Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,

am beglückendsten finde ich das verlegerische Geschäft immer dann, wenn sich intellektuelles Interesse, persönliche Freundschaft und professionelles Engagement verbinden. Von einer solchen symbiotischen Verbindung idealtypisch geprägt war die Arbeit am Fotobuch »In schwindendem Licht« von Christian Herrmann. Sie begann schon im Frühsommer 2017, als an das Buch noch gar nicht zu denken war. Freunde fragten damals meine Frau und mich, ob wir Interesse hätten, mit ihnen und weiteren Bekannten eine Art selbstorganisierter Bildungsreise in die westliche Ukraine und nach Moldawien zu unternehmen, um dort den Spuren der jüdischen Lebenswelt bzw. den Spuren ihrer Auslöschung nachzugehen und nebenher natürlich auch die Gegenwart der nun postsozialistischen ehemaligen Sowjetrepubliken zu erleben. Ich war in Lviv und Chişinău zum ersten und letzten Mal 1983 als illegal durch die Sowjetunion trampender Transitreisender gewesen. Die jüdische Geschichte dieser Gegenden indes war dem knapp dreiundzwanzigjährigen jungen Mann, der ich damals war, noch kaum präsent. Mit der nun geplanten Reise würde sich also ein Kreis für mich schließen; sie sollte sowohl ein Wiederaufgreifen als auch eine Erweiterung einer sehr wichtigen Episode meiner Biographie sein. – Als sachkundigen Führer unserer zweiwöchigen Tour hatten die Freunde einen Designer, Blogger und Fotografen aus Köln überredet, den es seit zwei Jahrzehnten regelmäßig nach Osteuropa zieht und der zu einem profunden Kenner des nach der Shoa dort noch vorzufindenden jüdischen Erbes, aber auch ein engagierter Netzwerker bei dessen Dokumentation und Sicherung geworden ist. Persönlich lernte ich Christian Herrmann erst während eines Vorbereitungstreffens kennen, war aber bereits auf Facebook mit ihm »befreundet« und wusste von daher von seinen einfühlsamen, elegischen Aufnahmen aus Galizien, Bessarabien, Podolien, Transnistrien oder der Bukowina sowie von seinem Blog »Vanished World«. Ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, im Lukas Verlag einen Bildband zu veröffentlichen.

Mein Interesse freute ihn, doch leider war er mit einem solchen Projekt schon bei einem anderen Haus im Wort. Zwei Wochen später rief Christian an und wollte wissen, ob mein Angebot noch gelte; der bisherige Partner habe sich von dem Projekt zurückgezogen. Schnell wurden wir handelseinig. Die Sache eilte, denn ich arbeitete bereits an der neuen Jahresvorschau. – Im Mai des Jahres reiste unsere kleine Gruppe in drei Fahrzeugen von Lviv nach Chişinău und zurück und kam dabei durch so klangvolle, literarisch berühmte, dann aber von Tragik und Vergessen geschlagene Orte wie Drohobytsch, Brody, Iwano-Frankiwsk, Tschortkiw, Husiatyn, Czernowitz oder Bălți. Wir waren auf nicht weniger als siebenundzwanzig jüdischen Friedhöfen und vier Erschießungsstätten, standen vor zahllosen Ruinen sowie einigen heute wieder genutzten, sanierten Synagogen und chassidischen Höfen, Heike spielte in Dobrjanytschi, dem Geburtsort von Wilhelm Reich, den ihm gewidmeten Song »Cloudbusting« von Kate Bush vor; bei anderer Gelegenheit verlas sie auf einem killing field den kaum zu ertragenden Brief von Salomea Ochs, in dem diese, ihren eigenen Tod vor Augen, das Morden im Ghetto von Tarnopil beschreibt und die überlebenden Verwandten zur Rache aufruft; wir sahen das Geburtshaus von Simon Wiesenthal in Butschatsch, referierten die Lebensstationen Edgar Hilsenraths in Mohyliw-Podilskyj, wo er im Ghetto litt. Während stundenlanger Fahrten auf zumeist schlechten Straßen kamen wir Reisenden uns näher, öffneten uns, erzählten aus unseren Biographien und denen unserer Eltern und Großeltern, dabei unaufhörlich die Themen Verstrickung, Widerstand, Opportunismus, Mut, Wissen, Schweigen, Trauer, Traumata und Wut umkreisend.  Es war eine Reise, die wie kaum eine zuvor jeden von uns erschütterte, bereicherte, veränderte. – Christian Herrmanns großartiges Fotobuch erschien dann endlich im September. Seine Wahrnehmung in der Presse, auch der internationalen, war besser, als ich zu hoffen gewagt hatte. Dass ungeachtet dessen der Verkauf des Bandes eher schleppend verläuft, erkläre ich mir damit, dass sogar historisch interessierte Menschen es vermeiden, mit der unermesslichen Schuld ihrer früheren Landsleute, vielleicht sogar ihrer Angehörigen und letzten Endes ihrer eigenen Möglichkeiten sich zu befassen. Das Abspalten und Wegschieben dessen, was geschehen ist und wozu man selbst womöglich ebenfalls in der Lage ist, wenn die Lage es gebietet, funktioniert zu gut. Symptomatisch scheint mir, dass einige durchaus weltläufige unter meinen Bekannten, denen ich Christians Buch zeigte, angeblich zum ersten Mal davon gehört haben, dass es noch ein anderes und mit der deutschen Geschichte vielfach verbundeneres Galizien gibt als jenes Galicien in Spanien, wo sie neulich den Urlaub verbrachten. Sie waren erstaunt zu erfahren, dass Lemberg näher bei Berlin liegt als Paris. Osteuropäische Länder wie Polen, die Ukraine oder Rumänien zu bereisen ist für sie, die ohne zu zögern nach Thailand oder Namibia in den Urlaub jetten, ganz abwegig. Sie kennen jeden Geschlechterturm in der Toskana, doch endet für sie die urlaubskompatible Zivilisation kurz hinter Breslau, Prag oder Budapest. (Lediglich Georgien erfährt derzeit, befeuert wohl auch vom letzten Buchmesseauftritt, in Intellektuellenkreisen einen gewissen Hype: Es ist christlich und exotisch, es ist scheinbar vormodern sowie postsozialistisch-östlich und trotzdem diffus westlich, und die Weine sind mal was anderes als Chianti und Merlot.)

Für den Lukas Verlag war 2018 ein spannendes, ein gutes, wenngleich kein leichtes Jahr. Sein unverändert umfangreiches Programm mit allem Drum und Dran seit anderthalb Jahren nur noch zu zweit stemmen zu müssen, war nicht immer einfach: zumal der Chef sich auch mit so lebensnotwendigen Dingen wie Registrierung im »Verpackungsregister der Zentralen Stelle«, Eintragung in deren Datenbank LUCID sowie kostenpflichtigem Erwerb einer Verpackungslizenz infolge des neuen Verpackungsgesetzes befassen musste. Einige der angekündigten Titel werden erst 2019 und damit später fertig als geplant. Das lag nicht immer an Alexander und mir, sondern an unpünktlich liefernden Autoren oder Herausgebern, in zwei oder drei Fällen aber eben doch. Wir waren phasenweise echt überlastet. Zumindest in einem Fall ärgert und schmerzt mich die Verzögerung sehr, denn der Autor ist sterbenskrank und möchte und soll das Erscheinen seines Werkes natürlich noch unbedingt erleben.

Obwohl es die längste Zeit des Jahres kaum danach aussah, haben wir wieder einen Umsatz von gut 300.000 Euro erzielt. Diese Summe, die sowohl die Buchverkäufe als auch Druckkostenzuschüsse und dergleichen berücksichtigt, ist nicht spektakulär, aber hinreichend. Erfreulich war insbesondere der solide Verkauf einzelner Titel wie »Mitte! Modernisierung und Zerstörung des Berliner Stadtkerns von 1850 bis zur Gegenwart« von Benedikt Goebel, die Dokumentation »Die Häuser der Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen« von Aribert Giesche und Karl-Ludwig Lange sowie das oben erwähnte Fotobuch von Christian Herrmann. Und dass just am 24. Dezember Linda von Keyserlingk-Rehbeins Werk »Nur eine ›ganz kleine Clique‹?« eine ganzseitige Besprechung in der Süddeutschen Zeitung erfuhr, die mit dem Satz beginnt: »Zukünftig wird man in der Einschätzung des Attentats vom 20. Juli 1944 ohne Bezug auf diese Monografie nicht auskommen«, lässt mich optimistisch ins neue Jahr blicken.

Ich komme wie üblich zu den wichtigsten meiner letztjährigen Kulturerlebnisse.

Unter den nicht im eigenen Haus erschienenen Büchern fand ich Navid Kermanis »Entlang den Gräben« am anregendsten. Seine Reportagen aus Osteuropa begleiteten meine eigene Reise dorthin. Seit je bin ich der Meinung, dass die Geschichte der diversen Völkermorde, Deportationen, Vertreibungen, Kriege, Hungerkatastrophen und Terrorregimes zwischen, sagen wir, Polen und Armenien für die aktuelle Verfasstheit und Zukunft Europas sehr viel bedeutender ist als jene zwischen, sagen wir, Deutschland und Portugal. Nichts langweilt und ärgert mich mehr als das narzisstische, von nichts als Luxussorgen geprägte, diffus-dumme Unbehagen im westlichen, kleineren Teil des Kontinents, wie es sich in Brexit-Votum, Migrationsfurcht, Anti-Merkel- und EU-Geschimpfe, katalanischem Separatismus oder Gelbwestendemonstrationen äußert. Hierzulande wird kaputtgeredet und -gewählt, worum man »uns« andernorts mit Recht beneidet: um eine liberale, ethnisch befriedete und kulturell vielfältige, rechtssichere, unendlich reiche, sozial abgefederte Gesellschaft. Europa ist erschöpft und schafft sich ab – im Westen. Im Baltikum, in der Ukraine, in Georgien entsteht es gerade neu.

Mein Lieblingskino ist das kleine, rührige »Krokodil« in der Greifenhagener Straße, das sich ebenfalls auf die Fahnen geschrieben hat, den osteuropäischen Blick auf die Welt hiesigenorts zu ermöglichen. Ich sah dort (durchweg mit viel Gewinn): »Kolyma« von Stanislaw Mucha, »Panihida – Himmelreich« von Ana Felicia Scutelnicu, »Donbass« von Sergei Loznitsa und zuletzt »Leto« von Kirill Serebrennikow. Der in meinen Augen beste und wichtigste Film des Jahres ereignet sich indes nicht im Osten, sondern im heutigen Marseille. Christian Petzolds Verfilmung von Anna Seghers’ Roman »Transit« ist brillant, beklemmend und verstörend aktuell. Der von Franz Rogowski gespielte Georg verkörpert in seiner existentiellen Verlassen- und Verlorenheit die universelle moderne Flüchtlingserfahrung. Der immer schon von mir bewunderte Petzold hat sich mit diesem Werk selbst übertroffen. So diskussionswürdig und bedeutend auch der zweite herausragende Film des Jahres, nämlich Andreas Dresens »Gundermann«, zweifellos ist – an »Transit« kommt er nicht heran. Dazu ist »Gundermann« am Ende zu retrospektiv, ist die DDR-Verstrickung seines Protagonisten zu provinziell. »Transit« hingegen schafft es, zur Parabel eines ganzen Jahrhunderts und eines Kontinents zu werden. Der Handlungsort Marseille verweist zugleich auf Calais, Ceuta, Grosny, Donezk. Heimat ist dort nur noch eine blasse, falsche Erinnerung. Und jede ethnische, nationale, politische, religiöse oder kulturelle Identität eine zwar leider wirkmächtige, aber absurde Fiktion. Sie nützt nur jenen, die sich unter ihrem Mantel zu den gerade Mächtigen erklärt und aufgeschwungen haben; für die von ihnen Ausgeschlossenen und Verfolgten ist sie ein Fluch.

Was meine musikalischen Erlebnisse und Entdeckungen des zu Ende gehenden Jahres angeht, vermag ich mich, anders als bei den Filmen, nicht so entschieden zu äußern. Wie alle früheren ist auch die neue, diesmal sehr opulent orchestrierte Israel-Nash-Platte »Lifted« großartig, desgleichen war es sein Konzert neulich im Festsaal Kreuzberg. Überzeugend wie stets waren ferner die Cowboy Junkies mit »All That Reckoning«. Und wie schon auf den beiden Vorgängeralben schafften es Christiane Hebold (»Bobo«) und Sebastian Herzfeld, Gedichte von Eichendorff, Goethe oder Lenau anrührend und eigenwillig zu vertonen und zu interpretieren, ohne dabei je in die Bildungsbürgerfalle zu tappen. Sogar den ollen Walter-Scheel-Hit »Hoch auf dem gelben Wagen« so zu singen, wie er vermutlich mal gemeint war, gelingt Bobo: als ein düsteres Memento mori. Der gelbe Wagen rast gen Ende, der finale Crash ist unabwendbar.

Gen Ende rast auch das Jahr 2018. Gleichwohl droht hier kein finaler Crash. 2019 steht einiges Schöne auf dem Plan. Ich freue mich sehr auf das bereits angekündigte, nun endlich in Angriff genommene Buch »Bruchstücke einer Utopie: Mosaiken im postsowjetischen Raum«; ich freue mich auf das Rudolstädter Folkfestival Anfang Juli (seit vielen Jahren ein gemeinsames Ritual mit meiner Frau) und auf ein Dylan-Konzert im April; ich freue mich auf den neunzigsten Geburtstag meiner Mutter; ich freue mich auf die neue Kartoffelernte in Rosenwinkel im August. Und ich freue mich, dass die Rettung und Instandsetzung der dortigen Kirche nach der Winterpause voranschreiten wird. (Um Spenden wird gebeten: Förderverein Dorfkirche Rosenwinkel e.V., IBAN DE39 1606 1938 0001 0411 93, BIC GENODEF1NPP)

Für den Jahreswechsel und das ganze kommende Jahr wünsche ich allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, wie immer von Herzen viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit sowie intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!

 

Frank Böttcher