gemacht hat als bei den meisten Kollegen, bestätigt letzten Endes nur meine pessimistische Einschätzung, denn Dussmanns Erfolg basiert eben darauf, dass die Branche insgesamt so heftig in der Krise ist. Wenn ich nicht bereits seit siebzehn Jahren einen Verlag hätte, könnte ich mir sogar heutzutage noch vorstellen, einen neuen auf die Beine zu stellen; den Mut von Frithjof Klepp hingegen, der vor einem halben Jahr die Ocelot-Buchhandlung öffnete, würde ich gewiss nicht mehr aufbringen!

Das zu Ende gehende Jahr war durchaus reich und hatte viele schöne Höhepunkte, darunter zahllose fünfzigste Geburtstage von Freunden, verlief aber nicht immer einfach. Am einschneidendsten waren der schwere Schlaganfall meines Vaters im Februar, seine anschließenden Aufenthalte im Krankenhaus, in der Rehaklinik und im Pflegeheim und schließlich sein Tod im Oktober. Manchmal war ich verwundert darüber, dass neben all der Sorge, des Kümmerns und der Trauer der eigene Alltag einer Kapsel gleich von alldem mehr oder weniger unbetroffen blieb, unter Anstrengung unbetroffen bleiben musste. Allerdings: Unsere Marokko-Reise, die Gudrun und ich im Frühjahr geplant hatten, musste storniert werden (zum ersten Mal im Leben hatten wir eine Reiserücktrittskostenversicherung abgeschlossen!), und als wir beim zweiten Urlaubsversuch just erst anderthalb Tage in London waren, kam der Anruf mit der Nachricht von Vaters Ableben.

So gesehen war die Durchdringung von Leben (und Sterben) und Arbeiten vielleicht noch nie so stark wie in 2012. Sie beeinflusst auch das an dieser Stelle obligatorische Votum der für mich wichtigsten Lesefrüchte, Musikerlebnisse und Filme. Und es passt irgendwie auch ins Bild des Jahres, dass ich gleich zwei für mich wichtige, offenbar grandiose Konzerte leider nicht erleben konnte: dasjenige von Mark Lanegan (wegen der Leipziger Buchmesse!) und dasjenige der Walkabouts (ausverkauft). Andererseits durfte ich großartige Shows von Bob Dylan, Thurston Moore, Jack White und Ryan Bingham sowie in Rudolstadt von John Hiatt genießen. Am hingerissensten jedoch war ich – ebenfalls in Rudolstadt – vom königin-gleichen Auftritt der großen malischen Sängerin Oumu Sangaré! Er war beglückend, zugleich aber auch deprimierend, wenn man bedenkt, dass ihre Heimat zur Zeit im politischen Chaos versinkt.

Von den vielen CD’s, die ich mir auch in diesem Jahr zugelegt habe, möchte ich hier nur zwei in den Ring werfen: zum einen (wen wundert’s) »Tempest« von Dylan und zum zweiten »Psychedelic Pill« von Neil Young. Beides sind noch einmal spektakuläre Würfe der einundsiebzig- bzw. siebenundsechzigjährigen Jahrhundertgestalten. Dylans neue Songs sind abgeklärt, souverän, stellenweise sogar witzig, formstreng und traditionsbewusst, scheinbar einfach und doch sehr vieldeutig. Ganz anders Young mit seinen Verrückten Pferden: Mit einer Inbrunst sondergleichen entfachen sie mit ihren Gitarren einen bis zu halbstündigen hochkonzentrierten Improvisations- und Rückkopplungsfuror von derselben Güte wie damals bei »Cortez The Killer« oder »Like A Hurricane«. Ich freue mich jetzt schon riesig auf das Konzert in der Waldbühne am 2. Juni!

Muße zum Lesen fand ich im letzten Jahr wenig. Eigentlich war es nur Marion Brasch’ sympathisch offenherzige Erzählung ihrer zwischen Opportunismus und Aufbegehren, Judentum und Kommunismus, Funktionärstochter und Rebellenschwester changierenden Kindheit und Jugend »Ab jetzt ist Ruhe«, die mich interessierte. Anders bei den Filmen. Nina Hoss’ »Barbara« war formal dicht, politisch bedrückend und psychologisch stimmig wie noch jeder Petzold-Streifen. »Oh Boy« mit Tom Schilling, ein charmantes, leichtfüßiges Erstlingswerk, schildert einen Tag aus dem Leben eines liebenswürdigen jungen Taugenichts von heute. Michael Hanekes wuchtiger und zugleich ungemein feiner Film »Liebe« ist in jeder Hinsicht das völlige Gegenteil davon. Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva zeigen in berührender Intensität die seelische Not von zwei sich liebenden alten Menschen, die dem Tod nah sind und ihm doch ein Leben in Würde abzuringen versuchen. Auch ohne die mich erschütternde Parallelität des Leidens meines Vaters bzw. meiner Mutter und der Filmfiguren Anne und Georges hätte ich »Liebe« zum Film des Jahres gewählt.

Sterben und Leben gab es auch in Rosenwinkel. Wegen der Wühlmäuse, des Splintholzkäfers oder wegen Trockenheit sind dort je ein Nuss-, Apfel- und Pflaumenbaum nicht übers Jahr gekommen. Statt ihrer pflanzten wir im November drei neue alte Apfelbaumsorten und eine Vereinsdechantsbirne, zwei Pflaumenbäume, eine Walnuss und eine weitere Kirsche. Wir lassen uns also von all den Verlusten und Fährnissen nicht unterkriegen und freuen uns auf reiche Ernte im Alter. Außerdem werden wir im Frühjahr die große Marokko-Reise nachholen und trotzigerweise sogar eine Woche länger unterwegs sein als ursprünglich geplant. In diesem Sinne wünsche ich allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, für das kommende Jahr wie immer viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit sowie intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!

Frank Böttcher