Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,
die Statistiker von Media Control haben die deutschen Buchhandelsumsätze des ersten Quartals 2017 mit denen des Vorjahreszeitraums verglichen und ausgerechnet, dass sie sich in der »Hauptwarengruppe Geisteswissenschaften, Kunst und Musik« (die zum »Gesamtmarkt« nur klägliche 5,7 Prozent beisteuert) um immerhin 7,1 Prozent verringert haben. Wirklich dramatisch sei die Lage im Untersegment »Geschichte«, in dem bekanntlich auch ein Großteil unseres Programms zu verorten ist: Hier soll der Niedergang binnen eines Jahres sagenhafte 34,7 Prozent betragen haben! Nun sind zwar Markterhebungen immer so eine Sache – manche Verwerfung darin mag auf den merkwürdigsten Unschärfen und Zufällen gründen –, aber die Tendenz der Zahlen scheint doch eindeutig zu sein. Jedenfalls deckt sie sich mit der eigenen Erfahrung. Denn es ist auch für uns immer schwieriger geworden, unsere Bücher in halbwegs vernünftigen Stückzahlen zu verkaufen.
Mit solcher Wahrnehmung stehe ich nicht allein.
Auch Kollegen, die ich mitunter spreche, klagen schwer darüber, dass bei ihnen die verkauften Auflagen immer geringer ausfallen. Für mich folgt daraus zum einen, dass bei der Kalkulation Druckkostenzuschüsse oder Festabnahmegarantien leider eine immer bedeutendere, eigentlich ungesunde und absurde Rolle spielen (müssen), da sich die Bücher anders niemals »rechnen« (können), und zum zweiten, dass unsere winzig kleine Crew im Jahr 2017 so viele davon realisiert hat wie nie zuvor, nur um den Laden einigermaßen am Laufen zu halten: Im Laufe des Jahres erblickten nicht weniger als einunddreißig! Titel das Licht der Welt, und sogar noch in der Woche vor Weihnachten habe ich die Daten von zwei weiteren in die Druckerei transferiert.
Mehr als dreißig Titel in einem Jahr, alle anderthalb Wochen eine Neuerscheinung. Die meisten davon wurden im Hause selbst betreut: Sie wurden diskutiert, lektoriert, redigiert, korrigiert, gestaltet, gesetzt, in die Druckereien geschickt, ins Handlager oder ins Auto geschleppt, bei Veranstaltungen oder auf der Leipziger Messe vorgestellt; sie wurden beworben und Rezensenten angetragen; in die Post gegeben, fakturiert und manchmal leider auch remittiert. Es mussten die Umschläge gestaltet, die Rückentexte gefeilt, die diversen Internetdatenbanken bespielt und aktuell gehalten werden. Korrespondenzen und Gespräche mit den Autoren, Herausgebern und Förderern mussten geführt, Missverständnisse ausgeräumt oder Abgabefristen verhandelt werden. Es waren Schwergewichte von bis zu achthundert Seiten darunter, bei anderen mussten mehrere hundert Abbildungen bearbeitet und auf den Seiten hin und hergeschoben werden; nicht zu vergessen die ausführlichen Anmerkungsapparate, Bildnachweise, Personen- oder Ortsregister. Fast immer gelang es Alexander, Jörg und mir, auf unsere Partner freundlich, gelassen und professionell zu wirken, und das auch dann, wenn einmal der Termindruck absurde Dimensionen annahm oder gelieferte Abbildungen eigentlich undruckbar schlecht oder von heikler Provenienz waren. Buchhaltung, Steuerkram, Betriebsprüfungen, fehlerbehaftete Softwareupdates, verschusselte Passwörter oder obskure Manuskriptangebote, das alles kommt natürlich noch gratis hinzu.
Außenstehende staunen und wundern sich gelegentlich, wie klein der Lukas Verlag in räumlicher, personeller und ökonomischer Hinsicht in Wirklichkeit ist. Manchmal staune ich, ehrlich gesagt, selbst darüber, und es gibt durchaus immer mal wieder Momente, wo mich nur jahrzehntelange Erfahrung und Routine davor bewahren, in Panik zu geraten. Auch wenn das VG-Wort-Desaster dank der großherzigen Hilfe meiner Frau inzwischen irgendwie abgehakt ist, sitzt es mir nach wie vor in den Knochen. Und natürlich war es schmerzhaft und bitter, als ich meinem Kollegen Jörg in der ersten Jahreshälfte raten musste, er möge sich perspektivisch doch besser woanders umtun; ich könne das dreiköpfige, männliche Dreamteam beim besten Willen leider nicht länger halten. Dass Jörg dann bei Vandenhoek & Ruprecht gut unterkam, beruhigt mich zwar, tröstet aber nicht darüber hinweg, dass sein Arbeitsplatz seither verwaist ist und er hier dringend fehlt.
Und dann gibt es da gelegentlich Querschläge ganz unerwarteter Art, die sind so sinnlos wie ein Kropf. Vor fünf oder sechs Jahren schon nervten mich ein Mensch und sein Anwalt im Zusammenhang mit dem Buch »Unerkannt durch Freundesland«. Er wollte nicht, dass er in einem darin wiedergegebenen Erlebnisbericht in irgendeiner Form auftaucht. (Wer es genau wissen will: Es geht um den Text von Jürgen van Raemdonck, wo dieser und sein im Buch zu einem schlicht als »Fritz« anonymisierter Kumpan gemeinsam über Sibirien nach Alaska in den Westen abzuhauen versuchen). Die Sache endete damals wie zu erwarten: Das Berliner Gericht wies das merkwürdige Klageansinnen von »Fritz« als nicht erfolgversprechend einfach ab. Ich blieb zwar auf den Kosten für meinen eigenen Rechtsanwalt sitzen, durfte aber das ganze damit als erledigt betrachten. Inzwischen liegt unser Buch in dritter Auflage vor und ist zu einem echten Klassiker geworden, was die differenzierende Darstellung von DDR-Alltagswirklichkeit betrifft. Als sich Herr »Fritz« im Frühsommer 2017 überraschend erneut meldete und nunmehr Klage vor der Pressekammer in Hamburg erhob, schüttelte ich über diesen Unfug eher amüsiert den Kopf. Doch das Lachen ist mir jetzt vergangen: Das Hamburger Gericht hat sich zwei Tage vor Heiligabend vollkommen unerwartet den Argumenten von »Fritz« gebeugt und den Verlag verurteilt, den Vertrieb des Buches einzustellen. Nun erwarte ich in den nächsten Tagen die Zustellung des Urteils und dessen Begründung, nur um dann natürlich sofort Widerspruch einzulegen gegen ein aus verlegerischer Sicht hanebüchenes Fehlurteil, das, sollte es Schule mache, das Veröffentlichen von jedweden zeitgenössischen Erlebnisschilderungen nahezu verunmöglichen würde. Ich halte Sie auf dem Laufenden!
Und trotz alledem, liebe Leser, das dürfen Sie mir unbedingt glauben, ist und bleibt die Verlegerei eine zutiefst erfüllende Tätigkeit! Der stete intellektuelle Input, die Vielfalt an Aufgaben, Herausforderungen und menschlichen Begegnungen befriedigen mich nach wie vor, und auch wenn absehbar der fünfhundertste Lukas-Titel aus der Binderei in den Verlag geliefert wird und ich ihn auspacke und prüfe, ob er ordentlich gedruckt ist oder ob ich einen dummen Fehler übersehen habe, werde ich noch immer fast so aufgeregt wir vor bald zweiundzwanzig Jahren sein, als Gustav Falkes Band »Begriffne Geschichte« erschien.
Noch schöner ist es, wenn sich berufliche Perspektiven mit den privaten bereichernd überschneiden. Ganz aktuell widerfährt mir das in dem mir zur zweiten Heimat gewordenen Dorf Rosenwinkel in der Prignitz. Dort ist die kleine frühneuzeitliche Fachwerkkirche derart massiv vom Hausschwamm befallen, dass ihr Schicksal ungewiss ist, sofern sich nicht die verschiedensten kirchlichen und weltlichen Menschen und Institutionen konstruktiv zusammentun und sie zu retten versuchen. Es wird sehr viel Engagement und sehr viel Geld vonnöten sein, um die Kirche zu erhalten und mit neuem Leben zu erfüllen. Und siehe da, auf einmal scheinen das jahrzehntelang nur verlegerische Kooperieren und die freundschaftliche Verbundenheit mit vielen brandenburgischen oder Berliner Denkmalpflegern, Restauratoren, Kirchenleuten, Bau- und Kunsthistorikern, Architekten und, last but not least, mit dem Förderkreis Alte Kirchen e.V. auch einen zutiefst praktischen Sinn gehabt zu haben. Jetzt empfinde ich es als inneren Auftrag und Herausforderung, all diese fachlich kompetenten Menschen mit dem in naher Zukunft zu gründenden Förderverein »Dorfkirche Rosenwinkel« zu vernetzen. Ob es gelingt und wie sich die Rettungs- und Sanierungsarbeiten entwickeln, auch darüber werde ich Sie in künftigen Jahresberichten auf dem Laufenden halten.
Im Falle der Rosenwinkler Kirche mischt sich Berufliches mit Persönlichem. Im Falle meines Schwiegervaters Karl Schlösser ist es gewissermaßen umgekehrt. Gesundheitlich schwer mitgenommen, hat der Maler, Schriftsteller, Zeitzeuge und Demminer Ehrenbürger allein im vergangenen Jahr zwei Manuskripte zum Abschluss gebracht, die ich umgehend im Lukas Verlag veröffentlichte: seine Kindheits- und somit Kriegserinnerungen in Demmin »Vertreibung aus dem Paradies« sowie den das Leben des historischen Karl Friedrich Graf von Hahn zu Remplin in Mecklenburg paraphrasierenden Roman »Der Theatergraf«. Ungeachtet dieser seiner bewunderungswürdigen Aktivität waren meine Frau und ich in beständiger Sorge um ihn und sagten deshalb eine mit Freunden geplante Trekkingtour durch die georgischen Bergregionen Tuschetien und Chewsuretien sowie anschließend eine Fahrt durch Armenien kurzfristig ab. So traurig wir über diese Entscheidung auch waren, so wenig hadern wir mit ihr.
Aus Sorge um die Eltern mögen wir zurzeit keine sehr weiten oder langen Reisen planen. Allerdings soll es uns im Mai 2018 erneut in den Osten führen: diesmal gemeinsam mit einer etwas größeren Gruppe aus Freunden und Bekannten nach Galizien und in die Bukowina, also in die Ukraine und nach Moldawien. Die Exkursion wird sich vor allem der verlorenen gegangenen, vernichteten früheren jüdischen Welt dort widmen und von daher auch etwas sehr Schweres an sich haben, und dennoch freue ich mich darauf, denn zweifellos erwarten uns viele tiefe, bereichernde, irritierende Beobachtungen und Begegnungen nicht nur mit schlimmster Geschichte, sondern auch mit spannender Gegenwart.
Ich komme wie üblich zu den wichtigsten meiner letztjährigen Kulturerlebnisse.
Unter den Büchern fesselte, erstaunte und beeindruckte mich mit Abstand am meisten »Das achte Leben (für Brilka)« von Nino Harataschwili, die auf knapp tausenddreihundert Seiten das von Diktaturen zerrissene zwanzigste Jahrhundert aus osteuropäisch-georgischer Sicht und in Form einer sechs Generationen umspannenden Familiensaga beschreibt, in der die Frauen durchweg die dominierenden, die interessanteren Rollen einnehmen. Man mag streiten, ob bestimmte Anleihen an den magischen Realismus wie das Motiv der heißen Schokolade nicht vielleicht etwas aufgesetzt sind, und es finden sich auch einige wenige Formulierungen und Sätze (vielleicht zehn an der Zahl), da hätte man sich ein kritischeres Lektorat gewünscht, aber das alles ändert gar nichts daran, dass es der beim Schreiben gerade einmal dreißigjährigen Autorin gelungen ist, einen gültigen Jahrhundertroman zu schaffen. Seine Protagonisten aus den Familien Jaschi und Eristawi hangeln sich im permanenten Widerstreit von Anpassung, Verrat und Widerständigkeit durch eine hoffnungslos feindliche Welt. Das Buch beschreibt ihr Sehnen nach Glück und dessen stets neue Unmöglichkeit in Epochen staatlichen Terrors, von Kriegen und wahnsinnig gewordenen Ideologien. Ich weiß, ich lehne mich hier sehr aus dem Fenster, aber dennoch: Harataschwilis Roman hat in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts seinesgleichen allein in Uwe Johnsons »Jahrestagen«.
Unter den von mir gesehenen Filmen wüsste ich keinen von solchem Rang. Sehr originell und auch anrührend fand ich indes »Western« von Valeska Grisebach, der sich zwar bewusst genretypischer Klischees bedient, dabei aber erstens im tiefen Osten, nämlich in Bulgarien spielt und zweitens gerade nicht vom Gut-Böse-Konflikt lebt, sondern vom poetischen Dazwischen. Das eigentliche Wunder an diesem Film ist freilich nicht so sehr die Geschichte, sondern sind die Schauspieler, die durchweg keine sind, sondern echte Laien. Bauarbeiter spielen Bauarbeiter: Wer wie ich den Reichtum und rauen Charme der Sprache im ländlichen Brandenburg schätzt und liebt, kommt hier voll auf seine Kosten.
In musikalischer Hinsicht muss ich keine Sekunde lange überlegen, wer mich am stärksten gepackt hat: Asaf Avidan. Auch wenn vor ein paar Jahren sein »Reckoning Song« im Radio rauf- und runtergespielt worden sein soll, war er mir bis zum letzten Rudolstädter Festival völlig unbekannt geblieben. Entsprechend halbherzig stand ich weit entfernt von der Bühne. Doch was ich hörte (und sah), elektrisierte mich. Ja, Avidans Falsett klingt beim ersten Erleben befremdlich und schräg – aber schräg klingen auch die Stimmen von Janis Joplin, Nina Simone oder Robert Plant, und mit denen darf sein Organ ohne Weiteres verglichen werden. Gleichzeitig ist die Stimme in ihrer Kraft und Variabilität ganz eigenständig. Avidan kann heftigen Soul, intimen Folk, abgrundtiefen Chanson. Tom Waits, Leonard Cohen, das ist die Liga, von der wir hier reden. Er erzeugt Gänsehaut im tausendköpfigen Publikum und spendet Trost in den dunkelsten, verlorensten, einsamsten Momenten, indem er seine eigene seelische Zerbrechlichkeit pathetisch, aber glaubwürdig aufs Allerschönste zelebriert. Ich besorgte mir sogleich sämtliche irgendwo verfügbaren Platten, die frühen direkt aus Israel, woher er stammt, heute aber nicht mehr lebt. Und ich war vor ein paar Wochen zum zweiten Mal bei einem Konzert von ihm, diesmal im Huxley’s, und diesmal stand ich ganz vorn. Mein Kauftipp als Einstieg für die, die ihn selbst entdecken möchten: die vorletzte Platte »Gold Shadows« von 2015.
Für den Jahreswechsel und das ganze kommende Jahr wünsche ich allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, wie immer von Herzen viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit sowie intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!
Frank Böttcher